: Der Abschied vom Konsens
VON STEFAN REINECKE
Der Koalitionsvertrag, auf den sich Union und SPD geeinigt haben, ist 191 Seiten stark und ein bezeichnendes Stück politische Prosa. Noch keine deutsche Regierung hat so detailliert versucht, zu beschreiben, was sie tun wird – und gleichzeitig so wirksam vernebelt, warum sie dies tun will. In der Präambel, in der ja Sinn und Zweck des Unterfangens skizziert werden sollten, ist zu erfahren, dass der großen Koalition vor allem die „energetische Gebäudesanierung“ und „die Erhöhung der degressiven Abschreibung für Investitionsgüter“ am Herzen liegen. Wer wissen will, welches Gesellschaftsbild dieser Regierung vorschwebt, findet wenig Erhellendes. Nur dass diese Koalition „Mut machen“ und „die Arbeitslosigkeit abbauen“ will. Nun ja.
Ein Koalitionsvertrag ist ein funktionaler Text und kein Ideenfeuerwerk für Schöngeister. Trotzdem springt die Weigerung der Merkel/Müntefering-Regierung ins Auge, wenigstens ein paar dürre Worte darüber zu verlieren, was der Geist des ganzen Unternehmens ist. Oder gibt es den gar nicht?
Angela Merkel und Matthias Platzeck haben am Freitag den Koalitionsvertrag unterzeichnet. Die Prozedur dauerte zwölf Minuten. Danach wurde Mineralwasser gereicht. Ein Auftritt ohne Pathos. So werden keine historischer Moment inszeniert, so wird Notwendiges abgewickelt. Dies war das Gegenbild zu 1998, als sich Schröder, Fischer und Lafontaine hochleben ließen. Gerade das Nüchterne, Geschäftsmäßige scheint das Machtzeichen dieser Regierung zu werden.
Manche feiern diesen neuen, pragmatischen Stil schon als überfällige Entziehungskur, in der „Deutschland lernt, ohne die Droge Ideologie zu leben“ (so Jens Jessen in der Zeit). Das ist doppelt falsch. Es nimmt die demonstrative Weigerung dieser Koalition, sich zu einer Idee zu bekennen, für bare Münze. Und es verzerrt sieben Jahre Rot-Grün zur Herrschaft einer Ideologie – nämlich der beim langen Marsch durch die Institutionen abgeschliffenen 68er-Ideen. Gestern rot-grüne (bzw. bei der FDP neoliberale) Ideologie, heute schwarz-roter Sachverstand. So war es nicht, und so wird es nicht.
Gewiss unterscheiden sich die Selbstinszenierungen von Rot-Grün und Schwarz-Rot gravierend – hier Gerhard Schröder und Joschka Fischer 1998 als Heroen des 68er-Generationsprojekts, dort Angela Merkel und Matthias Platzeck 2005 als sachliche Physiker der Macht. Allerdings ist dies nur die Oberfläche. Im politischen Kern ist die große Koalition keineswegs die Medizin, die uns von dem rot-grünen Ideologietrip herunterbringt. Im Gegenteil: Die große Koalition ist in vielem die Fortsetzung von Rot-Grün.
Um dies schärfer zu sehen, muss man sich die Resultate von Rot-Grün noch mal vergegenwärtigen. Schröder und Fischer haben außenpolitisch Realpolitik gemacht. Die „Ideologie“, etwa der Pazifismus, ging im Kosovo und in Afghanistan kurzerhand als Ballast über Bord. Danach, im Irakkonflikt, gelang es Schröder/Fischer Deutschland als zivile Mittelmacht zu etablieren. Schwarz-Rot wird diese Politik in den Grundzügen fortsetzen.
Innenpolitisch hat Rot-Grün, neben ein paar überfälligen liberalen Reformen vom Staatsangehörigkeitsrecht bis zur Homoehe, den Sozialstaat um- und abgebaut. Man erklärte „Oben geben, unten nehmen“ zum alternativlosen Programm – und buchstabierte so das Politische zum technokratisch Notwendigen um.
Genau der gleiche Geist herrscht in dem Koalitionsvertrag von Müntefering und Merkel. Es ist die bekannte Botschaft der Agenda 2010. Es muss gespart werden, der Sozialstaat ist zu teuer, anders geht es nicht. Eine Art verschärftes Tina („There is no alternative“). Dabei gäbe es Alternativen: von der entschiedenen Kappung des Ehegattensplittings über höhere Erbschaftsteuern bis zur Arbeitszeitverkürzung.
Kein Missverständnis: Im Programm der großen Koalition fehlt jene marktradikale Rhetorik, die Angela Merkel noch vor ein paar Wochen angeschlagen hat. Keine Ideologie – das ist die Ideologie dieser Koalition. Und das schließt auch die neoliberale Heilserwartung aus, dass mit weniger Staat alles, alles gut wird. So startet Schwarz-Rot mit einem fein austarierten Programm, einem wahren Wunderwerk an politischer Diplomatie. Hier ein bisschen weniger Kündigungsschutz, dort die „Reichensteuer“, (die eine zaghafte Selbstkorrektur der SPD ist, die den Spitzensteuersatz ja eigenhändig gesenkt hatte). Hier eine deftige Mehrwertsteuererhöhung, dort ein eher mageres Investitionsprogramm und die Möglichkeit für die Mittelschicht, Handwerker und Haushaltshilfen von der Steuer abzusetzen. Diese große Koalition stellt keine Weichen um. Sie dreht an den Stellschrauben des knirschenden Steuer- und Sozialsystems.
Als Spiritus Rector dieser Koalition kommt daher am ehesten der Theoretiker der offenen Gesellschaft, Karl Raimund Popper, in Betracht. Von ihm stammt die Idee des piecemeal social engeneering, des kleinteiligen Umbaus von sozialen Institutionen, das nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum funktioniert. Diese jederzeit korrigierbare Stückwerksozialtechnik ist das Gegenmodell zur thatcheristischen Revolution von oben.
Genau dieses kleinteilige Reformieren war aber auch schon der pragmatische Regierungsalltag von Rot-Grün – auch wenn die Generationsmythologie von Fischer & Co dies mit historischen Bedeutungszeichen zeitweise überblendet hat. Doch faktisch war Rot-Grün von Beginn an damit beschäftigt, an Stellschrauben des Systems zu drehen – die Scheinselbstständigkeit zu reduzieren, ohne die Schwarzarbeit allzu sehr zu fördern, oder Ich-AGs zu etablieren, ohne Mitnahmeeffekte zu provozieren. Die vielen vergeblichen rot-grünen Reformversuche verbuchte die Öffentlichkeit säuerlich als „handwerkliche Fehler“ – zusammengefasst in dem Satz: „Die können es nicht.“
Das war vielleicht ein Irrtum. Denn viele Fehler waren kaum vermeidbar, weil auch kleine Eingriffe in die komplexen Strukturen der hoch individualisierten Post-Arbeitsgesellschaft schwer vorhersagbare Nebeneffekte haben. Das meist von allen verachtete Durchwurschteln ist deshalb der Normalzustand in komplizierten, sozial zerklüfteten Gesellschaften. Die Reform, die bald schon selbst wieder reformiert wird, dürfte auch unter Schwarz-Rot so bleiben. Dass die großkoalitionären Sparkommissare als Erstes einen verfassungswidrigen Haushalt vorgelegt haben (doppelt so viel Schulden wie Investitionen!), darf man zudem als zarte Andeutung sehen, dass nebenher auch die handwerklichen Fehler Zukunft haben.
Die große Koalition präsentiert sich, wie Rot-Grün, als eine Art Maschine, die Spar- und Sachzwänge exekutiert. Doch sie verfolgt ein klares, wenn auch undeutlich ausgesprochenes politisches Ziel. Und das heißt: Haushaltssanierung, indem unten gekürzt wird. Nicht mit einem Ruck, aber in kleinen Schritten.
So mag die schwarz-rote Steuerpolitik parteipolitisch wohl ausbalanciert sein. Tatsächlich aber werden Arbeitslose und Rentner viel stärker als jene belastet, die Arbeit haben. Wer arbeitet, profitiert von der Senkung der Lohnnebenkosten. Die Arbeitslosen hingegen können sich auf die Nullrunden (also faktisch Kürzungen) und eine Mehrwertsteuererhöhung ohne Kompensation gefasst machen. Wenn diese große Koalition vier Jahre regiert hat, werden Langzeitarbeitslose und Rentner real mehr als 10 Prozent weniger haben als heute. Damit vertieft diese Regierung die soziale Kluft zwischen jenen, die Teil der Arbeitsgesellschaft, und denen, die herausgefallen sind.
Nein, kein Katastrophismus. Auch 2009 werden in Deutschland wohl keine Vorstädte brennen. Auch 2009 werden US-Bürger noch eher sehnsüchtig auf das deutsche Sozialsystem blicken. Auch 2009 werden noch schwer kranke Hartz-IV-Empfänger teure Therapien in Anspruch nehmen können. Und doch zielt diese Politik langfristig auf die Abwicklung des alten bundesrepublikanischen Konsensmodells, in dem stets möglichst viele mitgenommen werden und möglichst wenige durch den Rost fallen sollten.
Damit ist es vorbei. Die egalitäre bundesdeutsche Mittelschichtsgesellschaft ist dabei, sich langsam in eine schroff in Arm und Reich geteilte Klassengesellschaft zurückzuverwandeln, in der die Chance, per Bildung von unten nach oben aufzusteigen, sehr, sehr klein ist.
Dies geschieht ohne Putsch von oben, ohne jenes „Durchregieren“, von dem Angela Merkel träumte. Es scheint paradox zu sein: Die millimeterweise voranschreitende Auflösung des bundesdeutschen Konsensmodells findet selbst im Konsens statt. Umgesetzt wird nur, was die Gewerkschaften noch nicht auf die Straße treibt. Das Downsizing des bundesdeutschen Sozialstaates wird gewissermaßen in sozialverträglicher Art und Weise durchgeführt. Auf der Strecke bleibt dabei der Traum von einer sozial durchlässigen, chancengerechten Gesellschaft.
Große Koalitionen erzählen oft etwas über die Ängste der Mitte der Gesellschaft. Sie neigen dazu, als Trutzburgen gegen ein bedrohliches Außen empfunden zu werden. Das war 1966 so, als die meisten Bundesdeutschen in grotesker Verkennung der Lage fürchteten, dass eine Weltwirtschaftskrise wie 1929 wiederkehren und sich Wohlstand und Demokratie in Luft auflösen könnten. Die große Koalition war damals der Versuch, die Angst zu bannen, dass der Schrecken der NS- und Kriegszeit wiederkehren könnte.
Heute geht es nicht mehr um die Gespenster der Vergangenheit, sondern um die handfesten Abstiegsängste der Mittelschicht. Arbeitslosigkeit ist kein Unterschichtsphänomen mehr. Banken und Versicherungskonzerne, Allianz, Telekom und Deutsche Bank rationalisieren und entlassen (und fahren nebenher Schwindel erregende Gewinne ein). Der jähe Absturz in die Hartz-IV-Unterklasse ist ein Albtraum gerade für Angestellte, die sich lange auf der sicheren Seite glaubten. Die große Koalition 2005 ist auch eine Reaktion auf diese Ängste – allerdings eine verzerrte, weil sie jene, die Arbeit haben, auf Kosten der Arbeitslosen stützt.
Vielleicht sollte man sich – als Korrektur der Politik der großen Koalition – den liberalen Antiutopisten Karl Popper ins Gedächtnis rufen. Die Linke hat Popper lange zu Unrecht als kalten Sozialtechniker verdächtigt. Dabei gilt es, ihn als illusionslosen Reformisten wiederzuentdecken, der stets die Freiheit des Individuums groß schrieb. Dies bedeutete für Popper auch, dass der Staat die Freiheit des Schwachen vor dem ökonomisch Starken zu schützen hat. Dazu gehört auch, die Freiheit des Arbeitslosen zu verteidigen, am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben und nicht als nutzloser Kostgänger verachtet zu werden.
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