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Becks Stammtisch

Kann ein Spitzenpolitiker, der im Kleinen so versagt, im Großen die richtige Politik machen?Beck ist vielleicht der richtige Chef für die SPD von heute – aber mit Sicherheit der falsche für das Programm von morgen

Von JENS KÖNIG

Für Kurt Beck ist der Fall erledigt. Henrico Frank, der Arbeitslose aus Wiesbaden, der den Politiker Mitte Dezember auf einem Weihnachtsmarkt angepöbelt und für sein Hartz-IV-Schicksal verantwortlich gemacht hat, ist immer noch arbeitslos. Und er, Kurt Beck, ist immer noch SPD-Vorsitzender und rheinland-pfälzischer Ministerpräsident.

Dass Beck den Arbeitslosen in der ersten Erregung beleidigt und ihm geraten hatte, sich zu waschen und zu rasieren, dann würde er schon einen Job finden? Dass Beck ihm zur Schadensbegrenzung anschließend mehrere Arbeitsangebote besorgte und durch Mitarbeiter seiner Staatskanzlei in dessen Briefkasten stecken ließ? Hat dem Spitzenpolitiker nicht geschadet, im Gegenteil. In der SPD-Zentrale ging massenhaft zustimmende Post ein. Auf dem schmierigen Boulevard erledigten sogenannte Journalisten den Rest.

Dass Henrico Frank fortan nur noch eine übereifrige Hartz-IV-Aktivistin für sich sprechen ließ? Dass Frank einen Termin in Becks Staatskanzlei absagte und die Jobangebote ablehnte? Dass er seine frisch geschnittenen Haare und seinen abrasierten Bart inzwischen wieder wachsen lässt? Hat seinen unfreiwillig erlangten Ruf als „faulster Arbeitsloser Deutschlands“ (Bild) auf unabsehbare Zeit gefestigt.

So einfach kann es zugehen in diesem Land. Der sozialdemokratische Parteivorsitzende hat das umstandslos ausgenutzt und in einem Interview kurz nach Weihnachten ein bedrückend schonungsloses Resümee zum „Fall Henrico Frank“ zu Protokoll gegeben: „Ich werde es mir auch in Zukunft nicht nehmen lassen, so zu reden, wie ich es für richtig halte. Ich habe auf einen einzelnen Menschen spontan reagiert, der ein paar Schritte von mir entfernt stand, den ich gesehen und gerochen habe. Die ganze Geschichte dauerte 20 Sekunden.“

20 Sekunden, die über den Politiker Kurt Beck mehr aussagen als ihm lieb sein dürfte.

Dabei ist es noch verzeihlich, dass ihm angesichts der Pöbeleien eines angetrunkenen Arbeitslosen für einen kurzen Moment die Sicherungen durchgebrannt sind. Hätte er sich für seine taktlose, ressentimentgeladene Äußerung entschuldigt – die Angelegenheit hätte man getrost vergessen können. Was viel schwerer wiegt: Beck hat auch nach seiner Erregung nicht erkannt, dass ein seit langem arbeitsloser, verzweifelter, entwurzelter Mann nicht einfach so in ein bürgerliches Leben zurückgeholt werden kann, indem man ihm ein paar Arbeitsangebote in den Briefkasten steckt. Solche Menschen brauchen eine viel grundsätzlichere, professionelle Hilfe für ihr Leben, die etwas kostet, das mit Geld nicht zu bezahlen ist: Zeit, Geduld, Hartnäckigkeit.

Vielleicht wollte Kurt Beck dem Arbeitslosen Henrico Frank ja wirklich helfen. Warum gerade er als sozialdemokratischer Parteivorsitzender sich dabei aufführte wie ein neofeudaler Provinzfürst, muss er mit sich selbst ausmachen. Ein Skandal aber bleibt es, dass er, der Stärkere, an einem so viel Schwächeren ein Exempel statuierte: Seht her, die Arbeitslosen wollen ja gar nicht arbeiten, und benehmen können sie sich auch nicht. Das darf man getrost als Becks persönlichen Lösungsvorschlag zur Unterschichtenproblematik interpretieren, von der er ja (rätselhafterweise) behauptet, sie auf die politische Agenda gehoben zu haben.

Gerade weil der SPD-Vorsitzende den „Fall Henrico Frank“ so einfach erledigt hat, darf man auch ein paar einfache Fragen stellen: Kann ein Spitzenpolitiker, der im Kleinen so versagt, im Großen die richtige Politik machen? Kann jemand, der sich gegenüber einem einzelnen Dauerarbeitslosen derart zynisch verhält, einen wirksamen Beitrag zur Lösung eines der größten Probleme unserer westlichen Gesellschaften leisten: der dauerhaften sozialen Ausgrenzung von Millionen von Menschen? Kann so ein Parteichef das neue Grundsatzprogramm seiner Partei glaubhaft vertreten, ein Papier, das eine Art sozialdemokratisches Glaubensbekenntnis des 21. Jahrhunderts darstellt und in dem auf Seite 11 der Satz steht „Die Würde des Menschen ist unabhängig von seiner Leistung und seiner wirtschaftlichen Nützlichkeit“?

Die Fragen sind umso berechtigter, als Kurt Beck ja alles andere als einen Einzelfall darstellt. Die Liste der Politiker, die sich herablassend oder beleidigend über das Schicksal arbeitsloser und armer Menschen ausgelassen haben, ist lang; auch und vor allem der Politiker mit sozialdemokratischem Parteibuch. Schröder sprach den Arbeitslosen das „Recht auf Faulheit“ ab, Clement bezeichnete Hartz-IV-Empfänger als „Parasiten“, Struck gab wegen des angeblich massenhaften Sozialbetrugs zu Protokoll, das „Menschenbild“, welches die rot-grüne Regierung bei Einführung der Hartz-Reformen hatte, sei „vielleicht zu positiv“ gewesen.

Wir sind Zeuge einer aufschlussreichen Merkwürdigkeit: Je offensichtlicher die Gesellschaft sich wieder in Gewinner und Verlierer teilt, desto mehr schließen die Parteien ihre Reihen, auch in Bezug auf die Herkunft ihres Personals. Politik in Deutschland ist heute fast ausschließlich eine Veranstaltung der Mittelschicht. Das hat dramatische Folgen. Die Bertelsmann-Stiftung legte im Dezember 2006 eine repräsentative Studie über die Einstellung deutscher Parlamentarier zur sozialen Gerechtigkeit in Deutschland vor. Eines ihrer wichtigsten Ergebnisse: Die Politiker halten die Bundesrepublik für gerechter als die Bürger. Während die Abgeordneten des Bundestages und der Landtage mehrheitlich davon überzeugt sind, dass Einkommen und Vermögen in Deutschland im Großen und Ganzen gerecht verteilt sind (60 Prozent), empfindet dies nur weniger als ein Drittel der Bevölkerung (28 Prozent).

Die Frage nach Kurt Becks Versagen im Kleinen und seiner Politik im Großen stellt sich noch aus einem anderen, aktuellen Grund: Am Sonntag wird der SPD-Chef in Bremen vor der Presse feiern, dass sich der Vorstand seiner Partei nach langen Jahren der Diskussion endlich auf den Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm geeinigt hat. Beschlossen werden soll das fertige Programm auf dem Hamburger Parteitag im Oktober 2007.

Eines der zentralen Elemente dieses Papiers ist die Ausformulierung der Idee vom vorsorgenden Sozialstaat – „das Leitbild unserer Sozialpolitik für das 21. Jahrhundert“, wie es im „Bremer Entwurf“ heißt. „Er befähigt die Menschen, ihr Leben selbst bestimmt zu meistern, in dem er aktivierende, präventive und investive Ziele in den Mittelpunkt stellt. Er fördert Existenz sichernde Erwerbsarbeit, hilft bei der Erziehung, setzt auf Gesundheitsprävention und verhindert Armut.“ Das ist ein mehr als ehrgeiziges Ziel – aber wozu sonst sollte ein Parteiprogramm gut sein. Beantwortet es also auch die Frage, wie Menschen wie Henrico Frank geholfen werden kann?

Nein. Und ja. Die Sozialdemokraten setzen auf Gerechtigkeit als einer Verbindung von Gleichheit und Freiheit. „Jeder Mensch trägt Verantwortung für sein Leben“, schreiben die Programmmacher. „Unser Verständnis von Politik widerspricht jedem Allmachtsanspruch über die Menschen. Wenn Politik selbst Glück und Erfüllung verspricht, läuft sie Gefahr in totalitärer Herrschaft abzugleiten.“ Aber den Rahmen setzen für eine Politik sozialer Gerechtigkeit, die auch entwurzelten Dauerarbeitslosen wie Henrico Frank hilft, das wollen die Sozialdemokraten schon, und sie sagen auch, warum. „Menschen sind verschieden. Aber natürliche Ungleichheiten und soziale Herkunftsunterschiede dürfen nicht zum sozialen Schicksal werden … Gerechte Politik gewährleistet, dass jeder Mensch, ganz gleich was er leisten kann, frei von Not leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann.“ Na bitte.

Der SPD-Programm ist in der sozialen Frage fachlich-theoretisch auf der Höhe der Zeit. Es nimmt Abschied vom alten, eher nachsorgenden Sozialstaat. Das ist notwendig, gibt doch dieser alte Sozialstaat heute weder hinreichende Antworten auf die moderne Armut und die Unterschichtenproblematik noch auf die Bedürfnisse der verunsicherten Mittelschicht. Er taugte nur für die Wirklichkeit national begrenzter Industriegesellschaften, in denen die Männer für das Familieneinkommen zuständig waren. Er verstand Sozialpolitik vor allem als Sozialversicherungspolitik. Er orientierte sich am Rentner und nicht am Schüler. Er versuchte, Ungerechtigkeiten durch finanzielle Transfers auszugleichen. Und so ist der vorsorgende Sozialstaat im „Bremer Entwurf“ als eine intelligente Mischung sehr verschiedener Politikfelder skizziert: Wirtschaft und Finanzen, Bildung, Familie, Gleichstellung, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Integration von Einwanderern. „Dabei überwindet der vorsorgende Sozialstaat gängiges Ressortdenken.“

Auch wenn Papier geduldig und ein Grundsatzprogramm noch lange keine Politik ist; auch wenn die SPD mit dem „Bremer Entwurf“ nicht ganz den Verdacht ausräumen kann, er bedeute nur die Fortsetzung ihres Agenda-Kurses unter veränderten Vorzeichen; auch wenn sich „Teilhabegerechtigkeit“ oft wie der Abschied von „Verteilungsgerechtigkeit“ liest – dieses Programm ist klüger als Kurt Beck. Es ist wohl kein Zufall, dass seine Grundgedanken eher an Matthias Platzeck erinnern als an seinen Nachfolger im SPD-Vorsitz.

So zufällig die Begegnung Kurt Becks mit dem Arbeitslosen Henrico Frank auch war, so unerfreulich sie auch ausging, die Republik sollte dankbar für diesen Zufall sein. Sie hat in 20 Sekunden lernen können, dass Beck möglicherweise der richtige Vorsitzende für die SPD von heute ist – aber mit ziemlicher Sicherheit der falsche Vorsitzende für das sozialdemokratische Programm von morgen.

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