: Die Gemüse-Yuppies
FLEISCHLOS Früher galten Veganer als blasse Spaßbremsen. Heute kochen sie im TV und schreiben Bestseller. Wie ein Fitnesstrainer, eine Köchin und ein Manager die Wende prägen
■ Damals: Aus der Lebensreform-Bewegung mit ihrer Kritik an der Industrialisierung entstanden Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt Vegetarier-Verbünde, der auch Rohkostverfechter angehörten. 1887 eröffnete Unternehmer Carl Braun am Kottbusser Damm in Berlin das erste Reformhaus, fünf Jahre darauf wurde der Deutsche Vegetarierbund mit Sitz in Leipzig gegründet. Ihm gehörten 1900 rund 1.200 Mitglieder an. 1908 nahmen 25 Teilnehmer aus Holland, England und Deutschland am ersten Vegetarierkongress in Dresden teil.
■ Heute: 100 Jahre später war die Teilnehmerzahl des Kongresses 2008 auf 700 Menschen aus 33 Ländern gestiegen. Während der Nazizeit hatten sich die wichtigsten Vegetarier-Vereine aufgelöst. Am 29. Mai 1946 wurde die Neugründung der Vegetarier-Union Deutschland eingeleitet. Heute ist sie als Vegetarierbund Deutschland mit mehr als 100 Regionalgruppen die größte Interessenvertretung vegetarisch und vegan lebender Menschen. Daneben gibt es die Vegane Gesellschaft Deutschland e. V. oder den Bund für Vegane Lebensweise.
VON MARLENE HALSER (TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)
Den Porsche abzustreiten, käme Attila Hildmann gar nicht in den Sinn. „Guck“, sagt er, federt von der Steinstufe im Treppenhaus hoch, auf der er gerade noch saß, und deutet aus dem Fenster. „Da steht er.“ Unten am Straßenrand glänzt der schwarze Porsche 911 in der Sonne. Hildmann muss grinsen. In Kapuzenpulli und Cargo-Hose steht er in einem Treppenhaus in Berlin-Mitte und wartet, dass die nächste Szene vor der Kamera beginnt.
Attila Hildmann, 33 Jahre alt, ist Deutschlands bekanntester Autor veganer Kochbücher. 750.000 davon hat er verkauft. 20, 30 Euro das Stück. Er könnte sich einfach zur Ruhe setzen.
Hildmann hat aus einer Idee, die lange wie ein Spleen weltfremder Extremisten wirkte, einen massentauglichen Trend gemacht. Veganismus bedeutete bislang radikalen Verzicht. Nicht nur auf Fleisch, auf Fisch, wie bei Vegetariern. Auch auf Milch, auf Eier, auf Daunen und Leder. Hildmann hat den Verzicht zu einem Versprechen umgedeutet. Wer so isst wie ich, dem geht es besser, der sieht sogar besser aus. Das ist seine Erzählung.
Das ZDF lässt ihn an diesem sonnigen Junimorgen in einem geräumigen Kochstudio gegen den Fernsehkoch Alfons Schuhbeck antreten: „Vegetarier gegen Fleischesser – Das Duell“. Ein Team isst Fleisch, das andere verzichtet darauf. Am Ende sollen medizinische Tests zeigen, was gesünder ist. Gerade dreht „Team Fleisch“. Hildmann hat Pause.
„Müsli-Jochen-Veganer“ nennt Hildmann Kritiker
Er ist der Promiproll des neuen Veganismus, ein lauter Bodybuilder, der seinen muskelbepackten Körper oben ohne in Calvin-Klein-Unterhosen präsentiert, Arnold Schwarzenegger bewundert – und die Kraft von japanischem Matcha-Tee und Gemüse preist. Mit dieser krawalligen Art hat er den Veganismus in die Talk-Shows gebracht. Er ist das bekannteste Gesicht einer wachsenden Branche. Neben Nicole Just, dem blonden Fräuleinwunder, die als Köchin für veganes Schmalz und Zwiebelmett wirbt. Oder Jan Bredack, dem ehemaligen Mercedes-Manager, der Deutschlands erste vegane Supermarktkette eröffnete und nun europaweit expandiert.
Die drei Geschäftsleute stehen für eine Entwicklung, die Ernährungswissenschaftler, Verhaltensforscher und Psychologen „Hedonic Shift“ nennen, hedonistische Wende – weg von der Askese, hin zum Vergnügen.
Hildmann, Just und Bredack betonen die Lust am Leben, statt den Verzicht aufs Töten. Ihre Botschaft: Veganismus nutzt dem Körper, schmeckt gut und schont nebenbei auch noch Tiere und Umwelt.
Es gibt einige, die nehmen ihnen das übel, obwohl sie dieselben Ziele teilen. Vielleicht auch, weil alle drei sehr gut am neuen Veganismus verdienen.
Laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat sich die Zahl der Publikationen zum Thema seit 2011 verdreifacht. 77 vegane Kochbücher kamen allein in diesem Jahr auf den Markt. Immer neue vegane Restaurants eröffnen, das Blog „Deutschland is(s)t vegan“ listet Angebote in 40 deutschen Städten auf. Vegane Klamottenläden, vegane Kosmetik, veganer Wein, vegane Cocktails, sogar einen veganen Sexshop gibt es in Berlin.
„Den Tieren ist es scheißegal, warum man sie nicht isst“, sagt Attila Hildmann beim Fernsehdreh in Berlin-Mitte. Mit solchen Sprüchen kommt er auch bei Fleischessern gut an. Seine Methode ist simpel. In Kochbüchern verspricht er, wonach sich die Menschheit schon immer sehnt: Glückseligkeit, Schönheit und ewige Jugend. Das Leid der Tiere in der Massentierhaltung, der immense Ausstoß von Treibhausgasen – auch das mögen gute Gründe sein, aufs Schnitzel zu verzichten. Man sieht es im Fernsehen, man liest es in der Zeitung, für die meisten bleibt es aber weit weg. Viel weiter als der eigene Körper. Hildmann gibt diesem Körper ein gutes Gefühl.
Mit der Hinwendung zum „Ich“ schafft er etwas, was den Ur-Veganern aus den 1980er und 90er Jahren nicht gelungen ist. Für Veganer, die vor allem ethisch argumentieren, ist das ein Affront. Seit 20 Jahren schleichen sie nachts in Ställe, um das Leid der Tiere zu dokumentieren. Sie stören Jagden, protestieren gegen Massentierhaltung. Jahrzehntelang mussten sie sich als spaßbefreite Spinner beschimpfen lassen. Man runzelte die Stirn über sie, die selbst im Waschmittel nach Tierpartikeln suchen.
Jetzt sollen sie zusehen, wie Freizeit-Veganer wie dieser Hildmann ihr Thema massenwirksam verkaufen? „Idioten“ nennt ihn ein „Lars“ auf der Seite vegan4love.info, „eine bizarre Mischung aus Tim Mälzer und Daniela Katzenberger“. Ohne Überzeugung.
„Müsli-Jochen-Veganer“ entgegnet Hildmann abfällig. „Die suchen ständig nach etwas, das in deren Augen beweist, dass ich kein echter Veganer bin“, sagt er, die Oberarme vor der Brust verschränkt. Beim Sprechen wippt er von einem Bein aufs andere. Turnschuhe mit Leder, die Unterhosen von Calvin Klein. „Angeblich vertreibt die Firma auch Kosmetik, die an Tieren getestet wurde, und schon heißt es: Attila Hildmann ist kein echter Veganer.“ Es stört ihn nicht. Die, die längst auf tierische Produkte verzichten, sind eh nicht seine Klientel. Er kämpft immer auch gegen die gängigen Klischees vom hohlwangigen, lustfeindlichen Moralapostel. Möglichst oft stellt er seinen trainierten Oberkörper zur Schau, posiert in einer Bomberjacke und gibt den Berliner Getto-Türken, der gerne mal „Alter“ sagt, „ich schwöre.“ Jeder kann heute Veganer sein, signalisiert er damit, auch der Halbstarke aus der Muckibude.
Den Weg für diese Wende hat auch Jonathan Safran Foer bereitet – mit seinem Buch „Tiere essen“, das 2012 in Deutschland erschien. Neu war vor allem der Zugang. Statt moralisch zu argumentieren, begab sich Foer, gerade Vater geworden, als zweifelnder Autor auf die Suche nach den Zwängen der Lebensmittelproduktion. Was er vorfand, war ekelerregend grausam. Er schilderte das einfach, ohne moralisch zu werden. Das gefiel vielen, Bestsellerautorin Charlotte Roche so sehr, dass sie sich das Buchcover auf die Hand tätowieren ließ.
Hildmanns Durchbruch brachte 2012 „Vegan for fit“, ein veganes Diät-Buch. Die „30-Tage-Challenge“ nennt Hildmann seine Schlankheitskur. Wer seine Ernährung 30 Tage auf die veganen Rezepte – ohne Weißmehl und Zucker – umstellt, soll sich satt essen und trotzdem abnehmen. Es wurde das meistverkaufte Kochbuch des Jahres 2013.
„Princess Pink“-Kuchen? Nicole Just überlegt
Hildmann tingelt von TV-Sendung zu TV-Sendung. 50 bis 60 Fernsehauftritte hatte er – neben seinem Studium der Astrophysik – seit 2010 hinter sich gebracht, schätzt er. „Am Ende des Tages ist jeder Auftritt wie ein Werbespot“, sagt er.
Einen der ersten hatte er bei „TV Total“. Er lachte herzlich mit, als Moderator Stefan Raab ins Mettbrötchen biss. Ein Veganer, der sich amüsiert, wenn jemand Fleisch isst, statt laut Mörder zu rufen oder wenigstens zu diskutieren? Das war neu. Es folgten Arte, Vox, Sat.1 und jetzt das ZDF.
Hildmann macht seine Lebensgeschichte zur Marketingstrategie – wie die Köchin Nicole Just und der Supermarkt-Gründer Jan Bredack. Bei allen dreien teilt ein Erweckungserlebnis das Leben in ein „Vorher“ und ein „Nachher“, als wären sie religiöse Konvertiten. Ihre Moral: Wer nach so einem Moment erkannt hat, was gut und richtig ist, der kann nicht mehr in den Zustand der Unwissenheit und Leugnung zurück.
Als Hildmann 19 war, starb sein Adoptivvater. Herzinfarkt. Weil der vorher schon Kreislaufbeschwerden und einen hohen Cholesterinspiegel gehabt hatte, begann Hildmann sich mit Ernährung zu beschäftigen. Auch er selbst sei „ein Fettklops“ gewesen, sagt er. Jedes seiner Bücher enthält ein Beweisfoto: Er als Teenager mit Pausbacken und Schwabbelbauch. Seit er sich vegan ernähre und Sport treibe, habe er 35 Kilo abgespeckt.
Schwarzenegger sei sein Vorbild, sagt Hildmann und verteilt im ZDF-Studio kleine Schalen mit Spaghetti und veganer Bolognese. Der Bodybuilder aus Österreich, der erst in Hollywood berühmt wurde und später Gouverneur von Kalifornien. „Den haben am Anfang auch alle ausgelacht“, sagt Hildmann.
Seine ersten drei Bücher hat er noch im Eigenverlag herausgebracht. Alle möglichen Verlage schrieb er an. Keiner wollte ihn. Das war 2008. Von seinem Ersparten kaufte er sich eine Kamera. Er wollte die vegane Variante des britischen Starkochs Jamie Oliver werden und begann, sich selbst beim Kochen zu filmen und die Clips bei YouTube hochzuladen – bis er mit dem Becker Joest Volk Verlag ins Gespräch kam, einem kleinen Verlag, spezialisiert auf Gartenbücher.
Heute ist Hildmann seine eigene Marke. Im Dezember erscheint wieder ein neues Buch. Die alten werden für den englischen Markt übersetzt. „Jetzt geht’s erst richtig los“, sagt er.
In ihrem Kochstudio will Nicole Just heute einen pinken Kuchen backen. „So ein richtiger Mädchenkuchen eben“, sagt sie. Sie nimmt dafür ein Päckchen Rote-Bete-Pulver. Mit frischer Roter Bete hatte sie es schon probiert. Nur hat das nicht so gut geklappt. „Ich teste gerade Sachen mit Teigen“, sagt Nicole Just. „Princess Pink“ könne der Kuchen am Ende heißen.
Werktags kocht und backt sie in der eigenen Wohnung, „spätestens ab zehn“ probiert sie Rezepte für ihre Kochbücher aus. Fürs Interview hat ihre Agentin einen Termin in einer gemieteten Küche in Berlin-Moabit verabredet. Mehrmals im Jahr veranstaltet sie hier einen veganen Supperclub. Für 20 Gäste kocht sie ein Fünf-Gänge-Menü. „Ohne zu missionieren“, sagt Just. Sie will mit dem Klischee aufräumen, veganes Essen schmecke nicht und mache nicht satt.
An der bunt tapezierten Wand über dem langen Esstisch hängt ein Abendmahl-Gemälde und aus dem tragbaren CD-Spieler auf der Anrichte trällert Zarah Leander. „Die Cat-Stevens-CD hängt“, sagt Just entschuldigend. Dann referiert sie über Sojajoghurt als Ei-Ersatz im Kuchen und dessen Vorzüge gegenüber Apfelmus und Sojamehl.
Viele Prominente schmücken sich mit dem Vegan-Etikett. Aus unterschiedlichen Gründen:
■ Die Schön-Esserin: Wie andere Schauspielerinnen hält sich Pamela Anderson tierfrei schlank.
■ Der Survivor: Nach seinem Herzinfarkt stellte der ehemalige US-Präsident Bill Clinton seine Ernährung um. Am meisten, sagt er, vermisse er Joghurt und Käse.
■ Der Pop-Veganer: Der Musiker Moby schätzt, er hatte, bis er 15 war, 4 Hunde, 12 Katzen und etwa 1.000 Mäuse. Er lernte, sagt er, Tiere zu lieben, nicht zu essen.
■ Die 80-Prozenterin: Sängerin Alanis Morissette ernährt sich vegan, seit sie 21 ist. Zur perfekten Veganerin fehlen ihr 20 Prozent.
■ Die Sexieste: Ellen Page wurde als junge Schwangere in „Juno“ bekannt. Peta hat sie 2014 zur Sexiest Vegetarian Celebrity gewählt. Sie twittert #vegan.
Bekannt geworden ist auch Just über ein Kochbuch. „La Veganista“ heißt es, erschienen bei Gräfe und Unzer, einem renommierten Ratgeberverlag. Justs drei Bücher haben sich in nur einem Jahr mehr als 160.000-mal verkauft.
Ihre Karriere begann mit dem Rezept-Blog „Vegan sein“. Lange bevor Verlage aufmerksam wurden, boten Webseiten wie ihre Tipps für das Kochen ohne tierische Produkte. Das Netz ließ die Bewegung wachsen. Die Dokumentation „Earthlings“, in der man anderthalb Stunden lang Tiere in Ställen und Schlachthöfen leiden sieht, ist online zum Kultfilm der veganen Szene geworden – obwohl sie nie im Kino oder Fernsehen lief. In Twitter-Streams mischen sich solche Bilder mit Rezepten für veganes Avocado-Schoko-Eis oder milchfreie Kräuterbutter.
Würden sich Hildmann, Just und Bredack nur an die Hundertprozent-Veganer wenden, hätten sie kaum so viel Erfolg. Dass die 31-jährige Just zu Beginn des Jahres ihren Job in einer Internetagentur kündigte, um ganz Veganköchin sein zu können, zeigt, wie groß die Nachfrage nach veganen Rezepten mittlerweile auch unter Nichtveganern ist, unter „Flexitariern“ etwa. Das sind Menschen, die zwar ab und an Fleisch essen, aber längst nicht mehr so oft wie früher üblich. Etwa 42 Millionen solcher Teilzeitvegetarier gibt es laut einer im Auftrag des Vegetarierbundes Deutschland durchgeführten Studie in Deutschland. Sie verzichten an mindestens drei Tagen pro Woche auf Fleisch. Sie sind die Zielgruppe von Nicole Just, Attila Hildmann und Jan Bredack.
Wo Hildmann um jeden Preis provozieren will, will Just integrieren. Wenn er der vegane Jamie Oliver ist, ist sie die vegane Sarah Wiener. In blauem Rock und rot-weiß-karierter Bluse ist sie auf den Bildern in „La Veganista“ zu sehen, wie sie Sonntagsbrötchen backt. Das blonde lange Haar hat sie auf Bildern stets zu sanften Locken gedreht. Veganes Soljanka gehört zu ihren Rezepten, genauso wie Würstchen, Kartoffel-Sellerie-Stampf und Gulasch „von Oma und Opa“. Es gibt es noch, das gute Leben – heute ist es vegan.
Gegen Jan Bredack fliegen die Farbbeutel
Ihre Erweckungsgeschichte passt zu diesem bodenständigen Image. Sie stammt aus einer Fleischerfamilie, ihr Großvater war Fleischermeister und Jäger. „Ich habe immer viel Fleisch gegessen“, sagt sie, „meine Steaks mochte ich blutig.“ Sie rührt Rote-Bete-Pulver in Sojamilch und gibt frische Vanille dazu.
Im Mai 2009 fiel ihr dann ein Buch über vegane Ernährung in die Hände: „Skinny Bitch. Die Wahrheit über schlechtes Essen, fette Frauen und gutes Aussehen – Schlanksein ohne Hungern“. Ein US-Titel von 2008.
Dass es um vegane Ernährung ging, habe sie damals gar nicht gewusst. Die expliziten Schilderungen von Qual und Leid brachten sie zum Umdenken. „Was da über Milch, Eier und Schlachthäuser drinstand, bekam ich einfach nicht mehr aus meinem Kopf“, sagt Just. Sie beschloss noch beim Lesen, mit dem Fleisch Schluss zu machen.
Anders als Hildmann achtet sie auch bei ihrer Kleidung darauf, dass sie nicht von Tieren stammt. „Die ist aus Kunstleder“, sagt sie und zeigt auf eine braune Handtasche. Ambivalenzen, wie sie Hildmanns Lebensentwurf birgt, findet man bei ihr nicht. Sie steht der Ur-Szene näher.
Veganer streiten in den Kommentarspalten unter Onlineartikeln oder auf Facebook, wie strikt man leben muss. Genügt es, nichts zu essen, was tierischen Ursprungs ist? Oder darf man auch nicht auf Daunen schlafen? Und was ist mit dem Glycerin in Cremes und Klebstoffen, wenn es von Tieren stammt? Überwog früher der Wunsch nach Strenge, setzt sich nun stärker die Überzeugung durch, dass jeder Schritt in die richtige, die vegane Richtung zählt.
Just verurteilt Fleischesser nicht. „Es ist toll, wenn sich jemand dazu entschließt, wenigstens einen Tag in der Woche vegan zu essen“, sagt sie. Das verbindet sie mit Hildmann. Bloß keine Vorwürfe.
Seit Kurzem nun ist Just in ihrer Video-Kochschule „Just vegan“ auf Brigitte.de und stern.de zu sehen. Beim veganen Einkauf im Supermarkt erklärt sie, wie er nicht zu teuer wird. Ganz die gute Hausfrau.
Je präsenter dieser Wohlfühl-Veganismus wird, desto mehr verlieren die Hundertprozentigen die Deutungshoheit. Bei Jan Bredack entlädt sich ihre Wut. Immer wieder werfen Kritiker Farbbeutel gegen die Scheiben seiner Filialen. Dabei ist Bredack extra aus Russland zurückgekommen, um Veganern einen eigenen Supermarkt zu schaffen. In Nabereschnyje Tschelny in der russischen Teilrepublik Tatarstan war er gerade dabei, als Mercedes-Manager ein Werk aufzubauen. Da befand er sich schon in einer Lebenskrise. Ausgebrannt hatte er 2008 Frau und Kinder verlassen. Dann lernte er eine neue Frau kennen, eine Vegetarierin. Zum ersten Mal dachte er über den Ursprung dessen nach, was vor ihm auf dem Teller lag.
„Bis zu diesem Tag habe ich gegessen, was auf den Tisch kam“, erzählt Bredack zwischen zwei Telefonaten, seine Haare schon recht grau, die blauen Augen blicken aus tiefen Höhlen. In der ersten Etage über seinem Laden in Berlin-Friedrichshain hat er sich kurz Zeit genommen. Ein veganer Koch hat dort sein Restaurant eröffnet. Es dient Bredack als Büro. Sein Smartphone fiept und brummt permanent.
„Hamburger, Currywurst, blutige Steaks, Innereien“, sagt Bredack. Er habe es alles in sich hineingestopft. Beim ersten Date mit der großen Liebe nach dem Zusammenbruch beschloss er, Vegetarier zu werden, wenig später Veganer. Auf Fleisch zu verzichten, aber Eier, Milch und Käse zu essen, ging ihm nicht weit genug. Geschredderte männliche Küken, viel zu früh getrennte Kälbchen. „Das geht ja auch nicht.“ Seine neue Freundin stieg mit ihm zum Veganismus um.
Sie gingen durch den Supermarkt und legten alles Vegetarische in den Wagen, was ihnen schmeckte. „Dann haben wir alles wieder aus dem Einkaufskorb genommen, was nicht vegan war, und danach war nicht mehr viel übrig.“ Das war 2008.
Er beschloss, eine vegane Supermarktkette aufzubauen. Er nannte sie Veganz. Während er sich aus seinem alten Job als Manager zurückzog und schließlich kündigte, jettete er bereits mit neuen Mitarbeitern um die Welt, um neue vegane Lebensmittel aufzuspüren. Viele Hersteller fand er in den USA, die vegan schon weiter waren. Ein Unternehmen, das Joghurt aus Kokosmilch herstellt, Produzenten, die Käse aus Erbsen oder Nüssen machen. Veganer Fleischersatz wiederum, der Entenbrust oder Hähnchenkeulen imitiert, wird in Taiwan hergestellt. Bredack begann, ein Netz von Zulieferern zu organisieren. Im Juli 2011 eröffnete er die erste Filiale in Berlin-Prenzlauer Berg.
„Die Mehrheit meiner Kunden sind gar keine Veganer“, sagt Bredack, „sondern Menschen, die auf ihre Gesundheit achten wollen oder müssen.“ Manche besuchen seine Supermärkte wie Apotheken: Sie brauchen Mittel gegen hohen Cholesterinspiegel oder Allergien. Die allermeisten sind aber klassische Biomarkt-Kunden, die Alternativen zu Fleisch und Milchprodukten probieren wollen.
Heute betreibt Bredack fünf Filialen in Deutschland: zwei in Berlin, eine in Frankfurt, München und Hamburg. Zwei in Essen und Leipzig kommen gerade dazu. Eine in Wien hat vor wenigen Wochen eröffnet. London ist in Planung. Und es gibt Anfragen aus Asien und den USA, wo 2016 die erste Filiale entstehen soll. Um rentabel zu wirtschaften, müsse sein Unternehmen wachsen, sagt Bredack. Mit einem Partner betreiben sie ein eigenes Lager in Deutschland. Die Zentrale in Berlin kümmert sich um Einkauf, Marketing und Verteilung der Waren. Die einzelnen Märkte werden von Managern geführt. Erst ab zehn Filialen rechne sich der Aufbau der ganzen Infrastruktur, sagt Bredack. Die Filialen tragen sich selbst, alles andere ist noch defizitär.
Er will vegane Produkte entwickeln und produzieren, um mit seiner Eigenmarke in konventionelle Supermärkte zu kommen, Kaiser’s Tengelmann etwa. Bredack plant ein kleines Imperium.
Millionen Vegetarier und 1,2 Millionen Veganer gibt es in Deutschland. 42 Millionen bezeichnen sich als Teilzeitvegetarier
Quelle: Vegetarierbund Deutschland
232
Millionen Euro wurden in Deutschland 2012 mit veganen Produkten erwirtschaftet, 19,4 Prozent mehr als im Vorjahr
Quelle: Marktforschungsunternehmen biovista
200
Millionen Menschen leben in Indien fleischlos, damit ist das Land die Vegetarier-Nation Nummer eins. Belgien, Frankreich und Spanien belegen den letzten Platz
Quelle: Europäische Vegetarier Union, Planet Wissen
7
Siegel für vegane Produkte finden in Europa Verwendung, besonders bekannt: das grüne V der European Vegetarian Union
Quelle: Verbraucherzentrale Hamburg
215
Euro geben Vegetarier im Monat für Lebensmittel aus, Fleischesser 238 Euro, Flexitarier 259 Euro
Quelle: Universität Gießen und Max Rubner-Institut
86
Gastronomiebetriebe mit rein veganem Angebot gibt es in Deutschland, allein 28 davon in Berlin
Quelle: Peta, Der vegane Einkaufsguide
Die Umstände waren nie günstiger. Der Manager greift ein Bedürfnis auf, das wächst. „Brauchen Tiere Menschenrechte?“, fragte die Wochenzeitung Zeit kürzlich auf dem Titel. Warum verhätscheln wir Haustiere wie Hunde und Katzen, quälen und töten aber Schweine und Rinder?
Der Soziologe Bernd-Udo Rinas ist überzeugt, dass der Veganismus einen ähnlichen Stellenwert erreichen wird wie das Nichtrauchen. Eines Tages werde es uncool sein, Fleisch zu essen, sagt er. Es werde zum Allgemeinwissen gehören, wie grausam Fleischkonsum für Nutztiere sei, und wie schädlich für Gesundheit und Umwelt.
Bredack kommt aus der Wirtschaft, er kennt die Gepflogenheiten, und er schreckt nicht davor zurück, mit Großkonzernen der Lebensmittelindustrie zu kooperieren. Dass die auch Fleisch im Sortiment haben, womöglich noch aus Massentierhaltung, ist für ihn zweitrangig. Dass er damit seine eigene Philosophie unterlaufe, wie ihm Kritiker vorwerfen, sieht er nicht.
Vielen in der veganen Szene gilt er als Verräter, als unverfrorener Kapitalist, der mit einer einst altruistischen Idee, dem Veganismus, nun den großen Reibach machen will.
Als Attila Hildmann Anfang des Jahres ein Foto von sich und seinem Porsche auf Facebook postete, schickte Bredack ihm eine Nachricht aufs Smartphone: „Shitstorm de luxe“ stand darin in Erwartung der Reaktionen. Die beiden kennen sich. Auch Bredack hat verstanden, wie man eine gute Idee gewinnbringend vermarktet – und wird dafür von strengen Veganern angefeindet.
Er behandle seine Mitarbeiter schlecht, heißt es in einem Beitrag auf der linken Plattform de.indymedia.org. Auch dass Menschen, die Thor-Steinar-Kleidung tragen, in seinem Laden einkaufen dürfen, wirft man ihm vor – und stellt Bredacks Gesinnung in Frage.
In seiner Autobiografie widmet er sich den Vorwürfen. Detailliert beschreibt er die Stasi-Vergangenheit seines Vaters und die rechte Gesinnung seines Bruders. Dass er sich als Jugendlicher auch zu den Rechtsextremen in Berlin-Marzahn hingezogen fühlte, verschweigt er nicht.
Den Ur-Veganern passt einfach nicht, wie ihre Idee mehr und mehr an den Mainstream und damit auch an das kapitalistische System verloren geht.
„Big Business ist nicht der Feind, sondern der Schlüssel“, sagt Bredack, „kein Investor gibt Geld, weil er ein paar Gutmenschen glücklich machen möchte.“ Die Idee müsse schon auch Profite abwerfen. Bredack will seine Marktmacht vergrößern und so eines Tages die Lebensmittelbranche revolutionieren.
„Ich kann die traditionellen Lebensmittelkonzerne nicht schlagen“, sagt Bredack. Also kooperiert er erst einmal. Der Rest wird sich zeigen.
■ Marlene Halser, 36, tazzwei-Redakteurin, isst mal mehr, mal weniger vegan und ist Herausgeberin von „Go vegan. Warum wir ohne tierische Produkte glücklicher und besser leben“, riva Verlag, 2013
■ Amélie Losier, 38, lebt seit 13 Jahren als freie Fotografin in Berlin. Sie mag Fleisch, etwa als Coq au vin
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