: Modellprojekt macht Schule
Der Förderunterricht für Migrantenkinder an der Uni Duisburg-Essen kann sich vor Anmeldungen kaum retten. Seit 33 Jahren unterrichten Studierende mit Hilfe der Mercator-Stiftung und lokaler Partner Schülerinnen und Schüler in allen Fächern
Seit 33 Jahren unterrichten Studierende Schüler im Rahmen des Projektes „Förderunterricht für Kinder ausländischer Herkunft an der Universität Duisburg-Essen“. Verantwortlich sind das Institut für Migrationsforschung, interkulturelle Pädagogik und Zweitsprachendidaktik (IMAZ) zusammen mit dem Schulverwaltungsamt und einer Reihe Essener Schulen. 803 Schüler mit Migrationshintergrund der Sekundarstufen I und II werden in Gruppen mit zwei bis fünf Lernwilligen gefördert. Den Familien entstehen dabei keine Kosten. Die Finanzierung übernehmen die Stadt Essen und diverse Stiftungen. CHB
von CHRISTIAN BECKER
Und schon wieder so ein komisches Gedicht. Was will dieser Goethe damit überhaupt sagen? Und was hat es eigentlich mit dem „lyrischen Ich“ auf sich? Fragen über Fragen. Es ist 16 Uhr nachmittags. Die zwölfjährigen Schüler Moucin, Hakan, Soufian und Ali befinden sich am Rande der Verzweiflung. Ahnungslose Gesichter blicken in die Runde. Nur einer hat den Durchblick: „Keine Ahnung von Goethe, Jungs? Dann wollen wir dem mal Abhilfe schaffen“, sagt Förderlehrer Christian Mertens mit einem breiten Grinsen.
Die Szene spielt sich in einem der Seminarräume der Universität Duisburg-Essen ab. Seit mittlerweile 33 Jahren unterrichten hier Studenten täglich Schüler im Rahmen des Projektes „Förderunterricht für Kinder ausländischer Herkunft an der Universität Duisburg-Essen“. Sowohl bei Schülern als auch bei den Lehrern kommt das Projekt gut an. Förderlehrer Christian Mertens teilt sich den Unterrichtsraum mit sechs weiteren Gruppen von jeweils drei bis fünf Schülern. Während sich seine Gruppe an Goethes Dichtkunst versucht, zeichnet ein anderer Lehrer Grundrisse eines Atoms an die Tafel. Zeitgleich murmelt in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes jemand was vom „Satz des Pythagoras“. Mertens: „Hier ist immer was los, immer Stimmung in der Bude.“
Die positiven Reaktionen von Schülern und Lehrern lassen natürlich auch über Essen hinaus aufhorchen. Das Konzept macht Schule. 1973 als Pilotprojekt gegründet, hat der Essener Förderunterricht inzwischen Modellcharakter. Mit Hilfe der Mercator-Stiftung und lokalen Partnern werden mittlerweile etwa 6.000 Schüler bundesweit an 35 verschiedenen Standorten von gut 1.100 Studierenden gefördert. Der damalige Bundespräsident Johannes Rau würdigte das Projekt 2002 im Rahmen eines Wettbewerbs zur Integration von Zuwanderern als großen Erfolg und zeichnete es als Sieger unter 1.300 Bewerbern aus.
Das Projekt boomt. Von Jahr zu Jahr steigen die Anmeldezahlen, derzeit warten rund 400 Schüler auf einen Platz. „Wir können uns vor Anmeldungen kaum retten“, sagt Claudia Benholz, die Mitorganisatorin. Im Mittelpunkt steht das Ziel, Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Chancengleichheit zu ermöglichen und ihre fachlichen sowie sprachlichen Kompetenzen zu fördern. Das Förderteam unterstützt die Schüler während ihrer Schullaufbahn und bereitet sie auf den beruflichen Werdegang vor. Der Bedarf ist riesig, was der Anmelderekord unter Beweis stellt. „Gerade in der bundesweit aktuellen Diskussion über vorschulische Sprachkurse für Ausländer darf man die Förderung der älteren Schüler der Sekundarstufen I und II nicht vergessen“, gibt Benholz zu bedenken. „Man darf sie nicht sich selbst überlassen.“
Doch nicht nur die Schüler aus 47 verschiedenen Herkunftsländern profitieren. Auch die studierenden Förderlehrer, die es auf 14 verschiedene Nationalitäten bringen, haben hier die Chance, verschiedene Dinge in der Praxis auszuprobieren. Speziell den Lehramtstudenten kommt dieser Aspekt zugute. Was im Lehramtstudium zu kurz kam, kann hier erprobt und geübt werden. Genau auf diesen „Synergieeffekt“ legt Claudia Benholz großen Wert. „Im Endeffekt haben beide Seiten was davon. Die Schüler bekommen Hilfe, die Förderlehrer die ansonsten fehlende Praxis.“ Außerdem fördere dies auf beiden Seiten interkulturelle Kompetenz und gegenseitige Toleranz. „Multi-Kulti“ mal nicht als Ausnahme, sondern als die Regel.
Ob es bei Mathe, Deutsch, Französisch oder Biologie hakt, spielt keine Rolle. Unterricht gibt es in allen Schulfächern. Ergänzend gibt es Sprach- und Computerkurse. Besonders der Fachunterricht hat für Benholz einen hohen Stellenwert: „Dabei werden sowohl sprachliche als auch fachliche Fähigkeiten der Schüler verbessert, die Sprachkompetenz sozusagen ‚learning by doing‘ ausgebaut“.
Bei Dauer und Inhalt des Unterrichts geht es flexibel zu. So wird zum Beispiel kurz vor den Abiturprüfungen schon mal auf Wunsch in Sonderschichten gebüffelt. Besonders gefragt sei momentan Mathematik. „Die Schüler sind extrem motiviert und wissen genau, was sie wollen, und wir helfen Ihnen dabei“, so Benholz. Die ehemalige Schülerin Samia hat von dem Angebot Gebrauch gemacht. „Ich wurde in den Fächern Mathe, Englisch und Deutsch unterrichtet. Ohne diese Hilfe wäre es unmöglich gewesen, die Hochschulreife zu erlangen“, sagt sie nach bestandenem Abi.
Aber das Vermitteln von Schulstoff ist nicht alles. Wichtig sei zugleich, dass die Schüler Selbstbewusstsein bekommen, sie vor allem das Gefühl haben, ernst genommen zu werden, meint Benholz. Der Förderlehrer diene als Ansprechpartner sowohl bei schulischen, als auch bei privaten Problemen. Das Vertrauen zwischen Schüler und Lehrer ist sehr wichtig. Bei konkreten Problemen vermittelt der Förderlehrer auch schon mal zwischen Familie und Schule oder hält Rücksprache mit der Schule des Schülers. „Wenn einer meiner Schüler Ärger in der Schule hat, habe ich auch kein Problem damit, da mal anzurufen und die Sache zu klären“, sagt Förderlehrer Christian.
Nicht wenige Förderlehrer waren früher selbst Schüler im Förderunterricht. Deshalb können sie die Situation ihrer Schützlinge gut nachempfinden. Stamatia, die auf diesem Wege beide Seiten kennengelernt hat, sagt, dass ihr während ihrer Schulzeit nicht nur „der Unterricht, sondern auch die individuelle Hilfe und Beratung“ wichtig waren. Anschließend wechselte sie dann die Seiten. „Nachdem ich mein Abitur geschafft hatte, fiel es mir schwer, das Projekt zu verlassen, darum gebe ich jetzt Förderunterricht.“ Zwischen Lehrer und Schüler herrsche oft ein freundschaftliches Verhältnis. Die angenehme Atmosphäre trage dann auch zu entsprechenden Fortschritten bei, erklärt Claudia Benholz. Ex-Schülerin Mutlu hat es anscheinend die erhofften „Aha-Erlebnisse“ beschert: „Der Matheunterricht hat uns allen besonders gut gefallen, zum ersten Mal verstanden wir, worum es eigentlich bei Mathe geht.“
Positive Resonanz und steigende Nachfrage entpuppen sich so langsam zum Luxusproblem. Längst nicht mehr jeder bedürftige Schüler kann aufgenommen werden. Für Benholz ist klar: „Wir können leider nicht alle Anmeldungen berücksichtigen.
Ihren Platz im Förderunterricht haben Moucin, Hakan, Soufian und Ali sicher. Es ist 17 Uhr. Schluss für heute. „So Jungs, das war‘s. Gute Arbeit“, lobt Förderlehrer Christian „seine Bande“. Zum Goethe-Experten reicht es zwar noch nicht, aber immerhin ist die Lyrik des Altmeisters für die Schüler nun kein verschlossenes Buch mehr. Durchatmen. Die bis gerade konzentriert wirkenden Gesichtszüge der Jungen weichen einem zufriedenen Lächeln, und sie wenden sich wieder profaneren Themen zu. Fußball steht an. „Wann ist heute Training?“, will Ali wissen. „Sechs Uhr“, antwortet Hakan und packt seine Sachen.
Während sich die andere Gruppe mit Physik rumplagt, hat die Truppe von Christian Mertens das „lyrische Ich“ durchschaut. Die Fragen sind vorerst beantwortet – zumindest bis zur nächsten Woche. „Da“, sagt Moucin, „ist wieder so ein Typ dran. Schiller oder so.“
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