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Protest gegen SozialkürzungenZiviler Ungehorsam vorm Bundestag

Tausende wollen am Freitag den Bundestag belagern und gegen die Verabschiedung des Sparpakets demonstrieren. Angekündigt ist ziviler Ungehorsam. Sozialproteste waren bisher mau.

Müssen morgen den Reichstag vor tausenden Demonstranten beschützen: schwerbewaffnete Polizisten. Bild: dpa

BERLIN taz | Es soll die Krönung des heißen Herbstes werden. Wenn im Bundestag am Freitag nach viertägiger Debatte die Regierungsmehrheit den Haushalt für 2011 und damit auch das milliardenschwere Sparpaket beschließt, wollen vor dem Parlament tausende Demonstranten gegen die sozialen Kürzungen protestieren. Besonders die Hartz-IV-Reform mit der Streichung des Elterngelds weckt ihren Unmut. "Sparpaket stoppen! Bundestag belagern!", lautet der Aufruf des Bündnisses aus über 100 linken Organisationen und Parteien zur Kundgebung und Demo vor dem Brandenburger Tor.

Seit Monaten mobilisieren sie für den "Tag X". Vorbild sind Länder wie Frankreich, Griechenland und Portugal, wo in den vergangenen Wochen regelmäßig Hunderttausende gegen Sozialkürzungen auf die Straße gingen. Die Sozialproteste hierzulande hingegen hatten in diesem Jahr kaum Konjunktur. Die Organisatoren sind trotzdem optimistisch. Sie hoffen auf bis zu 10.000 Teilnehmer, realistischere Schätzungen gehen von etwa 3.000 aus.

"Das soll der Höhepunkt der Sozialproteste in werden", sagte Katja Kipping, stellvertretende Bundesvorsitzende der Linkspartei, der taz. Ihre Partei ruft als einzige aus dem Bundestag zur Teilnahme an den Protesten auf. "Die Jahre mit Hartz IV haben bei den Betroffenen Spuren hinterlassen, die teils zu Resignation führen", erklärt Kipping die schleppenden Sozialproteste. Mitschuld daran hätten aber auch die Gewerkschaften. "Sie haben den heißen Herbst, den sie selbst ausgerufen haben, verschlafen", sagt Kipping. Es sei bedauerlich, dass sie sich an den Protesten gegen soziale Kürzungen nicht deutlicher beteiligten.

"Es wundert mich, dass dort, wo eigentlich Konflikte losbrechen müssten, fast nichts passiert", sagt der Politologe Peter Grottian. Soziale Proteste hätten es schwer gehabt in diesem Herbst. "Die Castor-Proteste haben aber gezeigt, dass der Aufruf zum massenhaften zivilen Ungehorsam erfolgreich sein kann", sagt er.

Auch die Initiatoren des Protests am Freitag setzen auf zivilen Ungehorsam. "Wir haben es auf die Schienen geschafft. Jetzt schaffen wir es vor den Reichstag", heißt es in einem Mobilisierungsvideo. Um den Reichstag gibt es eine großräumige Bannmeile, in der nur ein eingeschränktes Versammlungsrecht gilt. Im Bündnisaufruf heißt es: "Wir werden in die Bannmeile strömen. Dass wir dadurch eventuell eine Ordungswidrigkeit begehen, nehmen wir in Kauf."

Der offene Aufruf zum zivilen Ungehorsam war Hauptargument für die Berliner Versammlungsbehörde, die geplante Demo entlang der Bannmeile kurzfristig zu verbieten. Lediglich die Kundgebung wurde erlaubt. Es werde von "militanten linksextremistischen Gruppierungen" dafür geworben, "den Bundestag zu belagern und hierzu die Bannmeile bewusst zu verletzen", heißt es in der Begründung. Die Polizei werde die Bannmeile schützen, Verstöße konsequent verhindern. Erschwerend kommt hinzu, dass Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin auf Berlinbesuch ist. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden schon am Donnerstag massiv erhöht.

Die Initiatoren legten am Mittwoch beim Berliner Verwaltungsgericht Widerspruch gegen das Verbot ein. Bis Donnerstag nachmittag war unklar, ob die Demo wie geplant stattfinden kann. "Unabhängig davon, wie es ausgeht, wird es Aktionen des zivilen Ungehorsams geben, und zwar nicht nur von ein paar Dutzend Leuten", kündigte Michael Prütz vom Bündnis "Wir zahlen nicht für eure Krise" an. Es ist allerdings Konsens im Bündnis, dass "keine offene Konfrontation mit der Polizei gesucht wird", heißt es.

***

Update Donnerstag, 18.30 Uhr:

Am frühen Donnerstagabend hat die Berliner Polizei das generelle Demoverbot auf Anraten des Verwaltungsgerichts Berlin aufgehoben. Demnach dürfen am Freitag nach der Kundgebung vor dem Brandenburger Tor die Teilnehmer auf der Straße des 17. Juni bis zum Großen Stern laufen. Die ursprünglich geplante Route entlang des bereits jetzt abgesperrten Bereichs vor dem Reichstag bis zum Kanzleramt wurde vom Gericht aus Sicherheitsgründen abgelehnt.

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12 Kommentare

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  • KH
    Klaus H

    Schon traurig, was die deutschen Gewerkschaften so bieten. Ich habe einem mir bekannten Funktionär folgendes geschrieben:

     

    "Lieber *****, die S21 Gegner bringen in Stuttgart 100 000 Leute auf die Straße.

     

    Am 13.Oktober ist eine "Großdemonstration" des DGB in Stuttgart unter dem Motto "Deutschland in Schieflage" geplant. Im Netz ist bis jetzt gerade mal das traurige Plakat des DGB, null und nix bei den anderen Gewerkschaften. - Traurig aber wahr. -

     

    So wird das wohl nix.

     

    Ihr müsst die Leute dort abholen, wo es Ihnen weh tut, und das ist bei den meisten Arbeitnehmern beim Geldbeutel.

     

    Und Ihr müsst überzeugend auch gegen die allgemeine Mainstream argumentieren.

     

    Ich habe einen Flyer entworfen, den auch der Betriebsrat im Kleinbetrieb aus dem Kopierer lassen kann..."

     

    Seine Antwort: kein Interessse

  • JK
    Juergen K

    "Präambel"

     

    Abgeordnete sind nur ihrem

    erinnerungsfreien Gewissen verpflichtet.

     

    Zum Wohle des Volkes,

    welches sich durch die kostenfreien Büros für die Gesetzgeber ausdrückt,

    wird eine Bannmeile festgesetzt.

  • K
    Kundrie

    Dass die Demonstrationen gegen die unsägliche Asozialpolitik so eklatant wenig Zulauf haben, hat meines Erachtens mehrere Gründe:

     

    1.) Die Betroffenen selber haben schlicht kein Geld, um sich eine Fahrt zur Demo plus etwaiger Verpflegung leisten zu können, schon gar nicht, wenn sie mit anderen Verkehrsmitteln als U- und S-Bahn fahren müssten. Und schon mal absolut gar nicht, wenn sie weitere Strecken fahren und eventuell sogar übernachten müssten. Da ist für ein Wochenende mal eben der gesamte Regelsatz weg, inklusive der laufenden Kosten für Strom und Telefon.

     

    2.)Die jetzt seit Jahren andauernde Hetze gegen ALGII-Empfänger hat bei den meisten für tiefsitzende unterschwellige Ängste und eine Art depressiven Fatalismus gesorgt. Wenn man keine Rechte mehr hat, fällt es sehr schwer, sich noch für welche einzusetzen. Zumal man auch noch Sanktionen befürchten muss, wenn man irgendwie "auffällig" wird.

     

    3.) Haben die Spitzen der Gewerkschaften hier wirklich auf ganzer Linie versagt respektive ihr wahres Gesicht gezeigt: statt in eine vehemente, lautstarke Opposition zu der verheerenden sozialfeindlichen Politik der Regierung zu gehen, sind sie abgetaucht und verzichten darauf, überhaupt eine Rolle zu spielen. Würden sie wenigstens wie 2004 bei der Demo gegen Sozialabbau (mit 50.000 Teilnehmern!) Logistik, Anreise und Öffentlichkeitsarbeit sponsorn, sähe das Gesamtbild derer, die sich auf die Straße begeben, schon anders aus.

     

    4.) muss immer wieder festgestellt werden, dass die wenigsten wohlmeinenden, sozial interessierten und noch verdienenden Mitmenschen tatsächlich über das ALG II und dessen weitreichende Implikationen überhaupt informiert sind. Hartz IV und der gesamte Sozialbereich sind zu Schattenthemen geworden und werden weitgehend aus dem Bewusstsein verdrängt. Unter den Teppich gekehrt. Und es ist eben auch nicht einfach zu fassen; man muss sich schon mehr mit der Materie beschäftigen, um zu begreifen, worum es da eigentlich geht. Auch das sorgt dafür, dass die Massen sich eher konkreteren und klareren Themen zuwenden und hier ihren Unmut ausdrücken.

     

    Es hätte gerade zu den geplanten erneuten Sozialkürzungen jetzt massive Aufklärungskampagnen und Aufrufe im öffentlichen Raum gebraucht, um die Menschen auch jenseits der persönlich Betroffenen wirklich zu mobilisieren, aber das hat einfach zuwenig stattgefunden und wurde durch S21 und den Castor überlagert. Aber ich denke, dass es durchaus auch Protestformen außerhalb der Präsenz auf der Straße geben muss und geben kann.

  • F
    Farbenseher

    Erstaunlich ist natürlich, dass nur einige Tausend und nicht Millionen gegen die Irrsinnspolitik von schwarz/gelb aufbegehren. Eine Politik, die sich in beispielloser Weise GEGEN die Bevölkerung richtet, um einer handvoll reicher Klienten ihre Pfründe zu sichern.

     

    Jo Ackermann raus aus dem Kanzleramt!

     

    Wehrt euche endlich, Leute!

  • T
    Torben

    Putin / Medwedew ... das kann man schon mal durcheinander bringen ^_^

  • E
    Eisvogel

    Wie praktisch dass man in den letzten Wochen schon mal Bewaffnung und Präsenzstärke der Polizei deutlich aufstocken konnte.

  • S
    Schulz

    Wenn natuerlich 3 Grossereignisse zur selben Zeit auf gleichem Territorium mit gegensaetzlichen Zielen, Inhalten... Motivationen (nicht toben) organisiert werden sollen,

    wird es eng.

     

    Putin war schon immer Menschenfreund.

    Noch niemals Probleme in Deutschland.

     

    Terror vorher wird jetzt beseitigt.

     

    Und die Demo?

    Natuerlich mein ... Sehnsuchtspotential.

    Suche HartzIV geeignete Wohnung im Bereich

    der Veranstaltungen/Demos/um moeglichst nah dran

    zu sein.

     

    Reiche Gewerkschafter werden jetzt wohl nicht

    demonstrieren wollen, wegen Gesichtsverlust.

    Siehe Sommer vergangenen Jahres, als ...

    der neue Linke in ein zu grosses Huettchen zog.

     

    Und der Papst (das arme Schwein?) nein,

    der wird auch nicht dazu kommen.

    Hat eine andere Bleibe.

     

    Falschen Gehorsam fordert niemand,

    das waere gegen die Verfassung,

    wenn doch, ist es die Pflicht eines jeden zu erscheinen?

    Aber wie?

     

    Habe die doppelte ... Stromrechnung?

    Kann auch nicht sein.

  • F
    Flütenfels

    Bildunterschrift:

    "Müssen morgen den Reichstag vor tausenden Demonstranten beschützen: SCHWERBEWAFFNETE Polizisten."

     

    Ein Blick in die Zukunft???

  • J
    Jens

    Alf, noch mehr Tipps von Putin? Mir haben die, die sie in Stuttgart befolgt haben, mehr als gereicht.

  • JR
    Jan Reyberg

    "Vorbild sind Länder wie Frankreich, Griechenland und Portugal"

    Ja, von den Erfolgreichen lernt man...

  • A
    Alf

    Na optimal, von Putin kann die Bundesregierung bestimmt auch noch ein paar Tipps bekommen, wie man mit Demonstrationen umgehen soll.

  • C
    Christian

    Hmmm, ich dachte Russlands Präsident sei Dmitri Anatoljewitsch Medwedew. o.0