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Erdogan besucht DeutschlandÖffentlich zelebrierte Harmonie

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan wirbt in Berlin für den EU-Beitritt seines Landes. Kritik an seinem Vorgehen gegen die Justiz weist er zurück.

Nicht bei allen willkommen: Protest gegen den Deutschlandbesuch von Erdogan. Bild: dpa

BERLIN taz | Niemand hat die Absicht, die Deutschtürken zu assimilieren. Nein, Deutschland sei stolz auf seine kulturelle Vielfalt, betonte Angela Merkel nach ihrem Treffen mit dem türkischen Premier – auch Bayern und Norddeutsche würden schließlich auf ihre Eigenheiten Wert legen. Die Differenzen mit Erdogan in dieser Frage seien ausgeräumt, sagte die Kanzlerin: „Ich glaube, darüber sind wir hinweg.“

So viel öffentlich zelebrierte Harmonie wie bei diesem Staatsbesuch war selten. Erdogan gab sich betont moderat – jedenfalls bevor sich der türkische Premier am Abend in einer Berliner Halle an seine hiesigen Fans und potenziellen Wähler wandte. Merkel verzichtete dafür bei der gemeinsamen Pressekonferenz auf deutliche Worte zur Lage in der Türkei. „Jedes Land muss seinen Modernisierungsweg aus eigener Kraft gehen“, sagte sie nur.

Beide betonten stattdessen gemeinsame Interessen beider Länder, etwa mit Blick auf Syrien. Erdogan rechnete vor, die Aufnahme von 700.000 Bürgerkriegsflüchtlingen koste sein Land umgerechnet 2,5 Milliarden Dollar. Merkel kündigte an, die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz (SPD) werde in Kürze in die Türkei reisen, um Flüchtlingslager zu besuchen.

Zuvor hatte Erdogan bei einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik mehr Unterstützung im EU-Beitrittsprozess eingefordert. Kritik an seinem Umgang mit Korruptionsvorwürfen und Straßenprotesten in seinem Land wies er zurück: Seiner Regierung seien „eine Vielzahl von Fallen“ gestellt worden, durch „organisierte Strukturen in Polizei und Justiz“, doch diese habe man „zerschlagen“, sagte Erdogan.

Die Gülen-Bewegung nannte Erdogan nicht beim Namen. Doch am Dienstag wurde bekannt, dass der in den USA lebende islamische Prediger Fethullah Gülen den türkischen Ministerpräsidenten wegen Beleidigung und Hetze verklagt hat. Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin hieß es indes, man setze auf eine „rücksichtslose Aufklärung der Korruptionsaffäre“ und die „Beachtung rechtsstaatlicher Prinzipien“, um wieder Schwung in die EU-Beitrittsgespräche zu bringen. Merkel dagegen bekräftigte ihre alte Position: einen EU-Beitritt der Türkei sehe sie „skeptisch“, die Verhandlungen sollten jedoch „ergebnisoffen“ fortgesetzt werden.

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3 Kommentare

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  • F
    Freigeist

    Es geht los. Wir träumen schon wieder von Groß Deutschland. Bundespräsident, ein Häuchler aus der Bürgerbewegung singt Kriegslider. Aus Deutschland aus wird Aufstand in Ukrainer finanziert und organisiert. Man redet schon Holzkopf Klitschko als opposition Politiker konsturiert. Er ist in Deutschland angemeldet und in USA bezahlt er seine Steuern (falls er überhaupt bezahlt). Er macht unsere Elite nach. Er ist noch nicht mal in Ukrainer nicht angemeldet. Was macht TAZ! Beschimpft Erdogan-Putin usw. Als wären unsere Politiker demokratische als Erdogan oder Putin. Unsere Politiker sind genau so kriminell wie die Politiker aus Ukraine, wir Putin oder Erdogan. Mit einer unterschied unsere Politiker halten zusammen. Deshalb fällt nicht so auf wie bei Putin oder bei den Politiker aus Ukrainer. Verkehrte Welt. Dazu kommt bei TAZ Islamphobi.

  • Mein Zeitungsverkäufer meinte heute zu mir: Deutschland läßt auch wirklich jeden rein. Gleiches gilt nach Auffassung einiger Apokalyptiker wohl auch für die EU. Aber Spaß beiseite: Für die meisten türkischstämmigen Besucher der Erdoganshow war es nur eine nette Abwechslung zum Unterschichtenfernsehen der in Deutschland empfangbaren türkischen TV-Programme. So wie damals beim Obamabesuch in Berlin, als neben der Bundeskanzlerin auch US Rentner und Touristen aus anderen europäischen Ländern als "Jubelperser" herangekarrt wurden. Ob sie alle Erdogan demnächst wählen werden, ist damit nicht gesagt. Viele werden wohl von den Folgen seiner Politik ganz kalt erwischt werden, z. B. wenn ihre türkischen Kreditkarten gesperrt werden und man damit in Deutschland nicht mehr konsumieren kann. Wie stinkig eine Türkin werden kann, die nicht mehr mit Karte zahlen darf, durfte ich kürzlich erleben. Oder wenn sich Kleinunternehmer nicht mehr beim türkischen Onkel, der Cousine oder der Mutter refinanzieren können, weil das Geld in der Türkei einfach pfutsch ist. Man sollte den Besuch so nehmen, wie er von den meisten Türken gesehen wird: Zu Ramadan klingelt es nach Sonnenuntergang an der Haustür, und es kommen arme ferne Verwandte, um Neuigkeiten zu berichten und einem die Haare vom Kopf zu fressen. Mein Zeitungsverkäufer ist übrigens irakischer Kurde mit deutschem Paß.

  • HB
    Harald B.

    Wie wäre es mit einer Volksabstimmung in Deutschland über den EU-Betritt der Türkei? Kann die taz das nicht anregen?