: Irlands neoliberales Erbe
Tori Campbell ist 20 Jahre alt. Sie studiert, die Folgen der Finanzkrise haben sie politisiert. Die eingeleiteten „Reformen“ führten zu einer Umverteilung von unten nach oben. Die Kosten für Bildung und Wohnungen steigen. Jugendarbeitslosenquote: 24 Prozent
Aus Dublin Ralf Sotscheck
„Das ist ein Witz“, sagt Tori Campbell. „Irland gilt als Musterknabe Europas. Aber die Banken sind auf Kosten der Menschen gerettet worden. Es wird immer schwerer, über die Runden zu kommen.“ Campbell ist 20 Jahre alt, sie hat braune, schulterlange Haare und eine große Brille. Um den Hals trägt sie eine Silberkette mit ihrem Vornamen. Den verdankt sie der US-amerikanischen Musikerin Tori Amos, die in den neunziger Jahren populär war. „Meine Eltern fanden sie toll“, sagt sie.
Campbell hat in Drumcondra in Norddublin eine Mädchenschule besucht. Vor zwei Jahren machte sie ihr Abitur, seitdem studiert sie Sozialfürsorge. Um ihr Studium zu finanzieren, arbeitet sie nebenbei mit autistischen Kindern. Sie wohnt noch bei ihren Eltern. „Eine Wohnung könnte ich mir gar nicht leisten“, sagt sie. „Manche meiner Kommilitonen reisen jeden Tag aus Monaghan oder Dundalk an, sie sind jeden Tag zwei bis vier Stunden unterwegs, weil sie die Miete in Dublin nicht aufbringen können. Manche Vermieter nehmen 500 Euro in der Woche, und man muss sich die Wohnung mit zwei anderen teilen.“
Dabei ist es keine fünf Jahre her, dass auf der Grünen Insel die Immobilienblase platzte und das Land an den Rand des Bankrotts geriet. Irland brauchte Hilfskredite von der EU und dem Internationalen Währungsfonds in Höhe von 68 Milliarden Euro. Doch das Spiel geht wieder von vorne los. In den zwölf Monaten bis Ende Juni sind die Hauspreise in Dublin um 24 Prozent gestiegen. Keine andere europäische Metropole kann mit solchen Preissteigerungen aufwarten. „Man sieht in Dublin viel mehr Obdachlose auf den Straßen als noch vor einem Jahr“, sagt Campbell. Sie hat vor Kurzem ein Praktikum in einem Heim für Obdachlose in Dún Laoghaire südlich der Hauptstadt gemacht. „Das Hostel war immer voll, wir hatten jede Nacht 40 Leute“, sagt sie. „Einige waren drogensüchtig, aber die meisten sind Opfer der Krise. Sie konnten ihre Hypothek nicht mehr bedienen, und die Bank, die mit Steuergeldern gerettet worden waren, nahm ihnen das Haus weg.“
Die Zahl der obdachlosen Kinder hat sich binnen einem Jahr verdoppelt. Ende Juli waren 556 Familien mit insgesamt 1.185 Kindern obdachlos. Zum selben Zeitpunkt im Vorjahr waren es 273 Familien mit 595 Kindern. Viele sind in Hotels untergebracht. „Das hört sich gut an, aber für die Familien ist es schrecklich“, sagt Campbell, und man sieht ihr den Unmut an. „Sie können dort nicht kochen, sie müssen sich von Fast Food oder Dosenfutter ernähren, und die Kinder haben oft weite Wege zur Schule.“
Joan Collins ist 54 Jahre alt und wurde 2011 für die Antiausteritätsorganisation People Before Profit ins Parlament gewählt. Vorher arbeitete sie bei der Post. Sie sagt, nicht nur die Zahl der Obdachlosen sei gestiegen, sondern auch die der Langzeitarbeitslosen und der Suizide. „Die Regierung hat gerade verkündet, dass bis Ende Januar mindestens die Hälfte aller Sozialbauwohnungen in Dublin und Umgebung für Obdachlose reserviert werden soll, um die Krise in den Griff zu bekommen“. Allerdings stünden 40.000 Familien auf der Warteliste für eine Sozialbauwohnung. „Die werden jedoch nicht gebaut.“
Der Master kostet 7.500 Euro
Joan Collins, Abgeordnete
Eigentlich müssen Bauunternehmen 20 Prozent der neu gebauten Häuser für Sozialbauwohnungen zur Verfügung stellen. „Die Unternehmen kaufen sich entweder davon frei oder bauen die Wohnungen irgendwo auf dem Land“, sagt Collins.
Die Krise hat die 20-jährige Tori Campbell politisiert. Allerdings stammt sie aus einer engagierten Familie. „Bei meiner ersten Demonstration saß ich noch im Kinderwagen“, sagt sie. „Aber später habe ich mich wenig um Politik gekümmert.“ Als sie zu studieren anfing, betrugen die Gebühren 2.500 Euro, jetzt liegen sie bei 3.000 Euro – eine Steigerung um 20 Prozent in zwei Jahren. „Aber Bildung ist ja angeblich kostenlos“, sagt sie, „deshalb nennen sie es nicht Gebühren, sondern Beiträge. Die konnte ich nur bezahlen, weil mein Großvater mir etwas Geld vererbt hat.“ Im nächsten Jahr macht sie ihre Abschlussprüfung. „Wenn ich danach meinen Master machen will, muss ich 7.500 Euro zahlen“, sagt sie. „Dafür müsste ich einen Kredit aufnehmen. Zum Glück gibt es auf meinem Gebiet noch Jobs, sodass ich den Kredit wohl abzahlen könnte, bevor ich auf ein Haus sparen kann.“
Hausbesitz ist in Irland weiter verbreitet als in den meisten anderen EU-Ländern. Das hat zum Teil psychologische Gründe, die ihren Ursprung in der Geschichte von Enteignungen und Vertreibungen der Pächter durch englische Landbesitzer haben. Außerdem haben Mieter in Irland wenig Rechte, und eine Kontrolle der Mieten gibt es nicht. Da die Banken nicht mehr so leicht Kredite herausrücken, nutzen die Hausbesitzer die Situation aus. Die Mieten sind weitaus höher, als eine Hypothek es wäre, wenn man sie denn bekäme.
Dass die großen Unternehmen keine Steuern in Irland zahlen, macht Campbell wütend. „Stattdessen hat die Regierung die öffentlichen Ausgaben gekürzt, die Steuern für mittlere und untere Einkommensschichten erhöht und ständig neue Gebühren erfunden“, sagt sie. „Das trifft vor allem Alte und Kranke. So ist die freie medizinische Versorgung eingeschränkt, und die Rezeptgebühr um zwei Drittel erhöht worden.“
Das soziale Netz werde immer löchriger, sagt auch Collins: „Seit 2008 sind 31 Milliarden Euro aus dem Haushalt gekürzt worden. Darunter leiden vor allem die 255.000 Alleinerziehenden, und das sind vor allem Frauen.“ Irland hat die höchsten Kindergartenkosten in Europa, denn Plätze werden nur privat angeboten. „Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer breiter“, sagt Collins. „2010 besaßen die reichsten 300 Personen in Irland zusammen 55 Milliarden Euro. Heute sind es 84 Milliarden.“ Irland ist eine Steueroase. „Von den zehn größten Unternehmen sind sieben ausländisch“, sagt Collins. Und die zahlen kaum Steuern. „Google zum Beispiel, das seinen europäischen Hauptsitz in Irland hat, macht im Jahr rund 5,5 Milliarden Euro Profit“, sagt Collins, „versteuert in Irland aber nur 45 Millionen.“ Der Rest wird für „Tantiemen“ und „Lizenzgebühren“ an die Google-Niederlassung in Bermuda überwiesen. Das nennt man „Double Irish“, und es ist legal.
„Die Regierung behauptet, dass die Multis Arbeitsplätze schaffen“, sagt Campbell. „Die Arbeitslosenquote ist zwar offiziell gesunken, aber die Zahlen sind aufgehübscht. Bei Jobbridge zum Beispiel sollen sich Arbeitslose fortbilden und dann vermittelt werden, was nur selten klappt. Aber dadurch verschwinden sie aus der Statistik.“ Darüber hinaus werde das System missbraucht, meint Campbell: „Einige Privatschulen stellen Lehrer über Jobbridge ein. Während die Eltern 10.000 Euro im Jahr zahlen, erhalten die Lehrer Almosen.“ Das könne man fast Sklavenarbeit nennen, meint sie.
Die Multis, die durch die niedrigen Steuern angelockt werden, nützen dem Land wenig, sagt Campbell: „Wenn sie irgendwoanders billiger produzieren können, sind sie weg. Guinness zum Beispiel tut so, als sei es ein irisches Unternehmen. Dabei arbeiten dort kaum noch Iren.“ In den dreißiger Jahren waren mehr als 12.000 Männer in der Brauerei in Dublin beschäftigt, fast 10 Prozent der männlichen Bevölkerung. Heute sind es nicht mal mehr 500.
„Auch die Auswanderung hat dafür gesorgt, dass die Arbeitslosenzahlen nicht ganz so schlecht aussehen“, sagt Campbell. „Viele meiner Freunde sind ausgewandert oder haben das vor, wenn sie ihr Studium abgeschlossen haben. 50.000 Menschen verlassen das Land jedes Jahr, 10 Prozent der jungen Leute.“ Es ist die höchste Auswanderungsquote in Europa.
Wasser wird privatisiert
Emigration gehörte in Irland jahrhundertelang zum Alltag. Mit dem Wirtschaftsbooms ab Anfang der neunziger Jahre wurde Irland zum Einwanderungsland: Viele kamen aus Osteuropa, vor allem aus Polen, und Iren kehrten aus dem Exil zurück. Seit der Krise ist es wieder wie früher. Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 24 Prozent. Die Zahl der Twens, also der 20- bis 29-Jährigen, ist seit 2008 im europäischen Durchschnitt um 5 Prozent gesunken. In Griechenland um 21, in Irland um 28 Prozent.
Die Finanzkrise geht in das achte Jahr. Die ökonomische Lage in vielen Ländern Südeuropas ist weiter schlecht, die Arbeitslosenquote hoch.
Betroffen sind oft junge Menschen. Eine ganze Generation wächst mancherorts in Europa heran, gut ausgebildet, aber ohne die Perspektiven der Generation ihrer Eltern. Viele verlassen deshalb ihr Land.
In diesen Wochen blicken wir mit einer Reportageserie auf die junge Generation eines Kontinents, der zusammenwachsen soll, aber auseinanderdriftet.
Die Wassergebühren waren schließlich der Punkt, an dem Campbell beschloss, wieder auf Demonstrationen zu gehen. „Meine Familie boykottiert die Gebühren, wie es auch mehr als die Hälfte aller Haushalte tut“, sagt sie. „Arme und Reiche sollen den gleichen Betrag zahlen. Es ist der erste Schritt zur Privatisierung.“ In England sei das Wasser nach der Privatisierung in manchen Regionen nicht trinkbar gewesen, weil die Unternehmen nichts investiert haben, sagt sie: „Und in Irland versickern 40 Prozent des Wassers im Boden. Statt Hunderte Millionen in eine neue Behörde zu pumpen, hätten sie lieber die viktorianischen Rohre reparieren sollen.“
Irland habe die Krise keineswegs überstanden, sagt Joan Collins. „Das Abkommen mit der EZB von 2013 sieht vor, dass der Zeitraum für die Rückzahlung der Schulden für die bankrotte Anglo Irish Bank von 10 auf 40 Jahre ausgedehnt wird“, sagt sie. „Das zahlen noch die Enkelkinder ab.“ Collins hofft, bei den Parlamentswahlen im nächsten Frühjahr wiedergewählt zu werden.
Das hofft auch Campbell: „Ich wünsche mir, dass jede Menge parteilose linke Abgeordnete gewählt werden.“ Laut Umfragen könnte der Wunsch in Erfüllung gehen: Die rechte Regierungspartei Fine Gael und Sinn Féin, die früher mit der inzwischen aufgelösten IRA liiert war, liegen mit jeweils 18 Prozent gleichauf. Aber 31 Prozent der Befragten wollen Parteilosen ihre Stimme geben.
„Es ist jedoch schockierend“, sagt Tori Campbell, „wie viele Menschen in meinem Alter gar nicht wählen gehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen