Leiter eines Jobcenters angeklagt: Not ausgenutzt
In einem Heim wurden vierzig 1-Euro-Jobber wie reguläre Arbeitskräfte eingesetzt. Gegen den Leiter des Jobcenters ist Anklage erhoben worden. Laut Staatsanwaltschaft hätten die Jobs nicht bewilligt werden dürfen.
Die Auseinandersetzung um 1-Euro-Jobs für Arbeitslose gewinnt neue Dramatik. Wohl zum ersten Mal wurde gegen einen der Verantwortlichen eine strafrechtliche Anklage erhoben. Ulrich Lammers, der ehemalige Leiter des Recklinghausener Jobcenters, soll sich wegen Untreue und anderer Delikte vor Gericht verantworten, weil die von seiner Behörde bewilligten Jobs nicht "zusätzlich" gewesen sollen. Sein Anwalt Klaus Rüthers findet das absurd: "Wenn es hier zu einer Verurteilung kommt, müssten die Leiter aller Jobcenter angeklagt werden."
Konkret geht es um das Seniorenzentrum Grullbad in Recklinghausen. Das kommunale Altenheim beantragte Mitte 2005 auf einen Schlag vierzig 1-Euro-Jobber, die auch genehmigt wurden. Die "Zusatzjobs" sollten zugleich der Qualifizierung der Arbeitslosen dienen.
Nach Ansicht der Bochumer Staatsanwaltschaft hätten die Jobs nicht bewilligt werden dürfen. Die 1-Euro-Jobber seien als vollwertige Arbeitskräfte eingesetzt worden und hätten sogar Schichtdienst verrichtet. Ihre Tätigkeiten gehörten zu den Kernaufgaben eines Altenheims: Essensausgabe, Zimmer reinigen, Wäsche transportieren. Ein besonders qualifizierter 1-Euro-Jobber wurde sogar zum Systemadministrator der heimeigenen EDV. Die Qualifizierung der Arbeitslosen bestand im Wesentlichen in einem Erste-Hilfe-Kurs. Ansonsten galt das Prinzip "Learning by doing".
Besonders heikel an der Sache ist, dass Ulrich Lammers nicht nur das Jobcenter in Recklinghausen führte, sondern im Nebenberuf auch Geschäftsführer des Altenheims war. Und dieses Heim steckte in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und musste Kosten sparen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Mitarbeiter des Jobcenters wohl auch deshalb die 1-Euro-Jobs im Seniorenzentrum ihres Chefs nicht näher prüften.
Angeklagt wird der 50-jährige Lammers nun vor allem wegen Untreue. Er soll Staatsgelder für einen rechtswidrigen Zweck ausgegeben haben. Den Gesamtschaden bezifferte die Staatsanwaltschaft mit 450.000 Euro. Das ist die gesamte Summe, die das Heim bis zur Beendigung der Maßnahme Ende 2006 als Betreuungspauschale für 1-Euro-Jobber erhalten hat. Von diesem Geld mussten zwar noch die Fahrtkosten und die 1,10 Euro Mehraufwandsentschädigung bezahlt werden, die die formell Arbeitslosen neben ihrem ALG-2-Scheck bekommen. Doch pro Monat brachte die Maßnahme dem Heim wohl einen Mehrertrag von rund 7.300 Euro, vermutet die Staatsanwaltschaft.
Weitere Anklagepunkte sind Lohnwucher und Nötigung. Die Arbeitslosen hätten für ihre Tätigkeit zu geringe Löhne erhalten. Außerdem sei ihre Notlage ausgenutzt worden. Mitangeklagt sind zwei Mitarbeiter des Jobcenters und der Heimleiter.
Vor allem wehrt sich Anwalt Rüthers gegen den Vorwurf, die Arbeitslosen seien nicht richtig qualifiziert worden. Die 1-Euro-Jobber seien deshalb in den normalen Arbeitsablauf integriert worden, weil sie so Schlüsselqualifikationen wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit hätten lernen können.
Bundesweit arbeiteten sehr viele Projekte für 1-Euro-Jobber nach der Methode "Learning by doing", betont Rüthers. Außerdem sei es besser, die Arbeitslosen an realistische Berufsfelder in der Haustechnik oder Hauswirtschaft heranzuführen, als sie mit "zusätzlichen" Tätigkeiten fehlzuqualifizieren. "Den Berufsstand des Diplomspaziergängers, Laubfegers und Rollstuhlschiebers gibt es nun mal nicht", sagte Rüthers zur taz.
Der Prozess gegen Lammers soll beim Landgericht Bochum stattfinden, nicht beim Amtsgericht. Daraus ist zu schließen, dass die Staatsanwaltschaft von einer Straferwartung über vier Jahre Freiheitsstrafe ausgeht. Noch ist allerdings die Anklage nicht zugelassen und ein Prozesstermin nicht anberaumt.
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