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Vom Wandel der Sozialarbeit

ENGAGEMENT Gespräch mit Werner Neske, Leiter eines Berliner Männerheimes

Für Menschen, die ganz unten sind, für die war keiner mehr zuständig, auch nicht der Bezirk. Im Gegenteil

VON GABRIELE GOETTLE

Werner Neske, Erzieher u. Sozialarbeiter, Leiter d. Männerheimes f. eh. Obdachlose in der Nostitzstraße, Berlin Kreuzberg. Zusammen mit d. 2003 verstorbenen Pfarrer d. ev. Kirchengemeinde Heilig Kreuz Passion, Joachim Ritzkowski, gründete er Anf. 1998 ein Wohnprojekt für Obdachlose, Ende 2000 ein Kulturzentrum f. Obdachlose und Arme i. d. Gitschinerstraße 15. Werner Neske wurde 1957 in Xanten a. Rhein geboren u. besuchte dort Volksschule u. Gymnasium. Mit 15 verließ er das Gymnasium und machte sich auf ins Leben. Sein Vater war Prokurist, d. Mutter Hausfrau.

Werner Neske empfängt uns in der Wohnung seines gastlichen Freundes, wir werden mit Tee bewirtet und können vom Küchenfenster aus hinunterschauen aufs Männerheim, dessen Anblick ihn ganz traurig macht.

„Davon später, ihr möchtet ja meine ganze Geschichte wissen. Also: Aus Xanthen bin ich mit 16 abgehauen und ging nach Münster. Dort landete ich in einer Studentenkommune mit 40 Studenten. 2 Jahre wohnte ich da und bin mit 18 nach Berlin und gleich ins besetzte Weisbecker-Haus eingezogen. Das war 1975. Damals gab’s in Berlin erst zwei besetze Häuser – mit den Hausbesetzungen ging es ja erst Ende der 70er Jahre los. Beide Häuser waren benannt nach zwei Leuten aus dem linken Spektrum, die von der Polizei im Rahmen von Fahndungen erschossen worden waren, Georg von Rauch 1971 – zwei Tage später wurde das leerstehende Schwesternheim des ehemaligen Bethanienkrankenhauses in Kreuzberg besetzt. Tommy Weisbecker wurde 1972 erschossen und das Weisbecker-Haus – auch in Kreuzberg – wurde 1973 besetzt. Beide Häuser machten selbst verwaltete Treberhilfe für entflohene Fürsorgezöglinge, und zwar in der Tradition der sog. Heimkampagne, die Ende der 60er Jahre von der APO und besonders auch von Ulrike Meinhof ins Leben gerufen worden war. Beide Häuser gibt es noch. Schräg gegenüber vom Weisbecker-Haus liegt heute übrigens die SPD-Parteizentrale.

Ich war damals einer von fünf Sozialarbeitern, wenn ich das mal so sagen darf. Wir waren nicht ausgebildet, aber wir kamen aus etwas stabileren, bürgerlichen Familienverhältnissen und wir fühlten uns verantwortlich für diese Jugendlichen, das waren Leute, die aus den damals noch geschlossenen Erziehungsanstalten abgehauen waren – die wurden erst Ende der 70er Jahre geöffnet, was ein Erfolg der Heimkampagne war. Also es waren Leute, die polizeilich gesucht wurden, auf der Straße lagen, Fixer, Stricher vom Bahnhof Zoo, ohne Schutz und Perspektive. Die waren so zwischen 12 und 17 Jahre alt. Alle Problemlagen dieser Welt waren da versammelt. Wir hatten den Anspruch, mit den Leuten allerhand kreativ zu unternehmen. Das sprach sich natürlich rum und immerzu kamen Leute. Es gab für jeden Neuzugang ein Plenum der Bewohner, und da wurde gemeinsam entschieden, klappt das mit dem oder nicht. Wir haben versucht, die Fixer- und die Rockerszene rauszuhalten. Kiffen und Alkohol – außer harte Sachen – das war okay, Heroin wurde nicht geduldet. Anfangs hatten wir keine staatliche Unterstützung, bis wir dann den eineinhalbfachen Regelsatz bekamen, den hat damals ein guter SPD-Mann, der Bürgermeister König, durchgesetzt, der war relativ unkonventionell. Wir wollten den Leuten eine Struktur bieten in ihrem Alltag und drängten sie, irgendwas zu machen. Sie haben beim ‚Sklavenhändler‘ für 35 Mark am Tag geschuftet und davon Geld in die Gemeinschaftskasse einbezahlt. Es war alles gemeinsam. Aber wir merkten, dass diese Arbeit keine Perspektive hatte, und hörten damit auf.

Dann kam eine Gruppe von etwa 8 Leuten von der Technischen Universität, das waren Architekten, Ingenieure und ihr Lehrer, Professor Haerting – er war, glaub ich, Soziologe. Die interessierten sich für diese deklassierten Jugendlichen. Sie haben dann mit uns zusammen überlegt, was man machen kann, und wir kamen auf die Idee, Arbeitskollektive zu gründen mit den Jugendlichen. Zuerst entstand das Tischlerei-Kollektiv in der Körtestraße. Wir haben es tatsächlich geschafft, eine Struktur in den Tagesablauf zu bringen, und zwar mit Arbeiten und Aufgaben, die Sinn machten, den Leuten Freude bereiteten und Geld einbrachten. Diese TU-Gruppe ist übrigens 10 bis 15 Jahre dabei geblieben! Nach dem Studium noch. Manche hatten auch ihr Studium abgebrochen und sind ganz bei uns eingestiegen, weil ihnen das besser gefiel. Das war ja damals noch die wilde Zeit, es gab Gemeinschaftszimmer, große Matratzenlager auf dem Boden, darauf schliefen dann 10 Leute und sie hatten es abends immer lustig. Gut, alles war ziemlich verkommen und runter. Schmutz war damals kein Problem, sondern eine selbstverständliche Provokation. Wir waren immer voll belegt. Auf dem Plenum wurden die Hausdienste eingeteilt: Klodienst, Küchendienst, Metro-Einkaufsdienst usw. Das Essen wurde gemeinschaftlich zubereitet und es wurde gemeinsam gegessen. In Schöneberg gab’s damals noch einen Bauern im Hinterhof, da haben wir kannenweise Milch geholt. Das mussten die Leute auch erst mal lernen, sich gesünder zu ernähren.

Und was dann sehr wichtig war, ein gravierender Einschnitt, der kam im Februar 1975, und zwar mit der Entführung von Peter Lorenz – Landesvorsitzender der CDU – durch Leute der ‚Bewegung 2. Juni‘. Damals kannte ja jeder jeden und viele waren auch mal bei uns zu Gast. Am Tag der Entführung gab’s einen brutalen Polizeieinsatz, eine Razzia mit ca. 150 Polizisten im Weisbecker-Haus. Das war die größte Razzia der Nachkriegszeit, die da zugleich bei 80 linken Projekten stattfand, im Polizeijargon hieß die ‚Aktion Wasserschlag‘. Sie haben das ganze Inventar kurz und klein geschlagen, die wenige Habe der Leute systematisch zerstört; wie im Rausch. Das war wirklich sehr bedrohlich. Ich habe gesehen, wie ein Polizist seine MP einem Kind an den Kopf gehalten und gesagt hat: ‚Dich knall ich jetzt ab, du Scheißhausratte!‘ Das war traumatisierend für alle. Es hat sich umgekehrt in Wut, besonders bei den Älteren, und daraus ist dann eine Radikalisierung entstanden. Ein Verhalten, das politisch wurde. Das war vorher nicht der Fall. Ab da ging’s geschlossen auf Demos. Sie waren interessiert an den Vorgängen in der Welt und in der Stadt.

Jedenfalls, das ganze Haus war demoliert und wir haben so halbwegs versucht, wieder wohnen zu können. Damals gab’s in Berlin eine tolle Senatorin, Ilse Reichel, von der SPD – sie ist leider schon lange tot, das hätte sie vielleicht gerne gelesen. So eine Politikerin gibt es gar nicht mehr! Sie jedenfalls hat unbürokratisch 10.000 Mark gegeben – das war damals sehr viel Geld. Damit konnten wir die Räume wieder instandsetzen und neu einrichten, sodass wir uns wieder unseren Arbeitskollektiven widmen konnten. Die hatte wirklich gesehen, dass dieser polizeiliche Übergriff unrechtmäßig war und uns vollkommen aus der Bahn geworfen hatte. Und Ende der 70er Jahre kam ja dann die Internationale Bau-Austellungs-Geschichte, und in deren Rahmen wurde das Haus – teils zusammen mit den Jugendlichen – über drei Jahre lang komplett saniert. Inklusive Fassade. Dann gab’s auch Ausbildungsmöglichkeiten im Weisbecker-Haus, unter der Anleitung des Sozialpädagogischen Institutes. Und im Tischlereikollektiv haben wir Fenster gebaut, und wir haben zum Beispiel solche Stövchen hergestellt aus Holz und Metall, die haben wir auf dem Flohmarkt verkauft. Wir konnten alle ganz gut leben mit unseren Einnahmen. 1979 hatte ich in der Abendschule meinen Realschulabschluss gemacht, und 1987 dachte ich, jetzt musst du mal eine Berufsausbildung ins Auge fassen. Ich habe die Erzieherfachschule und den Abschluss gemacht, neben der Arbeit.

Dann kam eine Episode in Hessen. Das ‚Beiserhaus‘ in Rengshausen, eine klassische Erziehungsanstalt der Diakonie mit langer Tradition. Ich arbeitete in einem Haus mit Jugendlichen aus Frankfurt und Berlin, es war eine Ausbildung angegliedert für Landwirtschaft, Holzverarbeitung, Malerei und anderes. Für mich war es spannend zu sehen, wie die Jugendlichen im Vergleich zum Weisbecker-Haus dort leben mussten. Es war natürlich viel autoritärer. Für die meisten war’s keine Perspektive, nur Verwahrung, trotz der Ausbildung, denn die machten sie zwangsweise und kein bisschen lustorientiert. Und spannend war für mich auch, dass in diesem Heim sozusagen die Anfänge der Heimkampagne der APO stattfanden, zu einer Zeit, als die Erziehungsanstalten noch hinter Mauern und Stacheldraht geschlossen waren. Ulrike Meinhof hatte sich das auch mal angesehen. Der Peter-Jürgen Boock war ja dort Zögling gewesen. Er und andere sind dann 1969 von Baader, Gudrun Ensslin und Thorwald Proll befreit worden, bzw. ihnen ist die Flucht gelungen, und sie wurden in Frankfurt versteckt, untergebracht und betreut. Und 18 Jahre später, als ich kam, da war es für den Heimleiter und diese uralt eingesessenen Angestellten immer noch was, von dem sie schwärmten, sie waren mit den Leuten der späteren ‚Baader-Meinhof-Bande‘ , der RAF-Prominenz, gut bekannt, jeder war angeblich mal mit denen essen, sie schmückten sich damit. Eine evangelische Einrichtung!

Nach Hessen bin ich wieder nach Berlin und habe mich dann über einen taz-Artikel in einem offenen Jugendzentrum in Neukölln beworben, bei der Tabea Kirchengemeinde. Dort war ich in einem Team, das relativ frei arbeiten durfte mit den 30 bis 40 arabischen, türkischen und deutschen Jugendlichen, alle so 18 bis 20 jährig, ein Drittel davon Mädels. Alle arbeitslos und schwierig. Wir sollten denen helfen und möglichst auch noch einen Job vermitteln, was natürlich aussichtslos war. Da war damals schon ein unheimliches Gewaltpotenzial vorhanden. Irre! Alle waren bewaffnet, Messer, Gaspistolen … Aber trotzdem muss ich sagen, es waren tolle Jugendliche! Ich hatte viele und lange Einzelgespräche, alle kamen aus kaputten, gestörten Familienverhältnissen. Jeder wollte Zuwendung, hatte eine Sehnsucht, aber es gab massenhaft Hindernisse. Alleine waren sie freundlich, empfindsam, aber in der Gruppe waren sie fürchterlich. Da hatte man keine Chance, mit denen irgendwas zu regeln. Es kam dann zu einem schlimmen Zwischenfall: Drei arabische Jugendliche hatten einen vietnamesischen Zigarettenhändler richtiggehend abgestochen. Er hatte sich gewehrt, als sie ihm Zigaretten und Geld abnehmen wollten. Das hätte ich denen nie zugetraut! Der arme Mann hat’s überlebt, ich habe ihn im Krankenhaus besucht, und dann bin ich ausgestiegen, unter diesen Bedingungen konnte ich da nicht weiterarbeiten.

Vertrauen zum Pfarrer

Dann gab’s eine taz-Annonce, in der hat der Pfarrer Joachim Ritzkowski einen Straßen-Sozialarbeiter für die Heilig-Kreuz-Kirche gesucht. Dort gab es zwei Pfarrer, einmal Ritzkowski, der sich der Obdachlosenarbeit gewidmet hatte, und seinen Kollegen Quandt, der sich sehr engagierte im Bereich Asyl. Die ergänzten sich prima. Er war so der Sponti, hätte aber die Arbeit ohne Quandt nie geschafft, der hat auch die andere Seite mit abgedeckt. Ich habe mich jedenfalls beworben und wurde genommen, obwohl es viele Bewerber gab. Aufgrund meiner Erfahrungen im Weisbecker-Haus übrigens. Wir fanden irgendwie gleich eine Ebene. Er war völlig überfordert und brauchte zur Unterstützung einen Straßensozialarbeiter im Kiez, und den hatte er in mir gefunden. Das war 1994. Damals, nach der Wende, hatte die Armut und Obdachlosigkeit in der Stadt stark zugenommen. Die Politik hat sich nicht gekümmert. Deshalb hatte Joachim im Winter 1989/90 eine Wärmestube für Obdachlose im Gemeindehaus gegründet. Ab 1995 war’s dann in der renovierten Heilig-Kreuz-Kirche, immer von Mitte Oktober bis kurz vor Ostern. Da gab’s Suppe, belegte Brote, Obst, Kuchen Kaffee, Tee. Und es gab Kleidung, Schuhe und auch Bücher zur freien Auswahl. Er selbst hat Kleidung und Suppe mit ausgeteilt – immer mit seiner Rüschenschürze um. Die Leute mochten ihn, obwohl er ein Intellektueller war mit Nickelbrille. Sie hatten Vertrauen zu ihm und er hatte nie Ekel oder Angst, er ging dazwischen, wenn Betrunkene Streit bekamen, war mit den krassesten Punks und ihren Hunden herzlich verbunden.

Als er mich eingestellt hatte, sind wir am selben Tag zur Wagenburg gefahren. Er hat die eingeladen in die Wärmestube. Das war schon noch ein bisschen extremer als das Weisbecker-Haus, was die Wohnverhältnisse und die Leute betraf. Dann hat Joachim mit mir eine Tour gemacht, Mehringdamm, Friedhof. Damals gab’s im Mehringdamm auf der Mittelinsel so einen stillgelegten U-Bahn-Eingang, wie eine Gruft so eng und feucht. Da lebten oder, man muss sagen, da vegetierten damals 6 bis 7 Leute. Eine Fixerin mit offenen Wunden, schwer krank und noch ein paar ältere schwere Alkoholiker. Die waren seine Gäste in der Wärmestube. Er hat mich denen vorgestellt, sehr höflich und formvollendet und gesagt, dass ich der Straßen-Sozialarbeiter bin und immer mal vorbeikommen werde. Falls was problematischer wird mit Gesundheit usw., dann sollen sie es mir mitteilen. Die Situation der Leute war erschütternd, sie waren schwer krank, stanken, die hatten ihre Maden an den offenen Beinen, die passten nirgendwo mehr hin. Selbst die Krankenhäuser haben die Aufnahme verweigert, obwohl Joachim mit dabei war! Viele von denen, die ich auf der Straße kennen gelernt habe, sind einfach so krepiert, zum Beispiel im Automaten-Waschsalon am Mehringdamm, 24 Stunden offen. Da haben sie nachts im Winter vor der Kälte Schutz gesucht, morgens war einer tot. Und dann gab’s am York-Kino seitlich so einen Abluftrost mit warmer Luft, da schliefen immer eng nebeneinander 3 bis 4 Leute. Und auch auf dem Friedhof war so eine Ecke, wo sie ‚wohnten‘. Es sind mindestens 15 Leute gestorben, in knapp zwei Jahren, auch jüngere.

Kulturzentrum für Arme

Für Menschen, die ganz unten sind, für die war keiner mehr zuständig, auch nicht der Bezirk. Im Gegenteil, der Bezirk hat dafür gesorgt, dass allmählich alle Nischen verschwanden, auch die Frauentoilette am Landwehrkanal, wo Manfred Lehmann lebte. Die Parkbänke wurden abgebaut, alle geheizten Klohäuschen, die im Winter ein Ort der Zuflucht waren, wurden für immer geschlossen. Wachschutzfirmen kontrollierten nachts die offenen Läden. Man wollte das Problem kosmetisch entfernen. Die Polizei griff Obdachlose auf, erteilte Platzverweis, brachte sie an den Stadtrand, setzte sie dort aus. Wir haben die Geschichten alle erzählt bekommen. Joachim hat übrigens 2001 ein sehr interessantes Buch darüber geschrieben: ‚Die Spinne auf der Haut‘.“ (Es ist eigentlich eine sehr schöne kleine sozial-und kulturanthropologische Studie der Obdachlosenszene. Anm. G.G.) „Er war umfassend gebildet, nicht nur theologisch, er hat Bücher geschrieben über Philosophie, über Musik, über Kunst, hat Geige gespielt, gemalt. Und er wollte, dass auch die Leute ihre Gaben entdecken und entwickeln können, deshalb haben wir im Jahr 2000 das Kulturzentrum für Obdachlose und Arme in einem schönen alten Fabrikgebäude, Gitschinerstraße 15, gegründet. Es gibt ein Café, Ateliers, Musikräume, Fahrrad- und Holzwerkstatt, Musiktherapie, Sozialberatung. Wochentags ganztägig geöffnet und kostenlos. Da würde mancher staunen, was in den Leuten steckt, was da für wunderbare Kunstwerke entstanden sind, wie sie im Gospelchor singen. Ich war – und bin noch – verantwortlicher Leiter für dieses Zentrum, das jetzt leider finanziell total gefährdet ist. Und ich habe auch in der Wärmestube mitgearbeitet, Beratungen gemacht – ich hatte mit Joachim das Büro zusammen – und versucht, Jobs zu vermitteln oder auch Papiere und Sozialhilfe zu organisieren. Das habe ich zwei Jahre gemacht, die Stelle wurde vom Bezirk finanziert und lief dann aber aus.

Ich hatte damals den Plan, zusammen mit zwei Kollegen, eine Unterkunft für Obdachlose zu gründen. Als Joachim aus dem Urlaub zurückkam, erzählte ich ihm davon, er war ganz begeistert und sagte: Das machen wir zusammen, und zwar in unserem ehemaligen Gemeindehaus! Das war 1997. Es ging dann alles ganz schnell. Wir gingen zur Stadträtin für Soziales, Junge-Reyer, dort haben wir die Idee vorgetragen, und wir bekamen die Zusage, man finanziert meine Stelle noch für ein weiteres Jahr, unter der Voraussetzung, dass danach die Gemeinde mir eine feste Stelle gibt. Dann haben wir losgelegt, ich zusammen mit ein paar Kumpels. Wir haben renoviert, umgebaut, das Sanitäre reingebaut, die Riesenräume in Zimmer unterteilt – ich habe selbst die Wände hochgezogen. Alles haben wir in Eigenarbeit gemacht, bis auf die Elektrik. Am Ende wurde das problemlos abgenommen und zugelassen von der Behörde und von der Feuerwehr. Dann haben wir zusammen mit der Stadträtin und dem Amtsleiter die Tagessätze ausgehandelt für die zukünftigen Bewohner, das waren damals 70 DM pro Person. Peter – den ihr ja noch kennt von eurer Armutsreportage damals –, der war der Erste im Haus. Er lebte im Sommer auf dem Friedhof an der Bergmannstraße und war todkrank. Es hat uns viel Überredung gekostet, ihn in unser Haus zu bitten. Er bekam ein kleines Einzelzimmer, aber anfangs fiel ihm das Wohnen und Im-Bett-schlafen furchtbar schwer. Mit der Zeit fand er Gefallen daran und hat noch lange Zeit gelebt. Unlängst ist er leider gestorben, im Juni wird er beigesetzt in unserer Grabstelle.

Ich war erst mal der einzige Betreuer. Es wurde schnell voller. Anfangs habe ich auch im Haus geschlafen, damit jemand da ist zur Not und nichts anbrennt. Die haben ja alle geraucht und gesoffen. Das war übrigens in allen anderen Obdachloseneinrichtungen streng reglementiert, rauchen nur in den Aufenthaltsräumen, strenges Alkoholverbot. Unser Konzept war von Anfang an ein anderes. Wir sagten, wir nehmen die Leute auf, die keiner mehr will. Wir sehen die nicht als Fall, wir arbeiten nicht mit Maßnahmen. Wir wollen keine Hausordnung, wir akzeptieren die Leute so, wie sie sind. Wir nehmen sie auf ohne jegliche Vorbedingung. Das ist unser Beheimatungskonzept gewesen. Allerdings, drei Dinge waren doch verboten: Gewalt, Schnaps und harte Drogen. Das war notwendig für ein friedliches Zusammenleben. Bier und Wein, Kiffen, Frauenbesuch, das war kein Problem für uns. Peter zum Beispiel, der wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, vollkommen in Ruhe. Wenn du 20 Jahre unterm Bauwagen und unterm Busch geschlafen hast, dann willst du nicht, dass man an dir rumkorrigiert und dich bevormundet. Aber mit der Zeit hat er sich von Eva richtig pflegen lassen, und man konnte sehen, dass bei ihm wirklich eine Heilung stattfand. Aber wir haben es nicht erzwungen. Jeder konnte machen, was er wollte, wir sagten: Du kannst duschen, musst aber nicht. Du kannst auch stinken. Hier gibt es ein Frühstück, es gibt ein Essen, du musst aber nicht erscheinen zum Essen. Auch etwas arbeiten war möglich. Im ehemaligen Kirchensaal haben wir dann eine Trödelhalle eingerichtet, wir trödelten mit gespendeten Sachen, es war auch so eine Art Begegnungszentrum zwischen den Anwohnern und unseren Bewohnern. Wer wollte, konnte da ein bisschen Sachen sortieren, was reparieren, Sachen verkaufen oder einfach nur Karten spielen, rauchen und reden. Das war ein toller Raum für Begegnungen. Vom Geld, das wir eingenommen haben, wurden gemeinsame Urlaubsreisen zur Ostsee gemacht. Wir haben ein Haus gemietet und es uns gut gehen lassen. Für viele war eine Ferienreise vollkommen neu!

Ich hatte dann über ABM-Maßnahmen 10 Mitarbeiter bekommen. Und das Wichtigste: Ich habe zwei Krankenpfleger eingestellt, das gab’s sonst nirgends, war aber dringend notwendig bei dem schlechten körperlichen Zustand der Bewohner. Für die meisten neuen Kollegen war unsere Freizügigkeit natürlich gewöhnungsbedürftig. Aber Joachim und ich haben es immer wieder erklärt, weshalb wir es anders machen, uns an den Bedürfnissen der Leute orientieren und nicht umgekehrt. Sie haben es verstanden und mit uns zusammen umgesetzt. Und diese zehn Leute, die sind heute noch da, das waren alles irgendwie so engagierte Spätachtundsechziger. Wir haben es jedenfalls als Team miteinander geschafft! Auch weil für uns Hierarchie und Machtgehabe kein Thema war. Wir hatten idealistische Motive, haben nicht auf die Uhr geschaut, sind zusammen in die Kneipe gegangen, das war noch so die alte Sozialarbeitergeneration. Auch Achim war noch vom alten Schlag, nicht autoritär, kein Technokrat, kein Bürokrat. Die Rationalisierung und Ökonomisierung der Sozialarbeit, das Beharren auf Effizienz, so wie sie sich heute breitmachen, das wäre ihm ein Gräuel gewesen.

Und dann sind natürlich Leute gestorben, vor allem von denen, die in die Wärmestube kamen. Joachim hat sich immer sehr aufgeregt über dieses anonyme und spurlose Verscharren der Obdachlosen auf irgendwelchen Urnenfeldern. Er fand diese ‚ordnungsbehördlich angeordneten Beisetzungen‘ barbarisch und wollte das ändern innerhalb seiner kleinen Möglichkeiten. 2002 bekam er von der Friedhofsverwaltung der Friedhöfe vor dem Halleschen Tor eine große alte Familiengrabstelle kostenlos zur Verfügung gestellt, lediglich mit der Auflage, sie restaurieren zu lassen. Da sind richtig altehrwürdige Gräber, dort liegen berühmte Leute wie zum Beispiel Chamisso, Rahel Varnhagen, Henriette Herz, die Nachfahren von Moses Mendelssohn, auch sein Enkel Felix Mendelssohn-Bartholdy. Unser ‚Grab mit vielen Namen‘ befindet sich direkt an der Kirchhofmauer zur Zossener Straße, ist aus schwarzem Marmor und hat Platz für 40 Urnen. Heute ist es fast voll, alle Namen wurden mit goldener Schrift auf den Marmorplatten angebracht, dazwischen auch der von Joachim Ritzkowski, der 2003 elendiglich an Krebs gestorben ist. Das war ein enormer Schlag für uns. Bis zum Tod war er ein Teil des Teams, unersetzlich!!! Sein Nachfolger, Pfarrer Storck, der in der letzten Phase seiner Krankheit kam, also das war eine vollkommen andere Ebene … Ja, und ein Problem für uns war dann, es gab nun keinen Pfarrer mehr, der unsere Probleme in die Gemeinde reinträgt, so wie Joachim das immer getan hatte. Die Gemeinde ist der Träger, da muss es gute Zusammenarbeit geben, sonst geht alles den Bach runter.

2009 fingen die Probleme massiv an. Unser Haus sollte eine Komplettsanierung bekommen, es gab EU-Fördermittel, fast eine Million Euro, und ein Kredit wurde aufgenommen. Klar war, alle müssen ausziehen! Ich war dagegen. Leute, die nach langen Jahren endlich sesshaft und chronisch krank sind, die darf man nicht einfach aus ihrer Heimat rausreißen. Ich hatte ein eigenes Konzept, wollte, dass Stück für Stück saniert wird, wie wir es schon mal praktiziert hatten. Dann hätte es natürlich keine Fördermittel gegeben. Aber die Kirche wollte die Fördermittel unbedingt. Wir sind dann in ein völlig desolates ehemaliges Pflegeheim nach Charlottenburg umgezogen. In einen fremden Kiez, mit 45 Leuten, ihren Ängsten und Krankheiten. Es war ein Albtraum! Die Sanierung hat sich hingezogen, die Gemeinde wollte dann aus Kostengründen, dass wir zurückkommen, obwohl wir praktisch auf eine Baustelle ziehen mussten. Presslufthämmern, Dreck, Lärm den ganzen Tag. Die Mitarbeiter haben sich bei mir beschwert. Unter all dem Stress wurden Leute, denen es vorher recht gut ging, bettlägerig. Der Druck auf uns alle war irre. Es war wie im Krieg!

Ende einer Epoche

Und da habe ich einen schweren Herzinfarkt gekriegt. Im Büro. Es kam Krankenhaus, Stents, Reha. Als ich zurückkam, ging das Drama dann richtig los. Ich hatte ein Gespräch mit dem Pfarrer Storck, und der behauptete, wir hätten zwei Jahre lang Defizite gemacht, er müsse deshalb die Gehälter der Mitarbeiter um bis zu 25 % kürzen, entsprechend die Stunden, was zur Versorgung der Bewohner gar nicht mehr gereicht hätte. Es zählte nur noch das betriebswirtschaftliche Kalkül. Ich selbst war nicht von der Kürzung betroffen, hab mich aber sofort auf die Seite meiner Mitarbeiter gestellt. Wir haben uns natürlich gerichtlich gewehrt und bekamen dann auch recht. Ein Wirtschaftsprüfer stellte fest, unser Projekt ist nicht defizitär! Wir waren sehr empört über diese destruktive Haltung uns gegenüber. Ich, das Team, unser Buchhalter, wir haben uns immer sehr bemüht, wirtschaftlich zu arbeiten, hatten Überschüsse und Rücklagen gebildet, haben dafür gesorgt, dass die Gemeinde finanziell nicht belastet wird. Das wurde uns aber nicht gedankt, im Gegenteil. Weil’s im Haushalt der Gemeinde ein Defizit gab, haben sie Gelder von uns – also bedarfsgebundene, öffentliche Gelder aus der Obdachlosenarbeit – einfach entnommen und zweckentfremdet benutzt, und zwar um ihren eigenen Jahresabschluss auszugleichen! Das hat sogar der kircheninterne Rechnungshof kritisiert. Und das waren nicht die einzigen Abzweigungen, nach genauen und belegbaren Berechnungen unseres Buchhalters geht es insgesamt um einen hohen sechsstelligen Betrag! Das wird natürlich von der Gegenseite geleugnet.

Und dann ging es Schlag auf Schlag. Weil ich mich hilfesuchend an die Generalsuperintendentin und andere gewandt hatte, habe ich die Hierarchie verletzt, habe grob illoyal gehandelt, und dafür kommt man in die Hölle! Erst recht, wenn man sich dann auch noch erdreistet zu sagen: ‚Die Gemeindeleitung hat unser Obdachlosenprojekt ausgenommen wie eine Gans.‘ Eine Woche später bekam ich drei Abmahnungen, und dann kam noch ein Brief vom Rechtsanwalt mit einer Verdachtskündigung, die wurde dann auf Betreiben meines Anwalts Benedikt Hopmann – ein ganz toller Anwalt für Sozialrecht übrigens – wieder zurückgenommen. Es war reine Schikane. Das war eine solche Demütigung, eine solche Geringschätzung meiner, unserer Arbeit, dass ich fast einen zweiten Infarkt bekommen hätte. Seitdem bin ich arbeitsunfähig. Mein stellvertretender Heimleiter, ein freundlicher und harmloser Mensch, erlaubte sich, Kritik zu üben, bekam eine Abmahnung und zwei Tage nach Weihnachten die fristlose Kündigung. Dazu Hausverbot. Er konnte sich nicht mal mehr von den Bewohnern verabschieden. Unser Buchhalter, der mittlerweile in Rente ist, ebenfalls Hausverbot. Das muss man sich mal vorstellen! Und der nächste Schlag: Über Dritte habe ich erfahren, dass ein von außen kommender neuer Heimleiter eingesetzt wurde, nicht etwa ein Stellvertreter! Es deutet alles darauf hin, dass man mich loswerden will, dass man das ganze Projekt loswerden will. Der Übergang zum Diakonischen Werk ist schon dreimal verschoben worden.

Ich gehe natürlich gerichtlich gegen all diese Attacken vor, aber das ist mühsam, langwierig und traurig. Es gäbe bei Gott Wichtigeres zu tun! Unlängst habe ich recht bekommen, die Richterin wertete meinen Vergleich mit der ‚ausgenommenen Gans‘ als Meinungsbehauptung, die erlaubt ist. Die Gemeindeleitung wurde dazu verurteilt, die Abmahnung zurückzunehmen und aus ihren Akten zu tilgen. Mein Antrag auf die alleinige Heimleitung kam nicht durch, ich gehe aber in Revision. Auch mein gekündigter Stellvertreter hat vor Gericht gewonnen, wurde danach aber derart schlecht behandelt, dass auch er jetzt krank ist. Das ist die Situation, in der sich das Projekt befindet, in der ich mich befinde. Da geht eine Epoche zu Ende! Die Hauptleidtragenden sind die verunsicherten Männer. Also, wenn mir heute jemand ein Haus zur Verfügung stellen würde, dann würde ich mich selbstständig machen. Andererseits möchte ich um die Nostitzstraße kämpfen und nicht einfach so das Feld räumen, das Joachim Ritzkowski, ich und das Team so lange Zeit über mit viel Liebe, Idealismus und verantwortungsvoller Arbeit bestellt haben.“

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