: Auf der Suche nach Heimat in der Fremde
EXIL Zwei junge Syrer kommen nach Berlin. Sie haben Furchtbares erlebt, Bürgerkrieg, Flucht und Asylverfahren hinter sich gelassen. Jetzt wollen sie Fuß fassen, ihren Platz in der Gesellschaft finden. Doch das ist nicht einfach
■ In diesem Jahr haben in Berlin bislang 2.022 SyrerInnen einen Asylantrag gestellt. 2013 waren es 695, zwölf Monate zuvor 186, 2011 waren es 84 Personen.
■ Überwiegend handelt es sich bei den Geflüchteten um Menschen, die zunächst illegal eingereist sind, um dann Asyl zu beantragen. Etwa 90 Prozent der Syrer erhalten in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis nach Para-graf 23 des Aufenthaltsgesetzes.
■ Das bedeutet, dass sie zunächst für zwei oder drei Jahre bleiben dürfen, arbeiten können und Sozialleistungen beziehen.
■ Im Rahmen des sogenannten Flüchtlingskontingents dürfen rund 500 SyrerInnen in die Hauptstadt kommen. Laut Pressestelle für Gesundheit und Soziales wurden bisher rund 226 Visa ausgestellt. (taz)
KATALIN AMBRUS (TEXT) LIA DARJES (FOTOS)
Es ist eine Weile her, dass Ammer Qassem hier im Café Almedina in der Neuköllner Sonnenallee war. „Dieser Ort ist nur was für Loser“, scherzt der 28-Jährige, befreit seinen schwarzen Lockenkopf schwungvoll von der dicken Wollmütze und setzt sich an den niedrigen Holztisch zu einer Gruppe junger Männer. „Almedina“ bedeutet auf Arabisch „die Altstadt“. So soll es hier aussehen. An der Decke hängen schummrig leuchtende Kupferlampen mit bunten Perlenketten. Rauchschwaden von Shishas ziehen durch die offene Tür hinaus auf die Straße. Palmen stehen in den Ecken des Cafés, doch sind sie nur aus Plastik und die Sterne am Himmel darüber nur Strasssteine auf dem dunklen Stoff, der an die Decke gepinnt wurde.
Rat, Möbel, ein offenes Ohr
Neben Qassem sitzt sein Freund Issa vor einem Stapel Papiere. Vier Augenpaare verfolgen gebannt, wie der hagere, junge Mann mit Brille das Kleingedruckte studiert. Seite für Seite. Seitdem in Syrien Bürgerkrieg herrscht, ist das Café Almedina Beratungsstelle, Seelsorge und Vermittlungszentrale zugleich. Wer einen Rat, ein Möbelstück oder ein offenes Ohr braucht, kommt hierher. Allein Issa ist für viele der syrischen Neuankömmlinge ein wichtiger Grund, um ins Café Almedina zu gehen. Der Mittzwanziger kam 2012 mit einem Studentenvisum nach Berlin, Deutsch gelernt hatte er schon in Syrien. Gerade deshalb kann er seinen Landsleuten jetzt helfen. Er übersetzt Anträge, erklärt die schwierige Behördensprache in den Briefen, begleitet die Exilanten auf die Ämter. Jeden Abend sitzt er im Almedina – die Sprechstunden sind zu seiner Hauptbeschäftigung geworden.
Während er jetzt einen Antrag an das Jobcenter studiert, entbrennt am Nebentisch ein Streit zwischen zwei Männern, die sich lautstark über das viel zu überfüllte Heim austauschen, in dem sie wohnen. Kurz steckt der Wirt seinen Kopf durch die Tür – politische Gespräche sind im Almedina nicht mehr erlaubt. Zu nah sitzen hier die Gegner von einst beieinander, und zu oft enden solche Diskussionen im Streit. Die meisten der Besucher hier kommen aus demselben Stadtteil, aus al-Jarmuk im Süden von Damaskus. Über Mundpropaganda erfahren die Neuankömmlinge vom Café-Treffpunkt. So wird das Almedina zu einem Stück Heimat in der Fremde. Nicht so für Ammer. Er will nicht im Schatten seiner Erinnerung leben. Die Heimat, die er einmal kannte, gibt es nicht mehr. Sein Haus ist zerbombt, sein Stadtviertel seit fast zwei Jahren von der Außenwelt abgeschnitten. Ohne Wasser und Strom mussten die Menschen in seinem Viertel leben, ihre Möbelstücke verfeuern, sogar ihre Katzen und Hunde essen, um nicht zu verhungern. Qassems Freunde sind in alle Himmelrichtungen geflohen, leben heute im Libanon, in der Türkei, in Spanien und in Frankreich. Oder sie sind tot. Die grausamen Jahre in Syrien – der junge Mann möchte nicht mehr daran erinnert werden. Er will hier leben, so wie die anderen in seinem Alter es auch tun. Er will dazugehören, sucht seinen Platz in der deutschen Gesellschaft.
Deutschland – ein Zufall
Über dem Tresen des Café Almedina brüllt im Fernseher ein Reporter des Nachrichtenprogramms al-Arabia. Kinderweinen, Frauengeschrei und Explosionen vermengen sich zu einem grausamen Soundtrack. Doch niemand hier scheint daran Anstoß zu nehmen, niemand schaut auf. Die Bilder scheinen harmlos im Vergleich zu den Videos, die sich Qassems erweiterter Bekanntenkreis auf die Facebook-Pinnwände postet. Die Vergangenheit – ein Klotz am Bein des jungen Syrers auf dem Weg in ein neues Leben. Ein Leben, das sich Qassem vor dem Krieg nicht im Traum ausgesucht hätte. Denn dass er in Deutschland gelandet ist – ist ein Zufall. Noch im Herbst vor zwei Jahren war sein Leben in Ordnung. Dann Mitte Dezember 2013 die brutale Bombardierung seines Viertels al-Jarmuk durch die Assad-Armee. Menschen starben, ein Großteil der Bewohner floh. Von den ehemals etwa 100.000 Einwohnern sind nur noch 18.000 übrig. Qassem erzählt all dies betont gelassen, die Hände tanzen dabei durch die Luft, er scherzt – vielleicht auch, um dem Erlebten den Schrecken auszutreiben. Die Flucht – das Abenteuer.
Die Preise steigen
Mit Vater, Mutter, der Schwester und dem kleinen Bruder ging es mit dem Auto nach Beirut. Drei Monate später zunächst mit einem Touristenvisum nach Istanbul und von dort aus mit einem Schlepper nach Deutschland. Monatelang hatte Qassem sich in Istanbul umgetan, um die Familie irgendwie nach Europa zu bringen. Er hatte ein Café gefunden, das – wie das Neuköllner Almedina – seit dem Krieg zur Anlaufstelle für viele Syrer geworden war. Nur trifft man dort keine Übersetzer, sondern Schlepper. Eine belastende Zeit für den jungen Mann, im Kopf die immer gleichen Fragen: Wohin geht es? Wird die Flucht gelingen? Was wird aus uns werden? Jederzeit erwartete er den Anruf des Schleppers, der ihm das Ziel erst am Flughafen verraten würde. Drei Monate bangen Wartens. Dann ging es im vergangenen Sommer los – nach Europa. „Es war wie Loseziehen“, lacht Qassem wieder. „Meine Familie hat Schweden gezogen. Ich Deutschland.“ Ein gefälschter Pass und ein Flugticket für 7.500 Euro. Immerhin. Heute, ein Jahr später, müsste er das Doppelte zahlen. Die Preise steigen.
Doch nun endlich scheint es in Berlin vorwärtszugehen. Vergessen sind die ersten fünf Monate in einem sächsischen Flüchtlingslager und die lautstarken Proteste der Einwohner der Kleinstadt gegen die Flüchtlinge. Vergessen der nervenaufreibende Asylprozess, die schlaflosen Nächte, in denen sich Zukunftsängste und Kriegserinnerungen ballten. All das ist vorbei, sagt Qassem. Drei Jahre darf er erst mal in Deutschland bleiben. Endlich konnte er die sächsische Provinz verlassen und in die Hauptstadt kommen. In der vergangenen Woche hat sein Deutschkurs begonnen, auf den er ein Jahr gewartet hat. Der Kurs ist für Ammer der goldene Schlüssel in eine bessere Zukunft. „Alles, was ich mir bisher in meinem Leben aufgebaut habe, ist wertlos. Mein Wirtschaftsstudium, mein Job in der Geschäftsführung einer Firma, sogar mein Führerschein“, sagt er, seine großen dunklen Augen schauen ernst. „Es ist als müsste ich das Laufen neu erlernen.“ Qassem erzählt wie er im Jobcenter die Lippenbewegungen seines Beraters beobachtete hatte, ohne ihn zu verstehen. Vielleicht konnte der Mann kein Englisch, um ihn nach seinen Qualifikationen zu fragen. Jedenfalls ordnete er ihn in die Jobkategorien Putzhilfe oder Bauarbeiter ein. Qassem erfährt davon erst später. „Ich hätte aber auch nicht widersprochen. Wenn der deutsche Staat will, dass ich putzen gehe, mache ich das.“ Der Syrer will nicht noch mehr Zeit verlieren.
Das erste eigene Zimmer
Doch nichts geht schnell in Berlin. Monatelang versuchte Qassem ein Zimmer in einer WG zu bekommen. Erfolglos. Er teilte sich verschiedene Zimmer mit anderen syrischen Flüchtlingen. Ohne Vertrag, der Eigentümer holte die Miete bar ab. 150 bis 350 Euro für eine Matratze in einem kleinen Zimmer, das er sich mit anderen teilte. Mit fünf Männern lebte er in der einzig bewohnten Wohnung eines Gebäudes, das zur Sanierung entkernt wurde. Im Sommer klappt es dann endlich. Das erste eigene Zimmer – durchatmen nach einem Jahr in Deutschland. Qassem dreht sich eine Zigarette bevor er weiter erzählt. Denn kaum stand sein Name am Briefkasten, lag darin die nächste Hiobsbotschaft. Ein dicker gelber Umschlag vom Amtsgericht. Der Inhalt: ein Strafbefehl. Wegen Dokumentenfälschung. Die meisten syrischen Flüchtlinge reisen mit einem gefälschten Pass ein. „Wie sonst?“, fragt Qassem, ohne auf eine Antwort zu warten. „Kein Land wollte mir ein Visum ausstellen.“
Gedichte über den Krieg
Fast 80.000 syrische Flüchtlinge sind mittlerweile in Deutschland. Über drei Viertel kommen illegal, bevor sie einen Asylantrag stellen können. Wie Qassem. Er wird zu einer Geldstrafe und einem Jahr Bewährung verurteilt. „Ein Jurist hat mir erklärt, dass das gegen die Genfer Konventionen verstoße“, sagt er. „Niemand darf bestraft werden, wenn sein Leben in Gefahr ist und er keine andere Wahl hat, als illegal einzureisen.“ Doch gegen das Urteil vor Gericht ziehen? Er schüttelt mit dem Kopf: „Ich will endlich meine Ruhe haben.“ Es sei wie verhext, sagt Qassem. Jedes Mal, wenn er einen Stein aus dem Weg geräumt habe, muss er feststellen, dass dahinter noch ein weiterer auf ihn wartet.
In seiner Freizeit schreibt er Gedichte und Kurzgeschichten über das Leben in dieser neuen, seltsamen Welt und über den Krieg. In einem Text schreibt er:
„Seine Schulter eng an die Wand gedrückt, seine Kleidung durchtränkt von Blut, sah er den leeren Park und das Feuer der Nacht, das von allein erloschen war. Die Schwerkraft verlangte das Doppelte seines Gewichts, um ihn auf den Füßen zu halten, und doch war noch genug Leben in seinem Körper, um ihn am Fallen zu hindern. Er wusste nicht, wovor er sich mehr fürchtete: vor seinem geisterhaften Zustand oder vor dieser geisterhaften Stille?“
„Wir, die wir hier sind, tragen Verantwortung“, sagt Majid al-Bunni. Er und Qassem kennen sich nicht. Sie haben aber vieles gemeinsam: Sie sind ungefähr gleich alt, leben seit etwa einem Jahr in Berlin, und sie sind aus Syrien geflohen. Auch al-Bunni schreibt. Doch nicht allein für sich wie Qassem. Er schreibt, weil er noch immer daran glaubt, etwas in Syrien bewegen zu können. Der 26-Jährige hatte mehr Glück als sein Landsmann. Er wurde für ein Radioprojekt von der deutschen NGO Mict, die Medienprojekte in Nordafrika und im Nahen Osten unterstützt, nach Berlin geholt. Es war ein herzlicher Empfang. Kein Schlepper, kein Flüchtlingsheim, kein Asylverfahren. Ein seltenes Privileg. Al-Bunni brennt immer noch für die Revolution, die Politik ist sein Lebenselixier geworden. Der junge Mann mit dem fröhlichen, runden Gesicht sitzt bei einem Stück Pizza und Bier in einem der vielen Cafés rund um den Rosenthaler Platz. Während er von seiner politischen Satiresendung bei Baladna FM, einem der ersten unabhängigen Radiosender Syriens, spricht, schaukelt sein Pferdeschwanz und seine Wangen glühen rot.
Radioprogramm für Syrien
Baladna bedeutet „unser Land“. Bis vor einem Jahr produzierte er die Sendung im Istanbuler Exil. Allein, in seiner Unterkunft, auf seinem Laptop. Die deutsche NGO war auf der Suche nach Radiomachern für ein ambitioniertes Projekt: ein unabhängiges 24-Stunden-Radioprogramm für Syrien, produziert in Berlin. Baladna FM überzeugte, weil es bei der Berichterstattung ein breites Meinungsspektrum abdeckt. So kam al-Bunni nach Berlin. „Das war eine unglaubliche Zeit“, schwärmt er. „Wir haben damals wirklich etwas bewegt.“ Täglich informierte er die Menschen in Syrien über Polioimpfungen, über sauberes Wasser, das richtige Verhalten bei Bombardierungen und sichere Kommunikation im Internet. Al-Bunni sieht sich als irgendetwas zwischen Journalist und Aktivist. Fünf Monate lang ging das so. „Was dann passiert ist, habe ich bis heute nicht so richtig verstanden“, sagt er. Das breite Grinsen aus seinem Gesicht verschwindet. Das Aus für al-Bunni bei Baladna FM. Seine Sendung wird eingestellt. Erst werden einige seiner Korrespondenten in Syrien verhaftet, dann gibt es kein Geld mehr für Baladna FM. Die NGO will lieber ein Satellitensystem ausbauen, als eine Sendung machen. Al-Bunnis Traum platzt.
Nachträglich muss er nun auch das Prozedere der Flüchtlinge durchlaufen: Asylverfahren, Heim, Ungewissheit. Sein Tatendrang versandet. Doch er rappelt sich wieder auf, will Demos und Infostände organisieren, wie am 23. August zum Jahrestag des Giftgasmassakers östlich von Damaskus. Es gebe einige aktive Leute um ihn, weiß al-Bunni, doch es sei nicht leicht, sie zusammenzutrommeln. „Die Syrer hier sind beschäftigt damit, Papiere auszufüllen und zu Integrations- und Sprachkursen zu gehen“, sagt er über die Exilgemeinde. „Sie glauben nicht mehr daran, dass sie etwas in ihrem Land verändern können. Sie glauben, dass das jetzt die Großmächte unter sich ausmachen. Und die scheren sich nicht um die Meinung des Volks.“ Was al-Bunni jetzt noch bleibt, sind Facebook und Twitter.
Neulich hat er sich mit einem syrischen Musiker unterhalten, der früher Revolutionslieder geschrieben hat. „Ach, komm schon“, habe der gesagt, „die Revolution ist doch längst vorbei! Du wolltest Meinungsfreiheit und Pressefreiheit? Hier in Berlin hast du sie.“ Al-Bunni schlägt sich mit der flachen Hand auf die Stirn und schaut ungläubig: „Ist das nicht dumm? Ich wollte das doch für mein Volk und nicht nur für mich.“
In Neukölln hat Qassem das Café Almedina mit drei Freunden verlassen. Sie werden an diesem Abend um die Häuser ziehen, zu Straßenmusik tanzen und das Gefühl haben, endlich dazuzugehören. Später stellen sie sich in die lange Schlange eines Clubs. Doch werden die jungen Männer aus Syrien nicht reingelassen. Das einzige Wort, das Qassem aus dem Mund des Türstehers versteht, ist „Ausländer“. Es werden Fäuste fliegen, und einer der Freunde wird wegen Verletzungen die Nacht im Krankenhaus verbringen. Die Polizei ermittelt jetzt wegen gefährlicher Körperverletzung gegen den Türsteher. Qassem kann das Geschehene auch Tage später nicht begreifen. „Warum?“, fragt er, „warum haben sie uns nicht reingelassen?“
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