AUSSENMINISTER STEINMEIER HAT DEN FALL KURNAZ POLITISCH ÜBERLEBT: Freispruch aus Mangel an Interesse
Irgendwenn muss doch mal gut sein! Gibt es auf dieser Welt keine anderen Probleme als den Fall Kurnaz? Außenminister Frank-Walter Steinmeier kann davon ausgehen, dass so die meisten Deutschen denken. Selbst diejenigen, die Anfang des Jahres noch entsetzt waren, als sie vom kaltherzigen Umgang der rot-grünen Regierung mit dem Guantánamo-Häftling aus Bremen erfuhren, sind ermattet. Pflichtschuldig wird die Opposition noch ein paar Zeugen befragen – politisch aber ist der Fall spätestens seit Steinmeiers Aussage abgehakt. Der Minister wird mit dem Schicksal von Murat Kurnaz wohl nicht mehr behelligt werden.
Wurde der zentrale Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung entkräftet? Keineswegs. Rot-Grün hat eine Einreisesperre gegen einen 19-Jährigen verhängt, um dessen Rückkehr aus Guantánamo zu verhindern. Die Begründung war dürftig – die vagen Verdachtsmomente gegen Kurnaz reichten später nicht einmal aus, um dem Bremer auch nur eine einzige Straftat nachzuweisen. Wer das für einen Skandal hält, hat keinen Grund, heute weniger empört zu sein als im Januar.
Das nachlassende Interesse hat wenig mit den Erklärungen Steinmeiers zu tun – aber viel mit der Wirkung von Untersuchungsausschüssen. Das Gute an diesen ist: Sie bringen interessante Erkenntnisse. So erfuhr man, dass deutsche Behörden schon vor Kurnaz’ Verschleppung belastende Informationen an die USA weitergaben. Und dass ein Beamter das Aufenthaltsrecht des gebürtigen Bremers für erloschen erklärte, weil der Guantánamo-Insasse die Frist zur Verlängerung versäumt hatte. Zudem hat sich Ex-Innenminister Otto Schily mit seinem „summa cum laude“ für diesen Beamten einmal mehr als Zyniker entpuppt.
Der Nachteil gründlicher Aufklärung ist: Sie hat in der schnelllebigen Nachrichtenwelt keine Chance. Um noch Aufmerksamkeit zu erregen, hätte die Opposition Steinmeier schon nachweisen müssen, dass er Kurnaz persönlich in Ketten legte. Dass er dies nicht tat, bedeutet nicht, dass er richtig gehandelt hat. Die Einreisesperre war eine falsche Entscheidung im Sicherheitswahn. Steinmeiers politischer Freispruch ist ein Freispruch aus Mangel an dauerhaftem Interesse. LUKAS WALLRAFF
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