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Ein Blick von hoher Warte

ORAKEL Peter Scholl-Latour ist ein Welterklärer, für viele eine Art letzte Instanz. Wer profitierte von 9/11? Er selbst?

Ein Tee mit Gaddafi

Der Mann: Peter Scholl-Latour ist 1924 in Bochum geboren, im Saarland aufgewachsen und für Frankreich mit dem Fallschirm über Indochina abgesprungen. ■ Die Karriere: Er war Regierungssprecher des Saarlands, Afrika-Korrespondent der ARD, Leiter der Pariser Büros von ARD und ZDF und WDR-Programmdirektor. Nach kurzer Zeit als Stern-Chefredakteur arbeitet Scholl-Latour vor allem als Publizist und Autor von Dokumentarfilmen. ■ Die Abenteuer: Mit dem Raddampfer schipperte er durch den Kongo, mit Muammar-al Gaddafi trank er in den 70ern Tee, die Vietcong nahmen ihn für acht Tage gefangen, im Spürpanzer besuchte er Bundeswehrposten in Afghanistan.

AUS TOURRETTES-SUR-LOUP ARNO FRANK

Im Fernsehen oder im Buchhandel ist es ganz leicht, in Südfrankreich aber ist Peter Scholl-Latour nur schwer zu finden. Seine Villa liegt verborgen, wie es sich für ein Refugium gehört. Am Ausgang des malerischen Örtchen Tourrettes-sur-Loup bei Nizza muss man links abbiegen, und dann ist es die Villa „mit dem roten Golf oder Polo oder so was“ davor. Es ist ein versehrter Polo der ersten Generation, der da unter den Pinien parkt, am Klingelschild steht schlicht „Latour“.

Er öffnet persönlich: „Schön, dass Sie es gefunden haben“, und führt den Gast am Pool vorbei in den Garten, der sich in Terrassen zu einem mediterranen Panorama weitet. Rechts liegt blau das Meer und grün das Cap d’Antibes, umlagert von den weißen Jachten arabischer Monarchen und russischer Oligarchen. Links stehen die Flügeltüren zu seinem Büro offen. Eine Bücherwand, ein antiker Vorderlader an der Wand, darunter der Schreibtisch, an dem der 87-Jährige seit 1973 seine Bücher schreibt. Mit der Hand, wie er betont.

Wir setzen uns in den Schatten, links von ihm, weil er auf diesem Ohr besser hören kann. Scholl-Latour schenkt eisgekühltes Mineralwasser ein und sagt, mit einer beiläufigen Geste zur Küste hin: „Alles alte griechische Siedlungen“. Die saloppe Bemerkung, damit wären wir doch schon fast bei unserem Thema, dem Untergang von Imperien, kontert Scholl-Latour sofort: „Nein, die Griechen waren Händler, imperial wurde es erst mit den Römern, nicht wahr. Wir können übrigens gern auch einen Rosé trinken!“

Es dauert also eine Weile, dem gern von Hölzchen auf Stöckchen abwandernden Peter Scholl-Latour einige Antworten auf unsere eigentliche Frage zu entlocken: Wer hat vom Anschlag von 9/11 profitiert? Und wer nicht? „Wer nicht? Die USA! Eine hysterische Überreaktion war das von den Amerikanern damals, verstehe ich überhaupt nicht. Das britische Reich unter Königin Victoria beispielsweise hätte auch versucht, zurückzuschlagen und sich zu rächen. Aber das hätte keine solche Erschütterung ausgelöst.“ Natürlich habe der US-Präsident auf einen Stab exzellenter Ratgeber zurückgreifen können: „Er hat aber einfach nicht auf sie gehört. Und jetzt erleben sie ihre imperiale Überdehnung“, sagt Scholl-Latour und lässt ratlos die Schultern sinken. Zu groß sei vermutlich die geostrategische Versuchung gewesen, am Hindukusch Fuß zu fassen.

Scholl-Latour selbst thront auf einem selbst aufgetürmten Hochgebirge an Wissen, sein Blick fällt von hoher Warte. Schließlich kann sich der Deutschfranzose („Helmut Kohl nannte mich einmal einen Lotharinger, nach Lothringen, dem alten europäischen Kernreich“) auf einen über sechs Jahrzehnte erworbenen Schatz an Erfahrungen berufen. Gespräche geraten da notwendigerweise zur weltgeschichtlichen „tour d’horzion“. Ist die Verunsicherung groß genug, schlägt die Stunde der heroischen Pessimisten. Dann fragt man keinen „Experten“ mehr, dann wendet man sich an eine Instanz. Gehört der Islam zu Europa? Sein „Nein!“ kommt sofort und fällt wie eine Schranke. Das Abendland? „Ist römische Verwaltung, christlicher Glaube und germanische Kraft.“ Punkt. „Ich bin ja nicht eben als erzliberal bekannt“, sagt er noch und lässt sein eigentümlich inwendiges Kichern los.

„Der zweite große Verlierer von 9/11 ist, neben den USA, Israel“, sagt Scholl-Latour. Vor allem wegen seiner Borniertheit gegenüber Iran sei das Land heute isolierter als vor zehn Jahren.

„Ich kannte Chomeini so gut wie kein anderer Europäer. Der war nicht antijüdisch. Antizionistisch, ja, aber nicht gegen die Juden. Heute noch leben in Teheran unbehelligt 30.000 Juden. Sie dürfen nur keine Zionisten sein. Iran ist dagegen der große Gewinner von 9/11. Kein Staat hat so sehr von der amerikanischen Überreaktion profitiert, nicht wahr. Die USA haben Irans gefährlichste Gegner ausgeschaltet, Saddam Hussein im Westen und die Taliban im Osten. Wollen Sie nicht doch lieber einen Rosé?“

In Talkshows hat er es aus seiner Sicht meist „mit Idioten, nur mit Idioten“ zu tun und nervt diese Idioten damit, dass er alles besser weiß, alles schon gesehen, alles schon erlebt hat. Aufreizend ist dabei oft weniger, was er sagt, als wie er es sagt. Unduldsam und eloquent, geschult am Duktus des General de Gaulle. Das ungeduldig vernuschelte Deutsch desjenigen, der den schnellen Fluss des Französischen gewohnt ist. Dieses dauernde „Nicht wahr?“, das ein „N’est-ce pas?“ ist. Widerspruch duldet er durchaus. Nur begegnet er diesem mit der milden Höflichkeit eines Panzerfahrers, der wartet, bis die Entenfamilie endlich die Straße überquert hat, um dann unaufhaltsam fortzufahren.

Vom Iran geht diese Fahrt Richtung Türkei, die auch der 9/11 nicht so groß gemacht habe, dass sie wirklich Einfluss nehmen könne im Nahen Osten.

„Das ist eine stabile Mittelmacht, die aber ihre eigene Probleme mit den Kurden hat. Deshalb wird sie den syrischen Präsidenten Assad auch nicht so hart anfassen. Ich habe Erdogan früh kennengelernt, der hat das Interview unterbrochen, um zu beten. Ein profunder Mann. Der hat seine Töchter zum Studieren nach Amerika geschickt, weil sie in der Türkei an der Universität kein Kopftuch tragen durften. Erdogan hat meiner Ansicht nach osmanische Nostalgie. Er wird sich auch um Bosnien kümmern.“

Es hat eine Weile gedauert, aber Scholl-Latour hat inzwischen buchstäblich jedes Land der Erde besucht. Er kennt die Welt und verfolgt ihren Lauf nicht mit behaglichem Zynismus, aber doch mit kühler Skepsis. Wenn er sich erregt, dann über Tölpeleien. Wie etwa die Rede vom „Krieg gegen den Terror“. „Das gibt es nicht, was soll das sein? Terror ist eine Methode der Kriegsführung, und der kann man keinen Krieg erklären.“ Aber was ist mit dem Erstarken autoritärer Strömungen im Westen und den Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten nach 9/11?

„Die Amerikaner haben doch schon immer mitgehört! Aber dass inzwischen diese Durchsichtigkeit erreicht ist, auch bis ins Private hinein, das ist zutiefst bedauerlich. Es wäre illusionär, zu glauben, das ließe sich zurückdrehen. Es wird eher noch schlimmer werden. Wissen Sie, auch ich musste neulich am Flughafen die Schuhe ausziehen und wurde sehr freundlich kontrolliert. Übrigens von einer Frau mit Kopftuch.“

Die Schatten werden länger, Scholl-Latour geht sich ein Halstuch anziehen. Aus dem Haus bringt er eine Flasche Rosé und einen weiteren Gedanken mit. Die eigentliche Gefahr, sagt er, gehe von den Wahhabiten in Saudi-Arabien aus.

„9/11 war ein saudisches Unternehmen. Ich habe in Tschetschenien muslimische Freischärler erlebt, das waren umgängliche Leute. Und plötzlich kamen junge Männer, die in Saudi-Arabien ausgebildet waren, und plötzlich war eine Klappe da. Das Herrscherhaus lebt ja in Sünde, das sind Heuchler im Sinne des Korans. Und sie kaufen sich moralisch gegenüber ihrer teilweise sehr religiösen Bevölkerung frei, indem sie sagen: Wir unterstützen den Islam, notfalls auch den terroristischen.“

Widerspruch begegnet Scholl-Latour mit der milden Höflichkeit eines Panzerfahrers, der wartet, bis die Entenfamilie endlich die Straße überquert hat, um dann unaufhaltsam fortzufahren

Profitiert hätten überhaupt die arabischen Potentaten, die sich nach 9/11 auf die Seite der USA schlugen – und unter dem Deckmantel des „Kriegs gegen den Terror“ ihr eigenes Süppchen zu kochen. Beispiel: Ägypten. Auch hier mag Scholl-Latour nicht in den Jubel über die geglückte Revolution einfallen: „Tja nun, jetzt hat dort das Militär das Sagen. Und eine Armee neigt dazu, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.“

Eine Begegnung mit Peter Scholl-Latour ist wie eine Begegnung mit einer alten Schellackplatte, die ohnehin immer läuft. Man muss nur die Nadel auf die Rillen senken, um auch etwas zu hören. Es sind keine zeitgemäßen, es sind zeitlose Melodien. So klingt keiner mehr. Nicht heute, nicht in Deutschland.

„Am Mittelmeer entscheidet sich unser Schicksal. Seltsam, dass die Deutschen das nicht verstehen. Das hat sich jetzt auch in Libyen gezeigt. Es war völlig idiotisch, sich in der UNO zu enthalten. Da war schon die wilhelminische Außenpolitik intelligenter, die haben damals in Arabien wenigstens Eisenbahnen gebaut.“

Scholl-Latour nippt an seinem Glas, schenkt nach und wechselt die Gegend: „Die Chinesen haben das übrigens verstanden, sie sind auch Gewinner von 9/11, wenn man so will. Peking tritt überall mit leisen Sohlen auf, in Afghanistan wie in Afrika arbeiten sie still an einem merkantilen Imperium und bauen überall die Straßen.“

Es ist spät geworden, als uns der Hausherr zur Tür begleitet. Fast zu spät für die Frage, ob er denn für sich selbst so etwas wie einen konjunkturellen Aufschwung erlebt habe nach 9/11. „Am Anfang gar nicht. Erst als die Amerikaner in den Krieg zogen, häuften sich die Anfragen.“ Er sagt das, als wäre es ihm lästig, aber was will man machen: „Ich bin Journalist, nicht wahr?“

Geritten hat er das Thema als Autor auch nicht allzu lange. Das neue Buch, an dem er gerade sitzt, hat wieder nichts mit 9/11 zu tun: „Am Anfang wusste ich noch nicht, worüber ich überhaupt schreiben sollte. Aber dann kam das, was man jetzt so gern den ‚arabischen Frühling‘ nennt.“ Und schon senkte sie sich wieder, die Nadel.

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