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„Das gehört nach Berlin“

Die 73-jährige New Yorkerin Rose Winterfeldt hat dem gestern eingeweihten Jüdischen Museum Andenken an ihren Vater überlassen. Der war nach dem Zweiten Weltkrieg der erste Kantor in Berlin

von DANIELA MARTIN

Die Situation ist nicht einfach für Rose Winterfeldt. Mit Deutschen ihrer Generation könne sie keine zehn Worte sprechen, sagt die 73-Jährige: „Das Misstrauen ist da.“ Und wenn sie sich doch einmal überwinden kann, nach Deutschland zu fahren, ist sie „nicht gerne“ dort. Trotzdem hatte sie vor zwei Jahren auf den Aufruf des Jüdischen Museums reagiert, das Objekte und Dokumente für seine Dauerausstellung suchte. Bücher, religiöse Gegenstände und Fotos aus dem Besitz ihres verstorbenen Vaters Edmund Lehmann hat sie dem Museum zur Verfügung gestellt.

Sie hofft, dass ihr Vater damit den Platz erhält, den er in ihren Augen verdient. Denn seine Rolle als erster Kantor in Berlin nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und beim Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde sei bisher kaum gewürdigt worden. Und trotz ihres Unbehagens gegenüber Deutschland scheint ihr das neue Museum ein passender Ort zu sein.

„In Berlin war mal eine bedeutende jüdische Gemeinde, und meine Vorfahren gehörten dieser Gemeinde an“, betont sie. Sie hätte die Gegenstände ansonsten nach ihrem Tod Jad Vaschem oder dem Holocaust-Museum in Washington vermacht. Diese Lösung sei ihr allerdings am liebsten. „Die Sachen“, sagt sie, „gehören nach Berlin.“

Ihr Vater hatte sein ganzes Leben lang in Berlin gelebt. Edmund Lehmann wurde hier 1896 als Sohn einer konservativen jüdischen Familie geboren. Er diente als Soldat im Ersten Weltkrieg, studierte an der Humboldt-Universität Nationalökonomie und moderne Sprachen und arbeitete anschließend als Rechtsberater beim Textileinzelhandelsverband. Parallel dazu wurde er als Kantor ausgebildet und sang ab 1928 an allen hohen Feiertage im Jüdischen Waisenhaus.

1926 heiratete er Gertrud Kramer, die kurz vor der Hochzeit zum Judentum konvertiert war. Diese Ehe sollte ihm und der Tochter Rose das Leben retten. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verlor Lehmann 1933 seinen Arbeitsplatz. Er nahm andere Jobs an, versuchte sich unter anderem als Verkäufer.

Ab 1935 oder 1936 wurde zu Hause zunehmend darüber gesprochen, dass ihre Mutter aus einer christlichen Familie stammte. „Es war für mich ein Schock“, erinnert sich Rose Winterfeldt. „Ich hatte doch alles über das Judentum von meiner Mutter gelernt.“

Wie die Familie während des Holocaust in Berlin überlebte, ohne in den Untergrund gehen zu müssen, darüber will Rose Winterfeldt nicht sprechen. „Mein Vater und ich haben Zwangsarbeit geleistet und den gelben Stern getragen“, fasst sie die Jahre zusammen. „Und so haben wir überlebt.“ In einer hocheleganten Wohnung habe die Familie 1933 gelebt, bei Kriegsende sei sie völlig verarmt gewesen, fügt sie auf näher Nachfrage hinzu. „Aber wir haben überlebt“, wiederholt sie, „wir haben überlebt.“ Alle anderen aus der Familie ihres Vaters wurden ermordet.

Dass die Lehmanns durch die Kriegsjahre kamen, lag auch an vereinzelten „guten Deutschen“, die ihnen heimlich Lebensmittelkarten zusteckten oder anonym Heizkohle vor der Wohnungstür abstellten.

Die größte Unterstützung kam von den Eltern und der Schwester der Mutter. Als die Situation für die Juden immer bedrohlicher wurde, nahm die Schwester Hilde Krüger viele wertvolle Gegenstände der Familie Lehmann in Verwahrung. Unter ihnen waren eine Besamim-Büchse aus dem Jahr 1910 und ein silberner Thorazeiger von 1909, die beide im Jüdischen Museum ausgestellt sein werden.

Die Besamim-Büchse wurde bis zum Frühjahr 1939 am Ende des Sabbats benutzt. Die Tradition wurde jäh unterbrochen, als Juden Schmuck und Waren aus Edelmetall abgeben mussten und die Dose versteckt wurde. 1945 kam sie wieder zum Einsatz. „Ich erinnere mich an die Zeit nach dem Krieg, als es uns schon wieder gut ging. Mein Vater, der sehr genau war, hat am Sonnabendabend nachgesehen, ob drei Sterne am Himmel waren. Dann wurde die eine Kerze angezündet, an der Besamim-Büchse gerochen, und dann hat er sich eine Zigarre angesteckt. Das war sein Ritual am Ende des Sabbats“, erzählt Rose Winterfeldt.

Auch der silbernen Thorazeiger ist der Tochter seit ihrer Kinderzeit vertraut. Edmund Lehmann hatte ihn 1909 zu seiner Bar-Mizwa bekommen. Winterfeldt vermutet, dass er ihn immer mitnahm, wenn er in der Synagoge vorbetete. „Mein Vater war ein sehr guter Thoraleser“, sagt sie noch heute stolz. Nach 1945 hatte die Familie eine Thora zu Hause, und der Vater gebrauchte den Thorazeiger nur noch hier. Kantor Lehmann arbeitete dann auch als Religionslehrer und benutzte die silberne Hand, um Jungen auf ihre Bar-Mizwa vorzubereiten. Die Spuren des sechs Jahrzehnte langen Gebrauchs haben sich tief in den Gegenstand eingegraben. „Man kann die Stelle erkennen, an der sein Fingernagel immer auflag“, sagt Rose Winterfeldt.

Dass die Lehmanns nach Kriegsende in Deutschland blieben, lag an den Wirren der Nachkriegszeit. Sie hatten zwar im Jahr 1946 ein Affidavit, um in die USA ausreisen zu können, lebten aber inzwischen in der Ostzone. Und deren Bewohner durften nicht in die USA einreisen.

1949 zog die Familie in den Westsektor. Lehmann war inzwischen hauptamtlicher Kantor der Jüdischen Gemeinde in Berlin, arbeitete als Prediger und Religionslehrer. Auch seine Tochter Rose hatte in der Verwaltung der Jüdischen Gemeinde an der Oranienburger Straße einen Job gefunden.„Ich habe nur in der Jüdischen Gemeinde gearbeitet und hatte deshalb nur mit Juden zu tun“, sagt sie. Kontakt mit älteren Deutschen mied sie und sprach nur mit jüngeren Menschen.

Von 1952 bis 1956 war die junge Frau Sekretärin von Heinz Galinski, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin und späteren Zentralratsvorsitzenden. In dieser Zeit, sagt sie, dachte innerhalb der Jüdischen Gemeinde niemand mehr ans Auswandern. „Es gab die Wiedergutmachungsgesetze, und die wirtschaftlichen Verhältnisse wurden besser.“

Sie selbst ging trotzdem in die USA – aus Liebe. 1955 nämlich war ihr Jugendfreund nach Berlin zu Besuch gekommen. Er hatte Auschwitz überlebt und wohnte inzwischen in Amerika. Die beiden beschlossen zu heiraten. Die Zeremonie fand 1956 in der Berliner Wohnung der Eltern statt. Zu den Gästen gehörte Estrongo Nachama, ein Freund der Familie und Oberkantor der Jüdischen Gemeinde. Das frisch gebackene Ehepaar übersiedelte nach New York, Winterfeldts Eltern blieben in Berlin.

Als Edmund Lehmann 1972 starb, löste Rose Winterfeldt seine Wohnung auf und nahm wertvolle und persönliche Gegenstände mit in die USA. Aus diesem Erbe stammt das Paket, das sie für das Jüdische Museum geschnürt hat. Dazu gehört auch eine neunbändige Ausgabe der Gebetbücher für Feiertage; die Bücher stammen aus den Jahren 1874 bis 1893. „Mein Urgroßvater und vielleicht auch mein Großvater hatten diese Bücher gekauft“, erläutert sie. Auch sie hatten den Krieg im christlichen Versteck bei der Schwester überdauert.

Die lange Berliner Familientradition dokumentieren alte Fotografien der Urgroßeltern. Sie stammen vermutlich aus der Zeit ab 1845 und machen laut Winterfeldt sichtbar, dass sie „wohlhabende Leute“ waren. Ein Jahrhundert jünger ist ein Purimspiel aus dem Jahr 1946 oder 1947, das Edmund Lehmann geschrieben und mit Kindern einstudiert hatte. Das jüngste Objekt ist ein Kiddusch-Becher aus dem Jahr 1956, den Edmund Lehmann zum 60. Geburtstag von der Jüdischen Gemeinde geschenkt bekommen hatte.

Diese Leihgaben gehen nach Angaben von Museums-Pressesprecherin Eva Soederman ebenfalls ins Historische Archiv, das für wissenschaftliche Forschungen zugänglich sein wird. Außerdem sollen immer wieder Ausstellungsstücke in der Dauerausstellung ausgetauscht und in Wechselausstellungen gezeigt werden.

Alle Gegenstände aus dem Lehmannschen Erbe lagern bereits seit April 2000 in Berlin. Die Bücher hatte Rose Winterfeldt vorab geschickt, den Rest hat sie persönlich vorbeigebracht, als sie zum 70. Geburtstag ihrer christlichen Kusine ausnahmsweise mal wieder nach Deutschland gereist war. Von den „wunderbaren jungen Frauen im Museum“ ist sie jetzt noch begeistert. Und so wollte sie auch zur Eröffnung des Museums wieder nach Deutschland reisen.

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