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■ Was ist soziale Gerechtigkeit? In der aktuellen Debatte hat die Legitimation von sozialer Ungleichheit wieder KonjunkturMan trägt wieder Pelz

Die Frage ist: Wieviel soziale Ungleichheit will sich eine Gesellschaft leisten?

In der Auseinandersetzung um die Definition von sozialer Gerechtigkeit wird zunehmend der diskrete Charme der sozialen Distanz entdeckt. „Mehr Ungleichheit in den Ergebnissen“ zuzulassen ist eine „Form wohlverstandener Gerechtigkeit“ verlautbarte der Spiegel vor ein paar Wochen. „Soziale Gerechtigkeit darf nicht mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt“ werden, fordern auch Gerhard Schröder und Tony Blair. Laut Wirtschaftsminister Müller lebt „eine Gesellschaft dynamischer, wenn es Ungleichheiten gibt“. Wer solche Parteifreunde hat, braucht keine neoliberalen Feinde mehr.

Man trägt wieder Pelz. Macht die Reichen reicher und die Armen ärmer, dann klappt's auch mit der wirtschaftlichen Belebung und den neuen Arbeitsplätzen. Gleichheit im Ergebnis? Die geforderte Abkehr von einem solchen Gerechtigkeitsverständnis suggeriert, in der Vergangenheit hätte es hier zumindest ansatzweise eine egalitäre Verteilung gegeben. Im Vergleich zu dieser gewagten Annahme scheint selbst die These vom historisch zwangsläufigen Zusammenbruch des Kapitalismus und andere sozialistische Irrtümer vor Realitätssinn zu strotzen. Denn die Realität der Verteilung von Einkommen und Vermögen ist durch eine extreme Polarisierung gekennzeichnet.

Zugegeben: Selbst bei einer radikal veränderten gesellschaftlichen Organisation der Erwerbsarbeit wird nicht jede Arbeitsstelle ein Ort der Selbstverwirklichung und des Vergnügens sein. Insofern erscheinen materielle Anreize in Form von Einkommensunterschieden sinnvoll, als Honorar für in Kauf genommene Mühe und Belastungen. Die entscheidende Frage ist jedoch, welches Ausmaß an sozialer Ungleichheit sich eine Gesellschaft leisten kann und leisten will: Die reichsten 5 Prozent der Haushalte besitzen heute 40 Prozent des Geldvermögens von aktuell 5,7 Billionen Mark, während auf die ärmeren 80 Prozent der Haushalte gerade einmal 25 Prozent entfallen. Während die Sozialhilfe für den gesamten Lebensunterhalt einer Sechsjährigen einen Regelsatz von 273 Mark im Monat gewährt, steht dem Haushalt eines Selbstständigen pro Kopf vom Säugling bis zur Oma monatlich 7.550 Mark an ausgabefähigem Einkommen zu Verfügung. 28-mal mehr. Monat für Monat. Und das, obwohl die Verteilungsstatistik die Kioskbesitzerin und die Milliardärsfamilie Oetker im Topf „Selbstständige“ zusammenrührt. Geht's nicht auch eine Nummer kleiner, reicht nicht auch eine Ungleichheit um Faktor zwei, fünf oder zehn?

Die extrem polarisierte Verteilung von Einkommen und Vermögen lässt sich weder mit dem meritokratischen Ansatz – „man hat, was man aufgrund seiner individuellen Leistung verdient“ – noch mit der neoliberalen These rechtfertigen, nach der soziale Ungleichheit funktional für wirtschaftliche Prosperität ist. Funktional, weil soziale Ungleichheit die für wirtschaftliche Effizienz notwendigen Leistungsanreize schafft. Leistet ein Vorstandsmitglied der Metro-Handels-AG tatsächlich so viel mehr, dass er mit 200.000 Mark das 61-fache des Monatsgehalts einer Einzelhandelskauffrau verdient, die auch noch am Samstagnachmittag Kunden bedienen soll?

Der Kausalzusammenhang zwischen Leistung und Wohlstandsposition wird vollends zur Fiktion, wenn die leistungslosen Einkommen aus Besitztiteln an Geldvermögen und Produktivkapital betrachtet werden. Nichts leisten, aber viel besitzen lohnt sich offensichtlich am meisten. Nicht jeder ist seines Glückes Schmied, wenn einer die Schmiede erbt und der andere am Amboss rackern muss.

Auch die unterstellte Funktionalität sozialer Ungleichheit für den gesamtwirtschaftlichen Erfolg ist wenig überzeugend: Mit steigenden Einkommen wird ein immer geringerer Anteil für die Lebenshaltung – und sei sie auch noch so luxuriös – ausgegeben (sinkende Konsumquote) und ein entsprechend größerer Anteil auf die hohe Kante gelegt (steigende Sparquote). Für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist eine gleichmäßigere Verteilung vorteilhaft, da bei extremer Schieflage Entbehrung und Unterversorgung der ärmeren Schichten volkswirtschaftlich in fehlender Kaufkraft durchschlagen. Angesichts der prekären Einkommenssituation von Arbeitslosen ist es zynisch, wenn Finanzminister Eichel die im Sparpaket enthaltenen Kürzungen gegen Erwerbslose mit einem stärkeren „Anreiz zur Aufnahme von Arbeit“ zu rechtfertigen versucht. Sicher: Man kann die in der Vergangenheit bereits mehrfach durchlöcherte Arbeitslosenunterstützung als Beschäftigungshemmnis denunzieren. Aber man könnte sie auch als Kernbestand des Sozialstaats offensiv verteidigen, als Schutz, damit Erwerbslose nicht aus nackter Not heraus gezwungen sind, sich für 7,50 Mark brutto als Poolreiniger bei den Besserverdienenden anzuheuern.

Verteilungsfragen sind immer auch Demokratiefragen. Armut und Reichtum sind nicht nur eine Frage des Kontostandes und der Qualität der Einbauküche. Es ist ein fauler Zauber, wenn nun Teile der Regierungskoalition soziale Gerechtigkeit in formalrechtliche Chancengleichheit umdefinieren wollen. Es liegt auf der Hand, welche Bedeutung die Ausstattung mit materiellen Ressourcen für den Zugang zu Bildung, Kultur, Politik und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben hat. Damit Chancengleichheit soziale Realität werden kann, ist ein Mindestmaß an materieller Gleichheit und sozialstaatlicher Umverteilung von oben nach unten eine zwingende Voraussetzung.

Es ist längst überfällig, die grenzenlosen Einkommensansprüche der Besitzer von Geld-, Aktien- und Produktivvermögen kritisch zu hinterfragen. Das Unternehmen Dürkopp-Adler will etwa hierzulande 400 Arbeitsplätze vernichten und die Produktion von Industrienähmaschinen nach Tschechien verlagern. Grund: Den Aktionären ist die letztes Jahr erzielte Rendite von 15 Prozent schlicht zu mickrig!

Der Zugang zu Bildung, Kultur, Politik hängt von materiellen Ressourcen ab

Armut gilt in den Sozialwissenschaften weithin als wirksam bekämpft, wenn niemand von weniger als 50 Prozent der durchschnittlich verfügbaren Einkommen leben muss. Analog dazu lässt sich für eine sozial gerechte Verteilung folgende Perspektive formulieren: Warum soll nicht, wer das zwei-, drei- oder vierfache des Durchschnitts verdient oder besitzt, als so ausreichend reich gelten, dass darüber hinaus gehender Reichtum zu größeren Teilen abgeschöpft und wieder für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden darf? Und: Warum soll nicht, wenn die Shareholder-Value-Orientierung wirtschaftliche Aktivität an astronomische Renditen kettet, über die Organisation von sinnvoller Produktion in öffentlicher Verantwortung nachgedacht werden?

Martin Künkler

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