: Kein Maß außer Mittelmaß
In der Frontstadt gab es weder soziale noch räumliche Hierarchien. Heute hindert diese Erfahrung Berlin an seiner Entwicklung.Für Großbürgertum und Low-Budget-Life ist bis heute kein Platz vorgesehen. Teil III der Serie „Arche WB“
vonHANS WOLFGANG HOFFMANN
Gut, da ist die Architainmentenklave Potsdamer Platz. Doch welche anderen Quartiere ließen sich herzeigen, denen Berlin während des Baubooms unverwechselbare Identität verliehen hat? Das Band des Bundes und das Diplomatenviertel scheiden aus, da sie nicht Produkte der Stadt, sondern des Regierungsumzugs sind.
Er bescherte auch der Friedrichstadt die Wiederbelebung als Repräsentationsraum. Als zentraler Kommerzkorridor der Stadt konnte sich die Friedrichstraße dagegen nicht entwickeln, obwohl sie ursprünglich als solcher angelegt war. Denn die Massen neuer Läden wurden unter dem Leitbild einer „polyzentralen Stadt“ gleichmäßig über alle Bezirke verteilt, sodass Berlin heute in der Innenstadt weniger Handelsflächen versammelt als das ungleich kleinere Hamburg. Ebenso verfuhr die Politik auch mit neuen Kino-Centern, sodass auch der Hackesche Markt weit weniger profiliert ist als zu jener Zeit, da er sich als Vergnügungsviertel etablierte.
Ebenso bezeichnend ist es, dass alle diese leidlich erfolgreichen Quartiere an der Peripherie des Zentrums liegen. In der Mitte der Mitte vermochte Berlin historische Rollenbilder freilich genauso wenig auszuleben wie am richtigen Rand der Stadt: Für die Spreeinsel existiert auch zehn Jahre, nachdem sie als Orientierungsort der DDR ausgedient hatte, nicht einmal ein tragfähiges Ideenfundament, geschweige denn, dass irgendetwas von Belang geschehen wäre. Ebenso dämmert die grandiose Freizeitlandschaft Köpenicks weiter vor sich hin.
Tatsächlich spielten sich gerade an der Peripherie Projekte ab, die – gemessen am Bauvolumen – Chancen zur Profilierung der Gesamtstadt geboten hätten. Doch was von den Entwicklungsgebieten, insbesondere Biesdorf-Süd, der Wasserstadt am Spandauer See oder der Eldenaer Straße bis heute als Planskizze vorliegt, verspricht nur formal normale, mäßig verdichtete Quartiere ordinären Wohnens und Arbeitens. Sie geben Berlin nichts, weshalb der Senat sich ständig rechtfertigen muss, warum er sich gerade dort mit Milliarden Mark engagiert.
Andere, heute schon vollendete Vorhaben wie die „Neuen Vorstädte“ widersprachen überdies der lokalen Logik: So steht man im Einfamilienhausteppich von Französisch Buchholz unvermittelt vor vierstöckigen Wohnblocks von Innenstadt-gemäßer Gestalt. Der gemeinsame Nenner all dieser Beispiele: Berlin fehlt offensichtlich das Gefühl für räumliche Hierarchien.
Das exponierteste Exempel findet sich schließlich in der Innenstadt: Kurz bevor Stresemann- und Wilhelmstraße zusammentreffen, sieht man gerade dreigeschossige Reihenhäuschen, die gut nach Südende, aber nicht in die südliche Friedrichstadt passen.
Freilich entstand diese Stadtrandidylle nicht nach der Wende, sondern in den Achtzigerjahren im Rahmen der Internationalen Bauausstellung, die gemeinhin als das Beste gelobt wurde, was Westberlin städtebaulich hervorgebracht hat. Damit wäre der Ursprung des Mangels an Gefühl für räumliche Hierarchien ausgemacht.
Die Frontstadt kannte nur eine, dafür um so totalere Abstufung: zwischen Stadt und Nicht-Stadt. Vom Umland abgeschnitten, konnte man es sich nicht als Komplementär, sondern nur als Konkurrent denken. Von der historischen Mitte abgenabelt, verlor man zwangsläufig jeden Sinn für Zentralität, entwickelte stattdessen eine „polyzentrale“ Stadtvorstellung, in der Tiergarten und Tegeler Forst denselben Stellenwert einnahmen und an denen die IBA identisch baute.
Tatsächlich lassen die Reihenhausidyllen der südlichen Friedrichstadt erkennen, dass Westberlin jedes Hierarchiegefühl nicht nur räumlich vermissen ließ, sondern auch sozial. Spätestens nach dem Mauerbau ergriffen alle Eliten die Flucht.
Fortan war die Frontstadt von Zuwendungen des Staates abhängig, dessen Handeln zuvorderst auf gleiche Lebensverhältnisse aller seiner Bürger zielte. Für die Vorstellung, dass eine Stadt ihre Energie aus der Vielfalt ihrer Orte und Lebensformen bezieht, war kein Platz mehr.
Stattdessen regierte das Mittelmaß. Es hatte keine Penner zu geben, und das gesellschaftliche Hauptereignis bestand in Harry Ristocks alljährlicher Laubenpieperparty. „Stadt“ wurde nurmehr im sozialen Wohnungsbau errichtet, der alle Unterschiede zwischen Marienfelde und Kreuzberg nivellierte und mitnichten nur die wirklich Bedürftigen versorgen wollte, sondern breite Teile der Bevölkerung.
Seine Standards wurden selbst für Altbauten durchgesetzt, erst durch Abriss, dann gezwungenermaßen mit Bewohnern. Im Ergebnis war 1990 fast die Hälfte aller Berliner Wohnungen gemeinwirtschaftlich gebunden. Noch heute leidet das Land Berlin unter den finanziellen Folgen: Fast vierzig Prozent seiner Schulden resultieren aus der Wohnungsbauförderung und davon geht wiederum der allergrößte Teil auf das Konto Westberlins. Noch in der ersten Jahren nach der Wende setzte Berlin diese Politik fort und förderte alljährlich den Neubau von rund 20.000 entsprechend gebundener Apartments. Mittlerweile hat der Senat deren Zahl zwar auf nahezu null gesetzt.
Indem er sich nunmehr ausschließlich auf Eigentumseinheiten konzentriert, pflegt er freilich genau die Frontstadtpfründen: Der Mittelstand steht weiter im Mittelpunkt, obwohl er sich auch durch das preiswerteste Eigenheim nicht in der Stadt halten lässt, wie zum Beispiel Hamburg schon in den Siebzigerjahren erfahren musste. Zugleich werden andere gesellschaftliche Gruppen von der Baupolitik weiter ignoriert.
Wie schlecht die Stadt Großbürger empfängt, musste zum Beispiel die ehemalige Senatsbaudirektorin erfahren. Als Barbara Jakubeit 1995 in die Stadt kam, fand sie keine angemessene Wohnung und inszenierte drei Jahre später prompt die Studie „Das städtische Wohnpalais“, das sich explizit um diese Zielgruppe bemühte. Da aus dem Projekt nichts wurde, müssen sich die Eliten weiterhin selbst helfen, wofür sie immerhin die Mittel haben dürften.
Viel kritischer wirkt sich die Baupolitik auf Berlin freilich aus, wo sie jene berührt, die hier erst noch etwas werden wollen. Dass Low-Budget-Life eine Chance darstellt, will die Stadt bis heute nicht sehen. Entsprechend ging sie daran, seinen wichtigsten Standortfaktor zu beseitigen: billigen Wohnraum.
Seit 1990 wurden in vermeintliche Armenhäuser weit über 16 Milliarden Mark investiert. Bei Plattenbauten und mehr noch in den Gründerzeitquartieren erfolgte die Sanierung weit energischer als anderswo. Während etwa Brandenburg erst ein Drittel der Arbeiten abschließen konnte, liegt die Quote in Berlin fast doppelt so hoch. Das heißt, dass bei weitem mehr aufgewertet wurde, als nur unbewohnbare Häuser in Stand zu setzen.
Schon heute kann der Mietspiegel kaum mehr Kleinwohnungen ohne Bad und Innentoilette ausmachen. Mietsprünge sind indes selbst für die 170.000 Einwohner absehbar, welche die Politik durch Sanierungsrecht zu schützen können glaubte. Nachdem Gerichte Preisbindungen für rechtswidrig erklärt haben, ist die Gefahr real geworden, dass es kaum noch wirklich billige Wohnungen gibt, wie sie etwa studentische oder ausländische Zuwanderer nachfragen, auf welche die Stadt schon zum Ausgleich ihres demographisch bedingten Bevölkerungsschwunds angewiesen ist.
Heute ist weder im Sanierungsbereich noch bei den Entwicklungsgebieten ein wirkliches Umsteuern absehbar. Es reicht offensichtlich nicht, dass die mittelmaßfixierte Baupolitik Berlins Chancen bereits mit Milliarden Mark verbaut hat.
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