Kretschmanns Regierungserklärung: Gründerzeitpathos in Stuttgart
Nachhaltiges Wirtschaften und eine andere Bildungspolitik: Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann will bürgernah regieren.
STUTTGART taz | Knapp zwei Wochen nach seiner Wahl zum ersten grünen Ministerpräsidenten hat Winfried Kretschmann eine neue Gründerzeit ausgerufen. Mit den Bereichen Nachhaltigkeit, Energie- und Rohstoffeffizienz sowie Umweltverträglichkeit ließe sich "eine neue und tragfähige industrielle Basis für die Wirtschaft in Baden-Württemberg" schaffen.
"Diese neue Regierungskoalition steht für eine neue Gründerzeit - als Weg, als Navigationsspur zu den Arbeitsplätzen der kommenden Jahrzehnte", sagte der baden-württembergische Landeschef am Mittwoch in seiner ersten Regierungserklärung.
Die Erwartungen an den ersten grünen Ministerpräsidenten eines Landes sind hoch, und so hat Kretschmann seiner Antrittsrede mit diesen Worten Pathos verliehen. Gleichzeitig betonte er, wie er den historischen Regierungswechsel verstanden wissen möchte: "Baden-Württemberg steht keine politische Revolution bevor, sondern eine ökologisch-soziale Erneuerung."
Inhaltlich begann Kretschmann mit dem gerade für Baden-Württemberg wichtigen Thema Automobil. Bereits vor seinem Amtsantritt hatte Kretschmann damit die erste große Debatte ausgelöst, weil er in einem Interview gesagt hatte, dass er sich für die Zukunft weniger Autos auf den Straßen wünschen würde.
Dieses Mal setzte er im Jahre 1880 an. Nur die Weitsichtigen hätten damals geglaubt, dass eine Droschke auch ohne Pferde fahren könne. "Die Droschke wird, 100 Jahre nach den Pferden, nun Schritt für Schritt auch auf das Benzin verzichten - und diese Veränderung wird wohl auf längere Sicht kaum weniger einschneidend sein."
Verzahnung von Ökonomie und Ökologie
Kretschmann versuchte mit seinen Beispielen zu zeigen, dass eine Verzahnung von Ökonomie und Ökologie möglich ist. Dass eine Erneuerung Fantasie braucht, seine Zukunftsvisionen aber auch keine Spinnereien sind. Er betonte vor allem die Wirtschaftsstärke, die technischen Innovationen und die mit ihnen verbundenen großen Unternehmensnamen in Baden-Württemberg: "Wo, wenn nicht hier in unserem wirtschaftsstarken Land, können wir zeigen, dass Ökologie und Ökonomie nicht nur keine Gegensätze sein dürfen, sondern auch keine sein müssen, sondern sich gegenseitig befruchten."
Das Leitmotiv Gründerzeit griff Kretschmann auch beim zweiten zentralen Thema auf: der Bildungspolitik. Die Koalition wolle "Innovationen in Form von Modellschulen zulassen, Gründergeist befördern und die Ideen in den Kommunen vor Ort, bei Lehrern, Lehrerinnen und Elternschaft nicht weiter behindern, sondern unterstützen und fördern."
Insgesamt sprach Kretschmann knapp 75 Minuten, über weite Strecken ohne besondere rhetorische Brillanz. Laute Zwischenrufe aus dem Oppositionslager gab es vor allem beim Thema Finanzen. An dieser Stelle kritisierte Kretschmann seine Vorgängerregierungen. "Nach 58 Jahren CDU-Regierung steht das Land vor einem gewaltigen Schuldenberg", sagte er und warf der CDU vor, Lasten bewusst verschoben zu haben, um mit einer vordergründigen Optik des Haushalts gut dazustehen. Er verteidigte das Vorhaben seiner Regierung, die Grunderwerbssteuer von 3,5 auf 5 Prozent anzuheben und mit diesem Geld die Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung zu fördern.
Extrem hohes Quorum absenken
Im Schlussteil seiner Rede griff der Ministerpräsident den die Ankündigung eines neuen Politikstils auf. Die Regierung werde mit den Bürgern in Dialog treten, zuhören und erst dann entscheiden. Damit hat Kretschmann abermals hohe Erwartungen geweckt. Der Regierungsstil und die stärkere Einbindung der Bevölkerung werden wohl die zentralen Punkte sein, an denen sich Grün-Rot die nächsten Jahre messen lassen muss.
Im Zusammenhang mit mehr Bürgerbeteiligung wandte sich Kretschmann auch direkt an die CDU-Abgeordneten. Für Volksabstimmungen will Grün-Rot das in Baden-Württemberg extrem hohe Quorum absenken, was auch für das Dauerstreitthema Stuttgart 21 wesentlich wäre. Das geht aber nur mit einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments, also mit CDU-Stimmen. "Mein eindringlicher Appell an Sie lautet: Überlegen Sie sich Ihre Haltung wirklich noch mal in aller Ruhe. Es geht nicht darum, uns den Gefallen zu tun. Tun Sie den Gefallen den Menschen in unserem Land."
Die meisten Christdemokraten verzogen bei diesen Sätzen keine Miene, ein Abgeordneter lachte, andere schüttelten den Kopf. Am Donnerstag haben sie die Chance, bei der Aussprache im Landtag zu antworten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will