: Die Verschwörung des „tiefen Staates“
TÜRKEI II Anfangs begrüßten liberale Türken das Verfahren. Dann kamen die Verhaftungswellen
ISTANBUL taz | Mit dem Urteilsspruch gegen die mutmaßlichen Verschwörer im „Ergenekon“-Verfahren ist ein wichtiges Kapitel in der jüngeren türkischen Geschichte zu Ende gegangen. Ob damit der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen wurde, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Begonnen hat alles vor sechs Jahren: Ermittler entdecken in einem Haus in Istanbul 27 Handgranaten, Sprengstoff und angebliche Geheimdokumente. Ein Sonderstaatsanwalt nimmt Ermittlungen auf, mehrere ehemalige Offiziere werden festgenommen. Kurz danach erfährt die Öffentlichkeit von einem angeblichen Geheimbund namens Ergenekon.
Ergenekon wird schließlich zum Synonym für den sogenannten tiefen Staat, den Staat im Staat in der Türkei.
Dieser nimmt im Zuge der Ermittlungen immer monströsere Züge an: Außer Generälen, Polizei- und Geheimdienstkommandanten werden in mehreren Verhaftungswellen auch Abgeordnete der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Anwälte, Wissenschaftler und Journalisten festgenommen.
Mehr als 300 Personen werden unter Anklage gestellt. Sie alle sollen sich verschworen haben, die AKP-Regierung zu stürzen. Auch Mordkomplotte gegen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und gegen christliche Kirchenführer werden ihnen zur Last gelegt.
Anfang begrüßen viele Liberale das Verfahren, bedeutet es doch eine Stärkung der Demokratie. Das Militär hatte zweimal eine gewählte Regierung wegputscht und zwei weitere aus dem Amt gedrängt.
Doch je länger der Prozess dauert, desto stärker wachsen Zweifel. An die ganz große Verschwörung, die das Gericht festgestellt haben will, können viele nicht glauben.
Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass in dem Mammutverfahren häufig gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen wird. Mehrfach verschwinden wichtige, möglicherweise entlastende Beweismittel, andere sollen nach Angaben von Verteidigern manipuliert worden sein. Zudem sei den Angeklagten die Expertise von unabhängigen Gutachtern verweigert worden.
Das Land vor „Banden und Mafiosi“ schützen
Manche Beobachter sprechen von einer regelrechten Hexenjagd gegen echte und vermeintliche kemalistische Kritiker der Erdogan-Regierung. Denn das ist es, was die Verurteilten eint: Sie sind säkulare Verteidiger der Ideen des Republikgründers Mustafa Kemal.
Man müsse das Land vor „Banden und Mafiosi“ schützen, sagte Regierungschef Erdogan letzte Woche. Doch an diesem Montag sprechen auch manche von denen, die Erdogan früher unterstützt haben, von einem schäbigen Theater.
Die Regierung wittert mittlerweile ständig und überall Verschwörungen. Mehr als 10.000 Personen sitzen in der Türkei unter Terrorverdacht im Gefängnis.
Erdogan, dem viele zugutehalten, dass er dem Militär die Krallen gezogen hat, untergräbt aus Sicht der Kritiker heute selbst die Demokratie. INGA ROGG
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