: Brüder für den Moment
Schiitische Milizen konnten den „Islamischen Staat“ in der Gegend um Tikrit zurückdrängen. So ermöglichten sie auch Sunniten die Rückkehr in ihre Häuser. Doch die neue Allianz ist brüchig, das Misstrauen sitzt tief
AUS ALAM INGA ROGG
Ausgelassen drehen junge Kämpfer in dunkelgrünen Tarnuniformen Pirouetten, rhythmisch stampfen sie auf den Boden und schwingen dazu ihre Kalaschnikows in die Luft. „Wir alle sind Brüder“, brüllt einer der Kämpfer. „Mohammed ist unser Prophet. Unser Schicksal ist das gleiche. Verflucht sei der Konfessionalismus.“
Die Kämpfer der Badr-Organisation, einer der schlagkräftigsten schiitischen Milizen im Irak, feiern die Ankunft von Vertriebenen in Alam. Ihre Habseligkeiten in Autos und auf Pick-ups gepackt, sind zehn Familien in den sunnitischen Ort zurückgekehrt. „Gott schütze euch!“, ruft eine alte Frau den Kämpfern zu. „Sie sind mutig, sie haben uns gerettet.“ Dazu schwingt sie eine irakische Flagge, es ist allerdings die einzige, die in dem Ort rund zwei Kilometer östlich von Tikrit zu sehen ist. Am zentralen Platz mit einem Brunnen hängen eine schiitische Fahne und ein großes Plakat der Badr-Organisation. Im vergangenen Juni hatten die Extremisten des Islamischen Staats (IS) die Kleinstadt überrannt. Wie die Alte flohen die meisten damals, andere leisteten Widerstand, bis ihnen – von der Regierung in Bagdad im Stich gelassen – die Munition ausging. Anfang März starteten Milizionäre und versprengte Reste der irakischen Armee eine Großoffensive, um Tikrit und die umliegende Provinz Salaheddin zurückzuerobern. Vor zehn Tagen nahmen sie Alam ein. Verbrannte Autowracks und von Granaten- und Schusslöchern durchsiebte Läden zeugen von den Kämpfen. Doch die meisten Geschäfte an der Hauptstraße sind offenbar Plünderern zum Opfer gefallen: Die Scheiben sind eingeschlagen, das Mobiliar wurde geraubt, Kassen wurden aufgebrochen. Hin und wieder fährt ein Auto vorbei. Mit versteinerten Mienen starren die Fahrer und ihre Begleiter auf das Treiben an dem Platz. Drei Milizionäre posieren mit einer erbeuteten schwarzen IS-Fahne für Fotos. Aus einem Autoradio dröhnt in voller Lautstärke ein patriotischer Song. Sekunden später übertönen Salven von Freudenschüssen den hellen Tenor des Sängers.
Wie viele floh Hassan al-Juburi vor neun Monaten aus Alam. „Seit 2003 haben wir unter den Terroristen gelitten“, sagt der Ingenieur. Für einmal scheint das Wort von der schiitisch-sunnitischen Brüderlichkeit mehr als eine hohle Phrase. In seiner Villa überschlägt sich Scheich Khalid al-Juburi mit Lob für die schiitischen Kämpfer. „Sie haben niemandem ein Haar gekrümmt. Sie haben uns beschützt und uns mit Essen versorgt“, sagt der 31-jährige Stammeschef. Aus dem schiitischen Südirak erhielten die Bewohner jetzt Lastwagenladungen mit Lebensmitteln. „Die Regierung hat das Krankenhaus wieder geöffnet, und wir haben 24 Stunden am Tag Strom.“
Die Retter
Wollen die Milizionäre und Soldaten die IS-Fanatiker hier im sunnitischen Kernland bezwingen, müssen sie Stammeschefs wie Scheich Khalid für sich gewinnen. Alam und der hiesige Jubur-Stamm sind freilich ein Sonderfall. Der Stamm hat sich nicht nur wegen des Widerstands gegen den IS einen Namen gemacht, sondern wegen der Rettung von schiitischen Rekruten. Unmittelbar nach der Einnahme von Tikrit am 11. Juni hatten die IS-Extremisten Hunderte von unbewaffneten Rekruten verschleppt und ermordet, die auf dem Militärstützpunkt Camp Speicher nordwestlich von Tikrit stationiert waren. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass dem Kriegsverbrechen bis zu 1.150 Schiiten zum Opfer fielen. Angehörige des Jubur-Stammes versteckten damals wochenlang Überlebende, schmuggelten sie durch Feindesland oder gaben ihnen für die Reise in den Südirak sunnitische Papiere.
Knapp zehn Kilometer südlich von Alam ist von Brüderlichkeit keine Rede mehr. In Albu Ajil, einem kleinen Dorf des gleichnamigen Clans, regiert der blanke Hass. Die Schiiten werfen dem Clan Verrat und Komplizenschaft im Speicher-Massaker vor. „Wir werden sie kriegen“, sagt ein Milizionär.
In das Dorf hinein dürfen wir nicht. Doch vom Straßenrand kann man Häusern sehen, die offensichtlich mutwillig in Brand gesteckt wurden. Mitglieder von zwei anderen Milizen haben Videos zum Zeitpunkt der Einnahme des Dorfs veröffentlicht. In einem sieht man brennende Häuser, in einem anderem marschiert ein Milizionär durch ein zerstörtes Quartier am Tigris, wo die IS-Fanatiker viele der Speicher-Opfer umgebracht haben sollen. „Es war ein harter Kampf, aber wir haben das Dorf mit Mörsergranaten komplett zerstört“, sagt der Milizionär. In dem Dorf gebe es keine Zivilisten und auch keine „Daesh-Ratten“ mehr, wie er die IS-Kämpfer nennt. Und das solle so bleiben: „Wir werden hier bleiben bis zum Tod.“
Auf einem Hügel an der Straße Richtung Tikrit zeigen uns die Badr-Kämpfer ein Massengrab, in dem 13 Leichen entdeckt wurden. Ein Geistlicher in Militäruniform spricht ein Totengebet. Fünf Massengräber seien bisher entdeckt worden, sagt Moin al-Kadhimi, Abgeordneter im Bagdader Provinzparlament, der den Anzug wie etliche schiitische Politiker gegen die Milizenuniform ausgetauscht hat. Dafür müssten die Täter bestraft werden. Von Selbstjustiz will al-Kadhimi nichts wissen. Doch die hat es gegeben. Menschenrechtsorganisationen werfen den Milizen schwere Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht dar. In 47 Dörfern seien Moscheen, öffentliche Einrichtungen, Häuser und Läden geplündert und zerstört worden, berichtet Human Rights Watch. In der Provinz Diyala hinterließen die schiitischen Kämpfer ebenfalls verbrannte Erde. In anderen Gegenden haben Milizionäre unbewaffnete Gefangene brutal ermordet. An den Verbrechen sollen auch Badr-Einheiten beteiligt gewesen sein. Sunnitische Politiker beschuldigen die Milizionäre, bei der Offensive auf Tikrit Verbrechen begangenen zu haben. Die Badr-Kämpfer bestreiten das heftig. „Wir tun niemandem etwas an“, sagt einer. „Damit wollen sie nur unser Ansehen in den Schmutz ziehen.“
Auf der vierspurigen Straße zwischen Tikrit und Bagdad sind wir fast allein. Nur ab und zu begegnen uns ein paar Miliz- und Militärfahrzeuge. Auf einem Feld schuften Frauen, in einem Wasserloch weiden sich ein paar Wasserbüffel. Überall wehen schiitische Fahnen, selbst an den Checkpoints hängen die Embleme von Milizen, von denen es inzwischen so viele gibt, dass selbst Iraker den Überblick verloren haben. Vor uns taucht das Spiralminarett von Samarra auf. Ein Anschlag auf den Askeri-Schrein, eines der bedeutendsten schiitischen Heiligtümer, war vor neun Jahren der Auslöser für den schiitisch-sunnitischen Krieg im Irak. Im letzten Sommer drohte der IS von hier aus sogar Bagdad zu überrennen. Heute wirkt Samarra wie eine Garnisonsstadt. Umso weiter wir nach Norden kommen, umso gespenstischer wirkt die Gegend. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Vereinzelt tauchen zerbombte Gebäude auf, dazwischen viele demolierte und geplünderte Geschäfte.
Kurz vor Dawr, der Heimatstadt von Izzetin Duri, dem untergetauchten Vize von Saddam Hussein, endet unsere Fahrt jäh. Der Ort südlich von Tikrit, in dem sich auch das Grabmal von Saddam befand, wird von der Kataib Hisbollah kontrolliert. Theoretisch unterstehen alle Milizen Badr-Chef Hadi al-Ameri. Doch hier endet seine Macht. „Hier kommen keine Amerikaner durch,“ sagt der Checkpoint-Kommandant. Badr-Kämpfer springen aus ihren Wagen, stürmen auf den Checkpoint zu, beide Seiten zücken ihre Waffen. Die Hisbollah-Kämpfer bleiben stur. Nach ein paar Minuten heißt es Umkehren. Es folgen hitzige Telefonate und Funksprüche, bis irgendwer den Befehl gibt, uns durchzulassen. Aber: „Keine Fotos!“ Ein finster blickender Kämpfer marschiert die Kolonne ab und bläut jedem Einzelnen den Befehl ein. „Auch nicht mit dem Handy!“, raunzt er.
Verweist und verwüstet
Wie die anderen Orten ist auch Dawr verweist, und auch hier sind sämtliche Geschäfte verwüstet. Auf einer sunnitischen Moschee weht die Hisbollah-Fahne. An jeder Straßenecke stehen gepanzerte Fahrzeuge der paramilitärischen Bundespolizei. Darüber hinaus sieht man aber auch die Spuren, die der IS hinterlassen hat. Groß wie ein Betttuch haben die Extremisten die Fahne ihres Kalifatsstaats auf eine Mauer gesprüht. Hauswände sind mit antischiitischen Parolen beschmiert.
Wenn sich die Milizen schon jetzt in die Haare kriegen, was passiert erst, wenn der Krieg gegen die IS-Fanatiker gewonnen ist? Bis dahin ist es freilich noch ein langer Weg. Die Offensive auf Tikrit wurde erst einmal eingestellt. Um die noch verbliebene Zivilbevölkerung zu schützen, heißt es offiziell. Diplomaten bezweifeln diese Darstellung. Die bisherigen Erfolge der Milizen beschränkten sich auf kleinere Orte, sagt ein westlicher Diplomat. Für eine Großoffensive hätten die Milizen nicht die Kapazität. Daran scheint auch die iranische Unterstützung wenig zu ändern.
Um die eroberten Gebiete dauerhaft zu halten, müssten die Einheimischen zurückkehren. Aber selbst in Alam misstrauen die Schiiten den Sunniten. Am Checkpoint wirft ein Kämpfer, der sich Mohammed nennt und eben noch die irakische Einheit beschworen hat, den Heimkehrern ein abschätzigen Blick zu. „Früher waren sie Daesh, jetzt preisen sie uns“, sagt er. „Das sind alles Gauner.“
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