piwik no script img

Lieber Kleinkunst als Besetzung

KREUZBERG Die Besucher eines Straßentheater-Festivals zeigen sich von der Besetzung des angrenzenden Bethanien weitgehend unbeeindruckt. Nur der Lärm während der Räumung durch die Polizei stört etwas

Der Duft von Brathähnchen und Räucherstäbchen wabert über den Mariannenplatz in Kreuzberg, auf vier Bühnen treten Clowns, Magier und Jongleure auf, an den Ständen dazwischen gibt es Ethnokitsch zu kaufen. Das Kleinkunstfestival „Berlin lacht“ zieht viele Paare an, die Händchen halten, viele Kinder, die große Augen bekommen – und plötzlich auch schwarz gekleidete Autonome. Es ist Samstag, früher Abend, auf der Bühne vor dem Bethanien zeigt Virginia Davis gerade, dass eine Person ein Musikstück mit neun Musikinstrumenten gleichzeitig aufführen kann, darunter zwei Rasseln, zwei Flöten, und eine Ukulele. „Haut ab, haut ab!“, brüllt eine größere Menschenmenge plötzlich aggressiv von hinten. Und dann: „Keine Gewalt, keine Gewalt!“

Im Anschluss an die Demonstration „Wir zahlen nicht für eure Krise“ hatten ein paar hundert Teilnehmer unter dem Titel „Create Utopia“ gegen Verdrängung aus dem Kiez durch Mietsteigerungen sowie für mehr „Freiräume“ demonstriert – und kurzerhand den Nordflügel des Bethanien okkupiert, aus dem das Künstlerhaus gerade ausgezogen war. Sie kritisieren, das ehemalige Diakonissen-Krankenhaus – von Rio Reiser im „Rauch-Haus-Song“ besungen – stehe „von vornherein nur Vereinen offen, die in ihrem Bereich etabliert sind und viel Geld haben“, heißt es in einem im Internet veröffentlichten Schreiben. Man selbst wolle dagegen „einen Raum schaffen, in dem die finanziellen Möglichkeiten einer Person nicht über ihre Zugangschancen entscheiden“. Ihre Utopie: „Wir stellen uns ein selbst verwaltetes Stadtteilzentrum vor, das aus einer kollektiven Gemeinschaft verschiedener Projekte besteht, in denen alle vielfältig arbeiten können und die unterschiedlichsten Interessen und Schwerpunkten Raum bieten.“

Die Polizei beendet diesen Traum ganz schnell. Polizisten in voller Kampfmontur vertreiben die Besetzer, die sich lautstark wehren. „Could you be quiet please“, fordert Davis von der Bühne aus und versucht, sich nicht aus dem Konzept ihrer Show bringen zu lassen. Ihr Publikum dreht zwar ein paarmal den Kopf um in Richtung der Freiraumkämpfer. Aber als Virginia Davis zeigt, wie sie mit ihrer Stimme ein Glas zum Zerspringen bringen kann, schauen alle wieder gebannt zu ihr.

SEBASTIAN HEISER

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen