: Ein Tag Tschernobyl
Die Reportage „Tschernobyl, all inclusive“ begleitet eine Gruppe Touristen bei ihrem skurrilen Kurztrip ins Herz der Finsternis (So., 13.15 Uhr, ARD)
VON EDITH KRESTA
Howard und Andrew aus England haben genau wie Net aus Kanada für einen Tag „Tschernobyl, all inclusive“ gebucht. Über Internet. 200 Dollar pro Tag mit Essen und Übernachtung kostet der Kurztrip, für den ein Hinweis auf die Gefahren unterschrieben werden muss. Nicht alle Touristen haben wie Howard Atomkraft als Hobby, aber alle waren geschockt vom Super-GAU, der sich in ihren Fantasien festsetzte.
Nun sind sie hier, um den Ort des Geschehens und das, was davon blieb, zu sehen. „Wir haben diese Reisen erst auf Anfrage eingerichtet“, erzählt die Führerin des Veranstalters Interform. Mag diese Reise auch skurril wirken, die touristische Vermarktung ist die logische Konsequenz eines Reaktorunfalls, der weltweit Schrecken verbreitete. Sozusagen ein Negativ-Event, aber auch das macht neugierig. Auf Untergangsstimmung, Zerstörung und lauernde Gefahr.
Andrew hat einen „Risk Watch“ dabei. Mit diesem „Risikobeobachter“ kann er die Höhe der Radioaktivität auf dem Flickenteppich der Sperrzone von Tschernobyl messen. Und diese steigt an manchen Stellen erschreckend hoch. Die Reise führt zum Sarkophag, dem steinernen Sarg des Reaktorgebäudes, auf den Friedhof der kontaminierten Maschinen und in den noch bestehenden Teil des Reaktors.
Damals, 1986, als der GAU geschah, arbeiteten hier 11.000 Menschen, heute nach dem Abschalten des Kernkraftwerks sind es immerhin noch 3.000 Angestellte, die hierher kommen. Sicherheitskräfte und Wissenschaftler in blauen Schutzanzügen. 15 Tage dauert ihre Schicht, die sie im düsteren Tschernobyl verbringen. Kindern ist der Zutritt zur Sperrzone grundsätzlich verboten.
Pripyat, die zweite Stadt in der Sperrzone, ist eine Geisterstadt. Gebaut für die Arbeiter des Kraftwerks, bestand sie nur 16 Jahre. 30.000 Menschen lebten hier. Vor 20 Jahren mussten sie von einer Sekunde auf die nächste alles stehen und liegen lassen. Pripyat ist schockgefrostet. Die leer stehenden, verfallenden Wohnungen verkauft die Reiseleiterin überschwänglich als Einblick in sowjetisches Leben. Im Kindergarten liegen neben Spielsachen Gasmasken. Es ist ein gruseliger Ort. Doch es leben auch noch Menschen in der Sperrzone. Alte, die hier geboren wurden und nach der Evakuierung zurückkamen. Sie wollen hier bleiben. „Sie haben uns alles genommen“, klagt eine zahnlose Bäuerin. „Die Kuh, das Haus, die Hühner. Was ist das Nächste. Die Luft?“, fragt sie.
„Tschernobyl, all inclusive“ zeigt den Verfall nach dem Super-GAU. Es ist ein Ausflug mit Grautönen, der nicht nur für Voyeure des Untergangs interessant ist. Geheimnisumwittert ist die Welt in der Sperrzone nicht. Es gibt keine roten Wälder oder Riesenfische. Dafür Melancholie, ganz alltäglich.
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