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Aus Protest gegen DVU

■ Unter den 2.300 ErstwählerInnen in Bremen sind immer mehr Ältere: Wieviele eingebürgerte MigrantInnen gestern zum ersten Mal ihr Kreuz machten, weiß niemand

Das Schild am Eingang zum Schulzentrum Helgoländerstraße verrät, wer in diesem Stadtteil wohnt. Auf türkisch heißt es hier: Der Zugang zum Sekretariat liegt über den Schulhof. Aber am gestrigen Wahlsonntag waren die WallerInnen türkischer Herkunft die Minderheit in dem zum Wahllokal umfunktionierten Backsteinbau, wo alltags so viele ihrer Kinder lernen. „Keinen deutschen Paß“, schütteln viele PassantInnen auf der Straße den Kopf. Manche zucken die Schulter. „Leider.“ Fast schon eine Ausnahme ist der schwarzgelockte Opelfahrer, der, keine hundert Meter vom Wahllokal in der Schule Pastorenweg, seiner Familie zuschaut, während die ins Auto klettert: „Ich will nicht wählen“, sagt er. Trotz deutschem Paß: „Interessiert mich nicht.“

Gonca E. kennt solche Fälle. „Es gibt viele, die wählen dürften, aber gar nicht wählen wollen“, sagt die 25jährige Studentin der Wirtschaft und Soziologie. Sie selbst ist gestern zum ersten Mal persönlich zu einer Wahl erschienen. Für die Tochter eines türkischen – wie sie selber sagt – Gastarbeiters hat damit eine neue Zeitrechnung begonnen. „Ich bin bewußter geworden“, sagt sie. Und auch selbstbewußter – „nicht nur, weil ich weiß, sobald ich den deutschen Paß zücke, werden weitere Fragen nicht folgen.“ Sondern weil sie politische Entscheidungen bis in Detail mitträgt. „Es war für mich klar, daß ich wählen gehe“, sagt die junge Frau aus Gröpelingen. Im Vorfeld der Wahlen hatte die türkische Studentenorganisation an der Bremer Uni, der sie angehört, eigens ein Wochenendseminar abgehalten. „Jetzt nehmen uns auch die Politiker endlich wahr“, ist Gonca E. zufrieden. „Sie wissen, wir sind neue Wählerschichten.“

„Ein bißchen komisch“ kommt ihr die politische Bilanz ihres relativ kurzen Lebens dennoch vor: „Erst seit ich den Paß habe, registriere ich überhaupt, wann Wahlen sind.“ In ihrer Familie, einer Einwandererfamilie, sei das einfach nie ein Thema gewesen. „Wir waren so außerhalb des Geschehens“, sagt sie und klingt ein bißchen irritiert dabei. Zwar sei der Vater CDU-Mitglied. „Aber wählen kann er ja nicht, weil er die türkische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben würde. Wegen der Gefühle.“ Gonca hat da andere Gefühle – und foppt den Vater deswegen auch. „Manchmal frage ich ihn, ob er nicht mal für die CDU Unterschriften sammeln will“, lacht sie. Die Doppelpaß-Kontroverse hat ihr die CDU nicht sympathisch gemacht. „Aber was ich wähle, verrate ich trotzdem nicht“, steht sie lachend im Schulhof der Schule Fischerhuder Straße, Ecke Morgenlandstraße.

Hierher kamen gestern auch Ali und Habibe P. Seit 30 Jahren lebt das Ehepaar in Deutschland; der 46jährige ist bei den Stahlwerken beschäftigt. „Aber gewählt haben wir bisher noch nie“, sagen die beiden, „Briefwahl gibt es in der Türkei nicht.“ Erst seit ein paar Monaten ist für sie alles anders: Im April haben sie den deutschen Paß erhalten – und die Einbürgerung gemeinsam mit deutschen Nachbarn gefeiert. „Endlich“, sagt Ali E. Die Ausbürgerung aus der Türkei habe viel Zeit gebraucht. Viel mehr, als die Entscheidung, wen er wählen würde. Schließlich machten, solange er in Bremen lebe, die Sozialdemokraten ihre Sache gut. Auch habe man den Bürgermeister des öfteren in den Moscheen ein- und ausgehen gesehen. „Die Politiker müssen nahe an den Problemen der Menschen sein“, meint das Ehepaar. Die CDU dagegen sei bei ihnen ins Hintertreffen geraten, nachdem Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl der Türkei den Zutritt zur EU vermasselt habe. „Zu Wählen ist ein schönes Gefühl“, sagen die beiden schlicht.

So sieht es auch die 20jährige Ayse K. Dabei hält sich die junge Frau „eigentlich für nicht politisch.“ Trotzdem war sie gestern, angespornt vom DVU-Slogan „Protest wählen“, auf dem Weg ins Volkshaus. Die junge Erstwählerin wollte gegen die ausländerfeindliche DVU ein Zeichen setzen – ihre Art, Protest zu wählen. Schon das sei ein guter Grund, zur Wahl zu gehen, meint sie. Seit April hat sie ihren deutschen Paß.

Fast zwei Jahre zuvor bekam den deutschen Paß auch Cemal E., allerdings auf Umwegen. Der 36jährige Gemüsehändler hatte über 10 Monate auf die Einbürgerung gewartet, bis er endlich gegen die Verschleppung im Innenressort vor Gericht zog. Erfolgreich. Die Innenbehörde mußte seinen Prozeß bezahlen. Gestern machte Cemal E., der mit 17 Jahren in die Bundesrepublik eingewandert war, zum ersten Mal im Leben ein Kreuz auf einen Stimmzettel. „Das ist die Antwort, die wir als Bürger geben“, sagt er feierlich. Wieviele der rund 2.300 Bremer ErstwählerInnen fühlen wie er, wird man nie erfahren. Über sie wird keine Statistik geführt. ede

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