Nach der Bürgerschaftswahl in Hamburg: Das Scherbengericht
Der Großstadt-CDU fehlen im Würgegriff von SPD, FDP und AfD Machtoptionen und Themen. Auf dem Parteitag geht es ums Überleben von Spitzenkandidat und Parteichef.
HAMBURG taz | Ab durch die Mitte mit Hamburgs CDU – und dann abwärts. Das historische Wahldebakel der Christdemokraten am Sonntag hat drei Ursachen: Die personelle und thematische Dominanz von SPD-Bürgermeister Olaf Scholz, die fehlende Machtperspektive seines CDU-Herausforderers Dietrich Wersich und die starke Konkurrenz aus FDP und AfD. Die Partei der Mitte, die sie unter Ole von Beust einst in Hamburg war, wurde von den Fliehkräften zerrissen. Von dessen 47,2 Prozent aus dem Jahr 2004 verbleibt nur noch ein Drittel: Mit 15,9 Prozent ist die CDU im Stadtstaat an der Elbe auf dem Weg zur Splitterpartei.
Dies sei eine „bittere Niederlage“, räumt der CDU-Landesvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Marcus Weinberg ein, deshalb sei nun „ein breiter und offener Aufarbeitungsprozess“ erforderlich. Dieser solle bis zum Start des Bundestagswahlkampfes in zwei Jahren eine „cdu2020“ konzipieren und Antworten finden auf die Frage, „warum Hamburg CDU wählen soll“, schrieb Weinberg am gestrigen Montag in einer ausführlichen Mail an alle Hamburger Parteimitglieder.
Im Vergleich zum bislang schlechtesten Hamburger CDU-Ergebnis von 21,9 Prozent vor vier Jahren verlor die Union am Sonntag weitere rund 200.000 Stimmen auf der Landesliste und somit etwa 40.000 WählerInnen (die je fünf Stimmen haben). Die meisten Wähler – rund 9.000 – wanderten zur FDP. Das zeigt eine erste Analyse des Wahlforschungsinstituts Infratest-Dimap. Mit jeweils etwa 8.000 Wählern profitierten auch die SPD und die neu in die Bürgerschaft eingezogene AfD vom Einbruch der CDU.
Wersich und der CDU fehlten die Themen, weil Scholz sie längst besetzt hatte. Wer an der SPD-Bildungspolitik kritisiert, dass sie den Elternzuschuss für das Mittagessen in der Kita und die Studiengebühren an den Hochschulen abschaffte, darf sich über ausbleibende Jubelstürme nicht wundern. Wer an den vielen Straßenbaustellen in der Stadt und den damit verbundenen Staus herummäkelt, muss sich von der SPD vorrechnen lassen, wie viele Dutzend Schlaglöcher, die die CDU-Senate hinterlassen hatten, sie Woche für Woche reparieren lässt.
Das vorläufige amtliche Ergebnis der Hamburger Bürgerschaftswahl 2015 (Landesliste) lautet:
SPD: 45,7% (-2,7%), 58 Sitze
CDU: 15,9% (-6,0%), 20 Sitze
Grüne: 12,2% (+1,0%), 15 Sitze
Linke: 8,5% (+2,1%), 11 Sitze
FDP: 7,4% (+0,7%), 9 Sitze
AfD: 6,1% (+6,1%) 8 Sitze
Piraten: 1,5% (-0,6%), ---
Die Partei: 0,9% (+0,2%), ---
Neue Liberale: 0,5% (---), ---
ÖDP: 0,4% (+0,1%), ---
Rentner: 0,3% (-0,2%), ---
NPD: 0,3% (-0,6%), ---
Bürger-Liste: 0,2% (---), ---
Wersich unter Wert geschlagen
Wer mit der inneren Sicherheit zu punkten versucht, muss erkennen, dass dies – wie 2001 dem Rechtspopulisten Ronald Schill – nun eher dessen AfD-Nachfolgern nutzt. Und die Forderung, noch härter zu sparen als die SPD, um die Schuldenbremse früher als 2020 zu erreichen, verwirrt die Öffentlichkeit eher, wenn der SPD-Senat als Antwort einen Haushaltsüberschuss von 422 Millionen Euro für das vorige Jahr präsentiert.
Im Ergebnis wurde Wersich weit unter Wert geschlagen. Mehr als fraglich ist es, ob er und Weinberg das Scherbengericht an der Wahlurne politisch überleben werden. Die beiden Protagonisten einer liberalen Großstadt-CDU, die ihre Partei nach dem Rechtsschwenk des Kurzzeit-Bürgermeisters Christoph Ahlhaus wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückholen wollten, scheiterten am Polit-Taktiker Scholz, der anderen Parteien im Zentrum keinen Platz ließ. „Es gab keine Wechselstimmung und keine Regierungsoption“, räumt Weinberg ein.
Deshalb ging bereits am gestrigen Montagabend im CDU-Landesvorstand die Personaldebatte los, das blutige Schlachtfest indes steht vermutlich erst am Donnerstag auf einem Parteitag an. Auch das liegt im Hamburger Wahlrecht begründet. Erst am Montagabend stand fest, wer überhaupt bei der CDU eines der rar gewordenen Bürgerschaftsmandate ergattert hat und deshalb Wersich den Fraktionsvorsitz streitig machen kann.
Erst zur Halbzeit aus der Deckung
Diese Personalie ist eng verwoben mit eventuellen personellen Alternativen zu Parteichef Weinberg. Zudem böte die nächste Legislaturperiode, die erstmals fünf Jahre währen wird, die Möglichkeit zu Interimslösungen; erst zur Halbzeit muss der künftige Hamburger Spitzenkandidat aus der Deckung kommen.
Zugleich wird die CDU ihre politische Positionierung zwischen dem liberalen Wettbewerber FDP und dem rechtspopulistischen Konkurrenten AfD neu bestimmen müssen. Manche Stimme in der Partei fordert bereits wieder klare Kante in der Innenpolitik und den Vorrang der Ökonomie vor der Ökologie. „Rechts ist vorne“, sagt ein prominenter Christdemokrat.
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