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Kommentar FlüchtlingsrekordIgnoranz ist der Skandal

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Das UNHCR spricht von einem neuen Rekord an Menschen, die auf der Flucht sind. Auch Deutschland tut zu wenig. Doch nicht nur das ist ein Problem.

Gerettet: Bootsflüchtlinge vor der italienischen Küste. Bild: dpa

F ast jeden Monat gibt es neue Flüchtlingsrekorde: mehr Asylanträge, mehr Bootsflüchtlinge, mehr Tote, mehr Vertriebene, mehr Kriegsopfer. Die Folge ist Abstumpfung, eine Mischung aus Entpolitisierung und Abwehrreflex. Das Problem erscheint vielen, auch vielen Medien, als eine Art Naturkatastrophe: aus undurchsichtigen Gründen in die Welt gekommen und nicht zu verhindern. Zu hoffen bleibt dann nur noch, dass sie einen nicht selbst erwischt.

Aber so ist es nicht. Es gibt sinnvolle Wege, Leid, Not und Vertreibung zu bekämpfen. Allerdings keine, die umsonst sind. Dabei verlangt niemand von Deutschland, alle Flüchtlinge aufzunehmen, wie Populisten à la Pegida es gern hinstellen. Im Gegensatz zu den Fluchtbewegungen jenseits von Europa ist die Lage hier durchaus zu bewältigen. Und: Wahrlich nicht jeder will hierher.

Trotzdem tut Deutschland zu wenig. Vor Jahrzehnten haben sich die Industriestaaten verpflichtet, 0,7 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Entwicklungshilfe bereitzustellen. Genauso lange halten sie sich schon nicht daran. Deutschland geht es wirtschaftlich besser denn je, doch für den Kampf gegen Hunger, Krankheit und Armut gibt es nur gut die Hälfte dessen her, was versprochen ist: 0,38 Prozent. 11 Milliarden Euro zu wenig zahlt Deutschland dieses Jahr. Die Summe wäre ausreichend, um Maßnahmen gegen Landraub, Verwüstung, Krankheiten, für Bildung, sauberes Wasser, gerechte Entwicklung und auch Nothilfe zu fördern, von denen viele Millionen Menschen profitieren würden.

Aber die Geldfrage ist nicht das einzige Problem. Schlimm ist, sich für Konflikte erst dann zu interessieren, wenn sie vollends eskaliert sind – wie in Syrien. Oder das Interesse sofort wieder zu verlieren – wie in Zentralafrika.

Das Gegenteil tut not. Es wird aber nichts daran ändern, dass Menschen hierherkommen. Je eher wir das akzeptieren, desto besser. Das Flüchtlingsrekordjahr brachte in dieser Hinsicht einen Rückschritt: Als Italien das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ auch auf deutschen Druck hin einstellte, hat die EU das Todesurteil für Tausende Bootsflüchtlinge unterschrieben. Empört hat das kaum jemanden. Das Sterben im Mittelmeer gilt zu vielen als normaler Teil der Realität, den wir nur bedauern, aber nicht ändern können. Das ist der eigentliche Skandal.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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15 Kommentare

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  • "Schlimm ist, sich für Konflikte erst dann zu interessieren, wenn sie vollends eskaliert sind – wie in Syrien. Oder das Interesse sofort wieder zu verlieren – wie in Zentralafrika."

     

    An dieser Stelle möchte ich eine Nachfrage stellen: Wer entscheidet denn über "unser" Interesse?

     

    Der letzte Taz-Artikel zum Thema "Flüchtlingskrise in Zentralafrika" ist über einen Monat alt. Der davor wiederum einen Monat älter.

     

    Ich wundere mich auch, warum in den Hauptnachrichten kaum noch über die Situation in Syrien oder dem Irak berichtet wird. Aber so sind Medien wohl, das tägliche Grauen ist keine Neuigkeit.

     

    Aber: Wie kann das Publikum dafür sorgen, dass diesen Konflikten mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird? Achtet die Taz bei ihrer Berichterstattung auf die Klickzahlen der Artikel? Oder wie?

    • @Dhimitry:

      Das Problem ist doch vielmehr, daß es die meisten Leute nicht mal interessiert, wenn man sie mit der Nase reintunkt.

  • Ich (als Gegner unkontrollierter Einwanderung) würde mehr Hilfe vor Ort zustimmen, sofern es richtig gemacht wird. Denn das größte Problem sehe ich in der Bevölkerungsexplosion vieler Entwicklungsländer, daher sollte man meiner Meinung Entwicklungshilfe daran bemessen, ob sie das Bevölkerungswachstum bremsen kann. Bildung für Frauen, Verhütungsmittel, Aufklärung - das wären Dinge, die helfen könnten.

    • @DerKommentator:

      "Verhütungsmittel, Aufklärung - das wären Dinge, die helfen könnten." - Ihnen, Herr Kommentator, auf jeden Fall!

      >>> "5% der 7 Milliarden Menschen, die die Erde bewohnen, verbrauchen 25%

      aller verfügbaren Ressourcen. Zu diesen Ressourcen gehören zum Beispiel Rohstoffe wie Erze, Holz, Baumwolle oder Energieressourcen wie Erdöl und Erdgas, aber auch Wasser und Nahrungsmittel.

       

      20% der Weltbevölkerung verbrauchen 80% der Energie. Laut Einschätzungen der Internationalen Energie-Agentur IEA verbrauchen die 2,2 Milliarden Einwohner der unterentwickelten Länder bis zu 35-mal weniger elektrische Energie als die 1,3 Milliarden Einwohner der Industrieländer."....."Man schätzt, dass durch die globalisierte Wirtschaft jedes Jahr bis zu 1000 Kubikkilometer Wasser in fremde Länder exportiert werden.

      Diese Beispiele und Rechnungen machen klar, dass das Problem der Überbevölkerung in einem neuen Licht gesehen werden muss.

      Unter diesem Gesichtspunkt sind es nämlich vor allem die modernen Industriestaaten, die stark überbevölkert sind, da sie durch ihren Lebensstil und ihre Verbrauchergewohnheiten die verfügbaren Ressourcen überbeanspruchen."....."Die entscheidende Größe ist nicht die Gesamtzahl der Menschen oder die durchschnittliche Zahl der Menschen pro Quadratkilometer (also die Bevölkerungsdichte), sondern das Maß der Beanspruchung der verfügbaren Ressourcen, also der Lebensstil dieser Menschen."....

      • @Ute Krakowski:

        Beides hat seine Berechtigung. Aus ethischen Gründen werden wir auf einen Teil unseres Konsums verzichten müssen, damit Menschen in ärmeren Regionen diesbezüglich nicht benachteiligt werden.

        Eine Einschränkund des Trinkwasserverbrauchs in Europa nützt aber einem Afrikaner nichts.Hier ist es wirklich die Problematik, dass Boden und Gewässer durch eine zu hohe Bevölkerungsdichte überfordert werden.

    • @DerKommentator:

      Sollte man sofort beim Länderfinanzausgleich mit anfangen. Sachsen hat die höchste Geburtenrate pro Frau mit 1,48 und Hamburg mit 1,26 die niedrigste.

       

      Also alles Geld aus Sachsen sofort nach Hamburg geben. Hamburg gefällt mir auch viel besser.

    • @DerKommentator:

      Sie erinnern mich an einen ehemaligen Kollegen. Der war der Ansicht, daß "der Neger" ja nix zu tun hat den ganzen Tag, also "legt er sich halt auf seine Alte drauf", so waren seine Worte. Er hat es halt nicht so fein ausgedrückt, aber seine Logik war wohl dieselbe.

       

      Natürlich ist diese Logik völlig unlogisch, denn sie zielt an der Realität weit vorbei.

       

      Im Winter 44/45 rettete die Kriegsmarine binnen weniger Wochen 2 Millionen Flüchtlinge über die Ostsee. Hätte man denen stattdessen auch sagen sollen, sie sollen Verhütungsmittel nehmen?

    • 6G
      688 (Profil gelöscht)
      @DerKommentator:

      Die Moderation: Kommentar entfernt.

  • Was nützt es denn, 0,7% Almosen zu zahlen, wenn auf der anderen Seite durch Erpressung jede Form der wirtschaftlichen Entwicklung unterbunden wird?

     

    http://www.dw.de/eu-und-afrika-besiegeln-umstrittene-handelsabkommen/a-18072156

     

    Hier in Europa gegen TTIP auf die Straße gehen, und dort um des eigenen Wachstums willen viel Übleres aufzwingen.

     

    Da kann ich mir schon denken, in welchen europäischen Konzernkanälen selbst die 0,7% "Hilfe" versickern werden.

    • @NurMalSo:

      Das sehe ich auch so. Leider funktioniert Entwicklungshilfe meistens nicht. Entscheidender wäre eine Öffnung der Märkte durch die EU, die aber leider hauptsächlich durch agrarnahe Länder wie Frankreich blockiert wird.

      • @jonny62 :

        Ganz besonders übel finde ich, wie viel Berichterstattung es über die Folgen von TTIP gibt, und wie unfassbar wenig über EPA. Bevor dieses Abkommen beschlossen war, kannte ich nicht mal den Namen...

  • Ein super Artikel!

  • Flüchtlingsverursachung gehört halt zum Normalbetrieb unserer Wirtschaftsordnung und deren staatlicher Grundlage. Darauf kritisch hinzuweisen, sollte öfter geschehen, damit es mehr und mehr notwendig erscheint, dies zu ändern - auch über die hier erwähnten Minimalvorschläge hinaus..

  • Danke für den ehrlichen und zusammen fassenden Kommentar zum Thema Asyl!