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Heile Welt, furniert

Günther H. Oettinger, Ministerpräsident Baden-Württembergs, ist bei weitem nicht der Einzige, der zurzeit Geschichte wieder fälschen will. Warum werden gerade jetzt alte Nazi-Täter rehabilitiert?

Nun wird die deutsche Geschichte also zu einem Sommermärchen: Opa war kein Nazi, sondern Gegner des Regimes

VON MARTIN REICHERT

Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther H. Oettinger hat mit seiner Rehabilitation des Nazi-Richters Hans Filbinger so lange gewartet, bis der Täter tot war. Die letzten Opfer des Nationalsozialismus aber leben noch. Ihnen hat er seine Klitterung der Geschichte, diese Verletzung, nicht erspart.

Doch in einer Zeit, in der die Historisierung von Ereignissen bereits einsetzt, nachdem der Mantel der Geschichte gerade erst vorbeigeweht ist – der 11. September wurde schon als „Zäsur“ eingeordnet, als die Trümmer des WTC noch rauchten –, können es viele Zeitgenossen kaum mehr abwarten, endlich ihre Kladden hervorzuholen, um aus ihren zusammengeschmierten Fakten die Geschichte so umzuschreiben, dass es passt. Klitterung ist aus Kladde abgeleitet. Es handelt sich um ein Schmierheft – dementsprechend sieht die Geschichte am Ende auch aus. Ein Marinerichter, der noch kurz vor Kriegsende Todesurteile wegen Desertion unterschrieb, wird zum Nazi-Gegner.

Oettinger, dem man eine kräftige Ohrfeige von Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld wünschen würde, ist in diesem Geschäft weiß Gott nicht der Einzige. Der Apostolische Nuntius in Israel, Erzbischof Antonio Franco, hat gerade seine Teilnahme an dem diesjährigen Holocaust-Gedenktag in Jerusalem abgesagt, wo in der Gedenkstätte Jad Vaschem an die Ermordung von sechs Millionen Juden erinnert werden soll. Der Grund: In der Bildunterschrift eines dort ausgestellten Porträts von Papst Pius XII. (1939–1958) werde die ganze katholische Kirche beleidigt, indem des Papstes Wirken im Zweiten Weltkrieg völlig falsch dargestellt werde. Nun heißt es in der Bildunterschrift so schlicht wie erwiesen, dass Pius XII. im Zweiten Weltkrieg nichts getan habe, um Rassismus, Antisemitismus und die Deportation der Juden zu verurteilen. Sogar Johannes Paul II. hatte sich während seiner Amtszeit zu einem „mea culpa“ gegenüber den Juden durchgerungen. Doch der ist ja nun auch unter der Erde. In der modernen Kladden-Version der Geschichte war der Vatikan womöglich ein Bollwerk des antifaschistischen Widerstandes und Pius XII. ein Opfer der Umstände.

Das Werk des Schriftstellers Rolf Hochhuth, der mit seinem Theaterstück „Der Stellvertreter“ sowohl die Rolle Pius XII. während des Nationalsozialismus kritisch hinterfragt hatte als auch später mit seiner Erzählung „Eine Liebe in Deutschland“ die Diskussion um die NS-Vergangenheit Filbingers entfacht hatte, kommt auf den Grabbeltisch: veraltet. Und Hochhuths letzter, posthumer Gruß an Filbinger – „sadistischer Nazi“ – verhallt wie ein lästiger Zwischenruf.

Im Anschluss an die WM 2006 wird die deutsche Geschichte nun also zu einem Sommermärchen, in dem sich die Generationen in den Armen liegen. Opa war gar kein Nazi, sondern ein Gegner des Nationalsozialismus. Wer braucht schon Gnade ohne Reue, wenn es gar nichts zu bereuen gibt? Womöglich war an allem sowieso die Stasi schuld – wenn Filbinger schon kein Nazi war, hatte er am Ende recht, und er war Opfer einer Stasi-Hetzkampagne. So wie Pius XII. Opfer einer KGB-Kampagne war. Mit Rücksicht auf die noch lebenden Täter aus dem Ministerium für Staatssicherheit müsste man allerdings darauf hinweisen, dass auch sie nur Opfer der Umstände waren. Womöglich sogar Gegner des Systems?

Auf jeden Fall waren es – irgendwie – die anderen. Günther Oettinger scheint so recht keine Ahnung von den historischen Fakten gehabt zu haben, die er anlässlich der Beerdigung Filbingers neu zusammensetzte. Wichtiger ist denn auch seine Motivation. Es geht darum, alte deutsche Familienstreitigkeiten endgültig zu beenden – schließlich war Filbinger damals von den eigenen Parteifreunden, allen voran Norbert Blüm, dazu gedrängt worden, sein Amt als Ministerpräsident niederzulegen.

Wie sehr diese Konflikte um die Schuld der Großeltern unter der Decke vor sich hin schwelen, wurde zuletzt an der Debatte um die Begnadigung Christian Klars und der vorzeitigen Haftentlassung Brigitte Mohnhaupts deutlich. Die Verbissenheit, mit der ehemaligen RAF-Mitgliedern keine Gnade ohne Reue gegönnt wurde, stand im Gegensatz zu dem auffälligen Beschweigen der ursprünglichen Motivation bzw. Legitimation der RAF: der bewaffnete Aufstand gegen die in den Nationalsozialismus verstrickte Väter-Generation. In der gerade aufgeflammten RAF-Debatte stehen die Gefühle der Angehörigen der Ermordeten im Vordergrund. Geradezu Tabu ist es, die Rolle einzelner RAF-Opfer im Nationalsozialismus anzuführen. Bloß nicht an alten Wunden rühren.

Der Schlussstrich unter die Geschichte ist eben für das Datum 1945 angesetzt – das ist nicht neu, denn schon die herbeifantasierte Zäsur „Stunde 0“ drückte diese Sehnsucht nach Deckelung aus. Den Wunsch, dass alles wieder gut wird und alle wieder friedlich an der Kaffeetafel sitzen. An Ursula Galkes Tisch ist jedoch ein Stuhl leer. Ihr Bruder Walter Gröger ist 1945 in Oslo wegen Desertion hingerichtet worden. Die Unterschrift unter dem Todesurteil: Marine-Oberstabsrichter Filbinger.

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