„Ich bin besorgt um kleinere jüdische Gemeinden“

PROTEST Bei der Demo setzt Sergey Lagodinsky von der Jüdischen Gemeinde Berlin auf die Polizei

■ 38, Jurist und Publizist, ist Repräsentant der Jüdischen Gemeinde Berlin. Er promovierte über Meinungsfreiheit und Schutz vor antisemitischen Äußerungen.

taz: Herr Lagodinsky, an diesem Freitag findet in Berlin die Al-Quds-Demonstration statt. Beunruhigt Sie das?

Sergey Lagodinsky: Es ist immer beunruhigend, wenn Menschenmassen Intoleranz predigen. Aber diese Demonstration findet ja jedes Jahr statt und die Verbindungen zur Hisbollah sind allgemein bekannt. Insofern bin ich einfach gespannt, wie es abläuft.

Rechnen Sie damit, dass die Veranstaltung eskaliert?

Ich glaube, dass die Berliner Polizei, gerade nach der Kritik in den vergangenen Wochen, sich ihrer Herausforderung sehr bewusst ist. Ich bin zuversichtlich, dass die Polizei es ermöglicht, keinen rechtsfreien Raum zuzulassen.

Meinen Sie, dass alle, die sich an der Al-Quds-Demo beteiligen, antisemitisch sind?

In der Vergangenheit wurde häufig zur Zerstörung Israels aufgerufen, antisemitische Slogans wurden skandiert. Unsere Erfahrung mit dieser Al-Quds-Kundgebung lassen nicht viel Differenziertheit erwarten.

Die Polizei hat nun Auflagen erteilt, dass bestimmte Sprüche nicht mehr skandiert werden dürfen. „Kindermörder Israel“ ist aber noch zulässig.

Als Jurist kann ich nachvollziehen, dass ein Rechtsstaat solche Verbote nur in Abwägung mit der Meinungsfreiheit ausspricht. Volksverhetzende Sprüche und Holocaustleugnung sind ja klar verboten, aber andere bewegen sich an der Grenze.

Geht es eigentlich um einen muslimischen Antisemitismus?

Ich halte nichts von diesem Begriff, weil er polarisiert. Der Nahostkonflikt ist kein religiöser, sondern ein politischer Konflikt.

Wie fühlen Sie sich persönlich?

Ich bin schon besorgt, vor allem was kleine jüdische Gemeinden in kleineren Städten anbelangt. Aber die Lage mit 1933 oder 1938 zu vergleichen, ist überzogen. Ich sehe die Lage auch als Ansporn: Ich setze auf einen jüdisch-muslimischen Dialog, auf gegenseitige Solidarität. Aber um der Verunsicherung der jüdischen Bevölkerung entgegenzuwirken, braucht es politische Signale.

Welche?

Es gibt heute einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, dass Antisemitismus nichts auf deutschen Straßen zu suchen hat. Nur deswegen haben sich Juden hier ja wieder niedergelassen – 90 Prozent der Juden hier sind Migranten. Insofern teilen wir ja auch die migrantische Erfahrung mit denen, die jetzt auf der anderen Seite der Straße marschieren. Ich möchte lieber auf Gemeinsamkeiten schauen.

Hat der Antisemitismus eine neue Dimension erreicht?

Die gewalttätige Aufladung dieser Demos in Deutschland ist neu, sie stellen den gesamtgesellschaftlichen Konsens der Nachkriegszeit auf die Probe. Wie es nun weitergeht, ist eine Frage, die sich explizit an alle Deutschen richtet. Die Menschen, die hier für Palästina protestieren, sind überwiegend Deutsche.

Es wird zwei Gegendemonstrationen geben. Sind Sie dabei?

Ich beteilige mich an der Demonstration gegen Antisemitismus und Antizionismus. Dort werde ich auch sprechen. Wir erwarten vor dem Hintergrund der letzten Wochen eine höhere Beteiligung von Menschen, die ihre Solidarität zeigen wollen. Es geht dabei nicht um die Solidarität mit der israelischen Regierung, sondern darum, die Freiheit und Vielfalt hier zu verteidigen. Ich möchte, dass sich alle, Juden, Muslime und alle anderen, zusammenschließen und sich gegen Hass und Intoleranz aussprechen. INTERVIEW: JAK