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Letzte Zuckungen

Einspruch gegen Organtransplantationen

VON GABRIELE GOETTLE

Anna Bergmann, Prof. Dr. phil., Privatdozentin a. d. kulturwissenschaftlichen Fakultät d. Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. WS 2005/2006 Lehrbeauftragte a. Inst. f. Volkskunde und Kulturanthropologie d. Karl-Franzens-Universität Graz; Gastprof. a. d. Fakultät f. Kulturwissenschaften d. Univ. Klagenfurt; Maria-Goeppert-Mayer-Gastprofessur a. d. Abt. f. Geschichte d. Naturwissenschaften m. Schwerpunkt Pharmaziegeschichte, TU Braunschweig. 1960 Einschulung i. d. kath. Volksschule Lüneburg, 1964 Herder-Gymn. Lüneburg, 1973 Abitur. 1974–1980 Studium d. Politik- u. Sozialwissenschaften a. Otto-Suhr-Institut d. FU-Berlin, 1980 Magister. 1980–1993 div. Tätigkeiten als freie Mitarbeiterin, u. a. beim SFB; wissenschaftl. Planung d. Forschungsprojektes „Soziale Rationalisierung“ a. Hamburger Inst. f. Sozialforschung; wiss. Beratung b. d. Ausstellungen „Der Wert d. Menschen“ Berl. u. „Unter anderen Umständen“, Hygiene Museum Dresden. 1988 Promotion a. Fachb. Polititische Wissenschaften, Institut d. Geschichte d. Medizin a. d. FU Berlin, über d. Geschichte d. Rassenhygiene u. Eugenik im Deutschen Kaiserreich. Seit 2002 Dozentin f. medizinische Ethik a. d. Pflegeakademie Berlin, sowie bei VIA e. V. (Fortbildungsseminare f. Krankenpflegepersonal u. Sozialarbeiter). 2003 Habilitation a. d. Kulturwissenschaftl. Fakultät d. Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder (Thema „Klimakatastrophen, Pest und Massensterben. Staatliche Todesabwehr und todesabhängige Medizin zwischen Rationalität und Magie“), Verleihung d. Lehrbefugnis f. Neuere Geschichte u. Kulturgeschichte. Seither Gastprofessuren u. Lehraufträge an Universitäten i. Deutschland u. Österreich. Forschungsschwerpunkte u. a.: Kulturgeschichte d. Anatomie, d. medizinischen Menschenexperiments u. d. Transplantationsmedizin, d. Wahrnehmungsgeschichte d. Todes. Veröffentlichungen u. a.: „Herzloser Tod: Das Dilemma der Organspende“, zusammen m. Ulrike Baureithel, Stuttg. 1999, u. 2001; „Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod.“ Berl. 2004. Anna Bergmann wurde 1953 i. Mittelbach/Unterfranken geboren, der Vater war Lehrer, die Mutter Hausfrau. Sie ist ledig und hat keine Kinder.

Anna Bergmann wohnt in Berlin, zwischen Schöneberg und Kreuzberg, Gartenhaus 5. Stock, ohne Lift. Die ausgebaute Dachwohnung teilt sie mit ihren Katzen, einem Jongleur, der ihr Untermieter ist, und einer deckenhohen Blattpflanze. Das Arbeitszimmer liegt zum Norden hin, vom Schreibtisch aus kann der Blick über die Dächer schweifen Richtung Tiergarten und Mitte. Zwischen den Bücherregalen hängen Kinderzeichnungen vom Großvater, ein Jugendfoto der Mutter, ein Foto von Beckett, und eins von Rubinstein neben dem offenen Klavier. Die hölzernen Teile eines Sessels sind von den Krallen der Katzen kraftvoll bearbeitet, sie haben die Erlaubnis dazu. Anna Bergmann führt uns in die lichtdurchflutete Wohnküche, wo wir neben der Blattpflanze auf Biedermeierstühlen Platz nehmen und gebannt zusehen, wie eine schon ältere schwarze Katze kopfüber die schmale steile Holzleiter zum Schlafzimmer herunterbalanciert und Platz nimmt. Frau Bergmann möchte, bevor wir über die moderne Transplantationsmedizin sprechen, kurz in die Geschichte zurückgehen. Naturgeschichte ist Kulturgeschichte.

„Unser Wissen vom Körper, unser Körpermodell, verdankt sich ja der Anatomie. Im 14. Jh. wurden zum ersten Mal in Folge der Pest Leichen seziert. Man wollte in den Körper schauen um die Todesursache zu eruieren. Systematischer betrieb man das Leichensezieren erst im 16. Jh. Leichensektion war eine starke Tabuüberschreitung – und ist es immer noch. Das Tabu war darin begründet, dass der Tote nicht als endgültig und absolut tot galt, sondern als einer, der weiterlebt, der mächtig ist, der Rache nehmen kann. Die Leichensektionen – die von der Kirche legitimiert waren – wurden nun ausschließlich an Hingerichteten vorgenommen. Die Hinrichtungsrituale waren ja so organisiert, dass eine gründliche Zerstörung und Vernichtung praktiziert wurde, um den Toten jede Möglichkeit zur Rache zu nehmen. Nur weil Hingerichtete diesem Ausschluss unterworfen und zerstört wurden, kam man überhaupt auf die Idee, diese Gruppe zur Leichensektion zu verwenden. Auf der Basis des magischen Denkens und aus der Abhängigkeit von der Hinrichtung, entsteht dann die Anatomie als Erkenntnisform. Anatomen gingen auch zu den Scharfrichtern und baten, die Todesstrafe so auszuführen, dass der Leichnam noch brauchbar war. Die letztendliche Zergliederung und Zerstörung – zuvor Henkershandwerk – übernahmen nun sie.

Vom 16. bis zum 18. Jh. wurden fast nur Hingerichtete, Männer und Frauen, seziert und präpariert. Das ‚Zerstücken‘ auf dem Sektionstisch wurde ausdrücklich als Zusatzstrafe verhängt und durchgeführt im ‚anatomischen Theater‘ (amphitheaterartiger Schausaal mit Sektionstisch im Zentrum als Bühne, auf der die Sektion ‚aufgeführt‘ wurde vor geladenem Publikum. Es gab Musik, eine Kleider- und Sitzordnung, Anm. G.G.). Es hatten nur die höheren Schichten Zutritt, Fürsten, Adlige, die Geistlichkeit – deshalb ist auch nicht verwunderlich, dass heute die Kirche für Organtransplantation ist, sie ist diesen Säkularisierungsprozess, was den Körper betrifft, immer mitgegangen – sie alle wurden in den ersten Reihen platziert. Der Anatom hatte noch keinen Kontakt zur Leiche, er stand auf dem Katheder, gab Anweisungen an die Chirurgen und erläuterte das Geschehen. Die Chirurgie zählte zu den sog. ‚unehrlichen‘ Berufen, wie Scharfrichter, Abdecker usw. ‚Unehrlich‘ deshalb, weil sie mit Blutvergießen und Tod zu tun hatten.

Das 16. Jh. wird immer als dasjenige bezeichnet, in dem sich die moderne Medizin im anatomischen Theater begründet hat. Man muss auch sehen, wie. Eine entscheidende Zäsur war, dass der Anatom Vesal vom Katheder herunterstieg und als Erster eigenhändig Leichen sezierte. Den krönenden Abschluss bildete die Sektion einer trächtigen Sau bei lebendigem Leibe. Diese Vivisektionen waren von bisher nicht gekannter Grausamkeit. Damit haben wir dann den Zusammenhang von Tod, Geburt, Sterben und Töten. Das alles wird im anatomischen Theater in Szene gesetzt, visualisiert. Hier entsteht ein neues Weltbild, kann man sagen, die Anatomie konstituiert einen zerlegbaren Körper, der aufgespalten ist in einzelne Organe, abgeschnitten von der Umwelt und vom Kosmos, mit autonomen Organen – was dann ganz entscheidend auch für die Transplantationsmedizin wird. Also ich sage immer, das ist eine chirurgisch-anatomische Anthropologie, die da entsteht. Besonders im 17. Jh., in dem die meisten Hinrichtungen stattfinden – also in der Frühmoderne und nicht im Mittelalter, wie häufig angenommen wird. Die Gesellschaft war einer extremen Chaotisierung ausgeliefert“, Frau Bergmann streichelt etwas hektisch eine sehr alte und dünne Siamkatze und hebt die Miauende zu sich auf den Schoß, „im 17. Jh. hatte ja die ‚kleine Eiszeit‘ ihren Höhepunkt, und durch Missernten und Hunger entsteht dann auch eine Anfälligkeit für die Pest. Jeder Pestzug zog eine Hexenverfolgung oder ein Judenpogrom nach sich. Es war das Jahrhundert des Hexenwahns, der Hinrichtungsexzesse und der Kriegsdichte. Es gibt einen enormen Anstieg der Gewalt. Und es ist das 17. Jh., in dem sich die modernen Naturwissenschaften am stärksten konstituieren, die Akademien für Wissenschaft entstehen jetzt.

Die Hinrichtungsexzesse schaffen quasi eine materiale Voraussetzung für die empirische Erforschung des Körpers. Und seit dem 18. Jh. wurde der für die Anatomie verfügbare Personenkreis dann erweitert durch behördliche Anordnung, und zwar auf sozial deklassierte Gruppen. Also auf alle Armen, die kein Geld für eine Beerdigung hatten, die in Hospitälern, Gefängnissen, Zucht- und Waisenhäusern, Findel- und Invalidenhäusern gestorben sind, auch auf Selbstmörder und ledige Schwangere usw … Im Rahmen einer sich rasant entwickelnden experimentellen Medizin wurde dieser Personenkreis dann recht bald auch für den Menschenversuch in Reihenuntersuchungen benutzt in einem vorher nicht gekannten Ausmaß. Ohne diese Verdinglichung der Armen und der Ausgegrenzten wäre die Entwicklung der modernen Medizin des 19. und 20. Jh. undenkbar gewesen.“ Die Katze will wieder auf den Boden, sie verlangt klagend nach Futter und bekommt ein Schälchen gefüllt.

„Besonders die Chirurgie hat profitiert. Im 19. Jh. ist sie die Methode par excellence. Und man fängt nun mit Transplantationen an, bei Tieren. Man ‚verpflanzt‘ Schilddrüsen, Ovarien, Hoden, Knochen, Hirngewebe und scheitert natürlich. Ab 1906 gibt es einzelne Versuche bei Menschen. Die Chirurgie, die einst als ‚unehrlich‘ galt, wurde zur Königin der modernen Medizin, und der Chirurg hatte lange Zeit den allerhöchsten Status. Seine Methode wird dann auch zur Hauptmethode unserer modernen Medizin. Wie geheilt wird, wie erkannt wird, bis hin zur Gentechnologie, alles das basiert ja auf dem Zergliedern, das sind alles Zergliederungen. Und so zieht sich ein roter Faden durch die Geschichte der modernen Medizin, von der Leichenzergliederung im anatomischen Theater, die Verwertung der Hingerichteten, die Experimente an Menschen im 18. und 19. Jh., die Menschenversuche der Mediziner im Nationalsozialismus, bis hin zur modernen Organtransplantationsmedizin, der Verdinglichung des Toten zum Gegenstand der Forschung und der Verdinglichung des ausgegrenzten Todgeweihten zum Menschenmaterial.

An dieser Stelle mache ich jetzt einen Übergang zur Transplantationsmedizin, die ja per Definition einen Sterbenden für tot erklärt, weil so auch die mentale Voraussetzung geschaffen wird, um jetzt Hand an ihn zu legen. Bis Ende der 60er-Jahre galt, dass der Tod mit dem Stillstand von Herz und Kreislauf eintritt. Der Arzt hatte diesen Tod zu bescheinigen anhand der klassischen untrüglichen Todeszeichen wie Fehlen des Herzschlages, Atemstillstand, Blässe, Leichenstarre, Leichenflecken. Im Zuge der ersten Herztransplantation, die 1967 der südafrikanische Chirurg Barnard in Kapstadt durchgeführt hat – was eine ganze Welle von Herztransplantationen in aller Welt nach sich zog –, kam es 1968 zu einer ersten offiziellen Hirntoddefinition, zu den Harvard-Kriterien. Die Harvard-Kommission zählte in ihrer Definition das zentrale Nervensystem morphologisch zum Gehirn, man fasste Gehirn und Rückenmark noch als eine Einheit auf, also Gehirntod lag dann vor, wenn kein einziger Reflex mehr nachweisbar war.

Noch im selben Jahr ist diese Definition aufgegeben worden. Statt dessen setzte sich Ende der 60er-Jahre die bis heute gültige Definition einer irreversiblen Schädigung aller Hirnfunktionen durch. 17 mögliche Bewegungen beim Mann und 14 bei der Frau gelten dabei mit dem Status einer Leiche als vereinbar. Darauf komme ich später noch zurück. Auch die Kirchen haben sich gleichgeschaltet und preisen die Organspende als einen ‚Akt der Nächstenliebe‘ an. In einer gemeinsamen Erklärung dazu heißt es: ‚Der unter allen Lebewesen einzigartige Geist ist ausschließlich an das Gehirn gebunden.‘ Bisher war die Kirche nur für die Seele zuständig!? Man teilt den Menschen im cartesianischen Sinne in Körper und Geist.

Nach der Definition der Medizin handelt es sich beim Hirntoten um eine tote Person mit einem lebendigen Körper. Die Medizin überschreitet ihre Kompetenzen, die Naturwissenschaft verfügt gar nicht über die Möglichkeit, eine Person zu definieren. Der Neurologe und Neurochirurg Ziegler sagt, dass das Hirntodkonzept sich auf ein Menschenbild beruft, das in der modernen Hirnforschung mittlerweile als widerlegt gilt, und der Neurochirurg und Anästhesist Klein erinnert immer wieder daran, dass es inzwischen vier Todesdefinitionen gibt, den Herz-Kreislauf-Tod, den Ganzhirntod, den Hirnstammtod in England und den Tod durch Ausfall des Großhirns. Aber der Gesetzgeber hat alle Wege geebnet. Das Transplantationsgesetz wurde 1997 im Bundestag beschlossen, es erlaubt die Organentnahme, wenn der Spender einen Organspenderausweis hat oder die Angehörigen zustimmen. Der Organspender muss tot sein. Die Definition dessen, was ‚tot‘ ist, überließ der Gesetzgeber der Medizin. Seitdem gilt die juristische Festschreibung des Hirntoten als Leichnam.

Diese Todesfeststellung ist überaus kompliziert im Gegensatz zur früheren Herztodfeststellung. Das Gesetz schreibt z. B. zwei Hirntoddiagnostiker vor, die unabhängig voneinander zu diagnostizieren haben, ob ein irreversibler Gehirnausfall vorliegt oder nur eine vorübergehende Bewusstlosigkeit. Und was ich ethisch auch sehr problematisch finde, ist die diagnostische Methode. Der Körper des Komapatienten wird sehr aggressiv herausgefordert bei der Suche nach Reaktionen – also nach ‚Todeszeichen‘ –, es wird eine sehr lange Nadel in die Nasenwand gestochen, in den Trigeminusnerv, es wird Eiswasser in die Ohren gespült, es wird mit einem Tubus im Rachen hin und her geschoben … der Komapatient wird zweimal dieser Untersuchung unterworfen. Insgesamt acht Unterschriften sind im Hirntodprotokoll notwendig. Mit der letzten Unterschrift ‚tritt der Tod ein‘, als bürokratischer Akt. Anschließend wird der Totenschein ausgefüllt, als Todeszeitpunkt wird die Uhrzeit der Unterzeichnung des Schriftaktes angegeben.

Nun kann die Organentnahme stattfinden. Die Explantation hat ja eine ganz eigene Operationslogik, es muss z. B. ein Anästhesist dabei sein, in den meisten Fällen gibt er eine Narkose, denn es kann zu ‚spontanen‘ Bewegungen des ‚Toten‘ kommen – vom Zucken beim Eintritt in die Bauchdecke wird berichtet, von Hautrötungen, vermehrtem Schwitzen und einem Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck bei Unnarkotisierten.

Was einstmals noch ‚Lebenszeichen‘ waren, hat jetzt nur noch den Status von reinen Reflexen. Der Anästhesist hat die Aufgabe, sie zu unterbinden und das Herz so lange stabil zu halten, bis es entnommen wird. Würde der Totenschein jetzt erst ausgestellt, müsste als Todesursache Organentnahme angegeben werden. Damit keine Schuldgefühle entstehen, wird eine umfangreiche Arbeitsteilung praktiziert, sie erleichtert die Tabuüberschreitung und neutralisiert sozusagen die Schuld. Die fragmentierte Struktur des Transplantationssystems folgt mit der Zerlegung von Operationen nach dem Vorbild der kapitalistischen Ökonomie, je zerstückelter der Arbeitsprozess, umso mehr Entfremdung und Entmenschlichung finden statt. In der Praxis ist es das dann so, ein ‚Transplantationskoordinator‘ macht den Zeitplan – eine Explantation aller Organe dauert vier bis fünf Stunden –, sagt, wo die einzelnen Organe dann hintransportiert werden, und dann kommt ein Team, um die Leber herauszunehmen, ein anderes Team holt die Nieren, wieder ein anderes explantiert das Herz. Vorweg wird in den Kreislauf eine kühlende Flüssigkeit eingegeben, die die vitalen Organe sozusagen für den Transport in der Kühlbox vorbereitet. Und durch diese innere Kälte kommt es dann zu letzten Zuckungen. Nach der Herzentnahme kommt dann noch der Augenarzt, um die Augen zu holen, und der Dermatologe, denn es gibt Fälle, wo die gesamte Haut abgezogen wird.

Ich habe eine Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet, um Überprüfung gebeten, ob das alles als ethisch berechtigt gelten kann, und habe u. a. einen Film beigelegt, einen Lehrfilm für das Pflegepersonal des Universitätsklinikums B. F. in Berlin-Steglitz. Er zeigt, wie Hirntote sich bewegen, die Schultern hochziehen, den Arm heben, das Bein anziehen, und wie sogar der Penis noch erigieren kann … Ich bat um eine Überprüfung der Hirntoddiagnostik. Meine Eingabe war Mai 2001. Bis Juli 2004 brauchte der Petitionsausschuss, um mir lapidar mitzuteilen, dass die Hirntoddefinition keine Frage mehr ist, sondern juristisch etabliert. Es steht im Gesetz, und daran ist nicht mehr zu rütteln.

Aber für viele Leute ist das keinerlei Beruhigung. In einem der Interviews, die Ulrike Baureithel und ich 1988 u. a. mit Ärzten und Pflegepersonal gemacht haben, erzählt eine Operationsschwester Folgendes: Sie war in einer Ausstellung über die Geschichte der Euthanasie im Nationalsozialismus und hat sich danach die Frage gestellt, was ist eigentlich, wenn bei uns eines Tages der Hirntod keine Rechtsgültigkeit mehr hat, weil sich die Wissenschaft so fortentwickelt, dass sie den Hirntod als Irrtum bezeichnet. Bin ich dann eigentlich eine Täterin? Diese Frage also erklärt der Gesetzgeber als beantwortet. Gerade die Schwestern und Pfleger können aufgrund ihrer Praxis nicht ausblenden, dass es sich hier um einen Sterbenden handelt, den man ausweidet, und nicht um einen Leichnam. In beinahe jeder Klinik wurde uns aber auch von Ärzten berichtet, die sich verweigern.

Selbst der härteste Befürworter, Raimund Magreiter, ‚Pionier‘ der österreichischen Transplantationsmedizin, der im Mai 2000 unter großem Medienspektakel zwei Hände verpflanzt hat, wird ausgerechnet bei Knochen schwach. 1998 sagte er uns: ‚Wenn es darum geht, lange Röhrenknochen zu entnehmen, die dann nicht ersetzt werden, so dass ein Bein herunterfällt wie bei einem Hampelmann, das wäre etwas, das mich persönlich stören würde (…)‘. Von Knochen ist nie die Rede in der Öffentlichkeit, von Haut auch nicht. Diese Woche ist ja die erste Gesichtsverpflanzung gemeldet worden“, die Katze schreit plötzlich so laut, dass wir zusammenschrecken, „in den USA, was ich damit nur sagen möchte ist, dass die Verstümmelung jetzt zunehmend auch nach außen geht. Bei der Werbung für die Organspende ist ja immer nur von einem Organ die Rede, oder es wird gebeten um Multiorganspender, aber was das bedeutet, bleibt ihnen verborgen.

Anfang diesen Jahres war im Deutschen Bundestag eine Anhörung, wo die Transplantationsmedizin sehr offensiv angetreten ist und sagte, man könne sich das nicht mehr leisten, ergebnisoffene Gespräche mit Angehörigen zu führen – das Gesetz verbietet ja, sie unter Druck zu setzen. Es wurde auch gefragt, wie das jetzt mit den Händen ist. Und es hieß, Hände gelten als Gewebe. Ja, Haut, Knochen, Hirnhäute usw. gilt alles als Gewebe und wird vom Gesetz nicht miterfasst. Gewebe darf verkauft werden, Organe aber nicht! Aber sie möchten es noch einfacher haben, die Transplantationsmedizin fordert, dass wir uns dem österreichischen Gesetz anpassen. Dort gilt, dass jeder, der sich nicht in einem Zentralregister als ‚Organverweigerer‘ eintragen lässt, automatisch wie ein Organspender behandelt wird, ohne jedes Einspruchsrecht der Angehörigen. Das trifft im Prinzip auch Touristen, die auf österreichischem Boden österreichischem Recht unterliegen. Da gab es dann mehrere Skandale im Zusammenhang mit Skiunfällen. Um die Tourismusindustrie nicht zu beeinträchtigen wurde das gelockert, den Deutschen gegenüber jedenfalls.

Das österreichische Gesetz ist Anfang der Achtzigerjahre derart unspektakulär – auf Initiative von Prof. Margreiter übrigens – eingeführt worden, dass es den meisten Bürgern des Landes völlig unbekannt ist. Das will die Transplantationsmedizin auch verwirklicht sehen, statt sich von gut meinenden Spendern abhängig zu machen. Die Leute denken ja, na gut, wenn ich sowieso tot bin und zu nichts mehr nutze, warum soll nicht ein anderer mein Herz haben, der es nötig hat!? Aber die Leute wissen nicht, dass sie gar nicht tot sein dürfen, weil sonst ja die Organe unbrauchbar sind, und dass sie also überhaupt als Spender in Frage kommen, wenn ein Krankheitsverlauf eingetreten ist, bei dem man als ‚hirntot‘ diagnostiziert werden kann. Also wenn etwa durch einen Schlaganfall die Hirnschwellung so groß wird, dass man ins Koma fällt. Der Schlaganfall steigt im Moment. Also Herzspender ist nicht der viel beschworene Motorradfahrer. Aber kein Mensch stellt sich einen Organspender vor, der im Rollstuhl sitzt. Das Alter steigt ständig, die Transplantationswerbung verkündet, dass man nun bis 82 spenden kann. Es werden natürlich auch Säuglinge und Kinder explantiert, aber vergleichsweise wenig.

Viele machen sich auch nicht klar, dass Sterben zu einem medizinischem Faktum wird, ein organerhaltender Prozess sozusagen ist, und da kann natürlich kein Angehöriger dabei sein und die Hand halten. Wer als ‚hirntot‘ gilt, ist als soziales Wesen quasi ‚erloschen‘. Es gibt ja diese Gruppe von geschädigten Eltern, die, ohne zu wissen oder zu ahnen, um was es sich eigentlich handelt, zugestimmt haben in die Organentnahme ihrer Kinder, und erst hinterher begriffen, was geschehen war. Das sind in erster Linie Mütter, die in den Sarg geschaut haben und entsetzt waren. Und diese Eltern machen das auch öffentlich. Das finde ich sehr wichtig, dass andere sich das vorstellen können. Ganz konkret! Es wird ja in der Öffentlichkeit alles getan, um dem ganzen ein positives Image zu geben.

Der Tabubruch, der stattgefunden hat, ist kaum noch sichtbar. Nur die Organempfänger fühlen ihn in aller Stärke. Die meisten empfinden eine Überlebensschuld. Sie sind natürlich auch nicht die glücklichen und gesunden Organempfänger, wie von der Werbung vorgegaukelt wird. Sie bleiben Patienten und müssen lebenslang bis zu 30 Tabletten täglich nehmen, mit schweren Nebenwirkungen für Niere und Leber. Diese Medikamente bewirken eben eine geschwächte Immunabwehr, weil die notwendig ist, damit ihr Körper das fremde Organ nicht abstößt. Nur 40 von 100 Herz- und Lebertransplantationspatienten überleben länger als ein Jahr, nur 10 von 100 länger als 5 Jahre. Sie bekommen Osteoporose, viele ein parkinsonartiges Zittern, sie können die Tasse nicht mehr halten, manche werden zum Pflegefall. Und neben den physischen Begleiterscheinungen gibt es eben auch eine ganze Reihe von psychischen Begleiterscheinungen. 50 bis 70 Prozent aller Organempfänger leiden an Persönlichkeitsveränderungen, Identitätskonflikten, Angst und Depressionen. Es gibt psychologische Betreuung und eine spezielle Organtransplantationspsychiatrie.

Ein Psychiater hat erzählt, dass bei allen das Thema Raub und Tötung im Vordergrund steht. Zum einen wird ihnen ja was Ähnliches angetan wie den Spendern, bei einer Herz-Lungen-Transplantation wird sozusagen der gesamte Inhalt ihres Brustkorbes rausgenommen. Das ist eine furchtbare Vorstellung. Auch, dass man sein Herz verliert. Das Herz ist ja das Erste sich im Mutterleib bewegende Organ, und es hört erst normalerweise mit dem Tod auf, sich zu bewegen. Viele glauben, auch sie transformieren sich in den Spender. Herzempfänger sind ja meist Männer. Ein hoher Prozentsatz erhält Frauenherzen. In Deutschland ist die Organspende zwar anonymisiert, auf Wunsch wird aber das Geschlecht des Spenders genannt. Gerade Herzpatienten gelten als sehr weinerlich, und die führen das dann auf ihr Herz zurück, das sie verweiblicht. Also fühlen sie sich gespalten und beraubt … haben aber andererseits Schuldgefühle, weil sie quasi auf den Tod eines anderen gewartet haben, davon profitiert haben. Da gab’s damals z. B. das große Zugunglück bei Eschede 1998, mit der Entgleisung des ICE. Viele der Schädelverletzungen kamen nach Hannover, dort ist eines von 50 Transplantationszentren. Also wenn da die Leute auf der Warteliste angerufen wurden, weil ein Organ für sie da war, dann haben viele das hinterher natürlich mit dem Zugunglück in Verbindung gebracht – das wurde ja als ganz ganz großer Trauerfall in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Manche schaffen das kaum, ihre Schuldgefühle halbwegs unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt Beschreibungen, dass manche Organempfänger dann auch kannibalistische Phantasien entwickeln, z. B. träumen, dass sie als Raubtier das Herz eines anderen herausreißen und sich selbst einverleiben. Kannibalismus, das darf man nicht vergessen, ist eines der höchsten Tabus in jeder Kultur.

Ausgerechnet der Hightech-Medizin ist es gelungen, ganz tiefe anthropophage Vorstellungen in ihren Patienten zu erzeugen. Und das liegt einfach daran, dass hier die Therapie tatsächlich in der Einverleibung von Menschenfleisch besteht. Von daher entstehen sehr viele Konflikte. Dazu kommt dann noch ein spezielles Misstrauen gegen das fremde Organ, besonders gegen das fremde Herz. Sie fühlen ‚ihr Herz‘ nicht mehr klopfen, weil es diesen Nervenanschluss nicht mehr gibt. Also es entstehen enorm viele Konflikte und Probleme, deshalb wird sehr darauf geachtet, schon bei der Indikationsstellung, dass Herzempfänger ein so genanntes stabiles soziales Umfeld haben. Sie brauchen also eine Frau, die dieses ganze soziale Umfeld herstellt und auch für ein hygienisches Umfeld sorgt. Ohne das wird keine Herztransplantation gemacht. Doch bei aller Bereitschaft zur liebevollen Umsorgung bleibt sein Zustand doch zeitlebens der eines Patienten, der nicht mehr derselbe Mensch ist wie zuvor.“

Miaoooo!!!, die alte Katze schreit mehrmals und setzt sich dann vorsichtig. „Ich glaub, es tut ihr weh“, sagt Frau Bergmann und holt sie sich wieder auf den Schoß. Streichelnd fährt sie fort: „Es gibt eine Studie aus Hamburg, von Kardiologen verfasst, die ausdrücklich keine Kritiker der Organtransplantation sind. Sie haben unter dem Aspekt des Organmangels über Herztransplantationen gearbeitet und herausgefunden, dass zwei Drittel aller Herztransplantierten eine höhere Überlebenschance gehabt hätten, wenn sie nicht transplantiert worden wären.“

Draußen senkt sich die Abenddämmerung über die Dächer. Frau Bergmann zündet die Kerzen im Tischleuchter an und für einen Moment lässt das Gefühl der Beklemmung ein wenig nach. Frau Bergmann, die mir bei der ersten Begegnung vor Stunden überaus klein erschien, scheint in der Zwischenzeit gewachsen zu sein. Wahrscheinlich liegt es an der ungeheuren Energie, mit der sie seit Jahren an diesem Thema arbeitet. Gern möchten wir nun noch ein bisschen was über sie selbst wissen.

„Ja also einmal hat mich schon sehr geprägt, dass meine Großmutter Hebamme war. Die Frauen, die bei ihr entbunden hatten, kamen immer mal, legten sich auf die Chaiselongue und haben zu meiner Großmutter gesagt: Guck doch mal, ob alles in Ordnung ist. Das war in den 50er-Jahren. Meine Schwester ist übrigens auch Hebamme geworden, und mein Bruder ist in der Gerontopsychiatrie tätig. Und ich bin, was die Medizin betrifft, dann aber auch sehr geprägt worden durch meine Mutter. Die hatte, so lange ich denken kann, Todeskrankheiten. Ich habe immer diese Angst vor ihrem Tod gehabt, von früher Kindheit an. Mein Vater war ja auch Imker und sie hatte eine Bienengiftallergie. Wenn sie gestochen wurde, schwoll alles an und die Luftröhre ging zu. Ich hatte eine sterbende Mutter vor mir. Das erste Mal war ich vielleicht 4 Jahre alt. Ich habe sie sogar einmal gerettet. Und sie hatte Gehirntumore, was natürlich noch viel schlimmer war. Sie wurde operiert, mehrmals, und es hat sich immer wieder einer neu gebildet. Sie hatte die Vorstellung, dass es etwas Seelisches ist. Das saß ganz tief in ihr, dieses Wissen darum, dass es etwas ist, was mit ihrem Umfeld zu tun hat, mit ihrer Ehe. Dass das eine Verarbeitungsform war. Sie hat es immer als ihr ‚Gewächshaus‘ bezeichnet. Und gleichzeitig wurde sie als medizinisches Wunder angesehen von den Ärzten. Damals habe ich einerseits erlebt, dass die Medizin meine Mutter retten kann, immer wieder neu, andererseits war aber unübersehbar, dass es ihre Leistung war, zu überleben. Meine Mutter ist in diesem Jahr gestorben, an einem Schlaganfall! Mit Hilfe meiner Schwester habe ich meine Mutter gegen den Willen der Ärzte und unter dramatischen Umständen aus der Intensivstation ‚befreit‘, muss man fast sagen. Wir haben sie nach Hause geholt – es war ein unbeschreibliches Problem, einen Arzt zu finden, der ihr etwas Wirksames gegen die furchtbaren Schmerzen im Kopf verschrieb, denn im Krankenhaus hatte man sich kategorisch geweigert, ihr etwas mitzugeben. Glücklicherweise fanden wir dann doch noch eine liebevolle Ärztin, und unsere Mutter konnte ohne Panik zu Hause sterben. Also ich habe die Kaltblütigkeit der Medizin hier wieder gesehen. Und ich habe sie auch in meinem Leben schon am eigenen Leib verspürt. Das hat mich wahrscheinlich doch sehr stark für Medizingeschichte motiviert.

Eigentlich habe ich ja Politikwissenschaft studiert, aber dann hat mich eben dieser Zusammenhang zwischen Gewalt und Medizin viel mehr interessiert. Lieber wäre ich ja Pianistin geworden“, sie lacht, „dann hätte ich ein schöneres Leben. Denn Sie können sich ja denken, mit diesem Thema steht man sehr leicht alleine da. Ich habe keine Scientific Community, in die ich eingebettet bin, und ich habe dementsprechend auch keine Karriere.“

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