: Das letzte Staatsoberhaupt
von HEIKE HAARHOFF
Die erste Notlage, in der Sabine Bergmann-Pohl durch schnelles Handeln auffiel, hat bis heute Spuren hinterlassen: eine kronkorkengroße Narbe am rechten Unterarm. Gunther Geserick betrachtet die Reste seiner bald vier Jahrzehnte alten Wunde. „Ich hatte mit dem Furunkel so lange gewartet, bis es wirklich böse für mich aussah.“ Er brauchte eine Operation, besser sofort als gleich. „Da sagte sie zu mir: ‚Ich rufe jetzt meinen Vater an, der ist doch Chirurg‘.“ Mutig war diese Tat Mitte der 60er-Jahre in der DDR nicht, musste sie auch nicht sein, aber dafür: hilfsbereit, unkompliziert, lösungsorientiert. Gunther Geserick sagt: „So habe ich unsere Sabine immer gekannt.“
Er ist mittlerweile 64 Jahre alt und Professor für Rechtsmedizin an der Berliner Humboldt-Universität. Hier, in dem Gebäude mit Blick auf die Charité und den Dorotheenstädtischen Friedhof hat er mit Sabine Bergmann-Pohl zusammengearbeitet, von 1964 bis 1966, im Labor im dritten Stock. Er als Assistenzarzt, sie als Praktikantin, die nach dem Abitur als Tochter eines so genannten Intelligenzlers zunächst keinen Medizinstudienplatz erhielt, dann doch Lungenfachärztin wurde und später die Ostberliner Bezirksstelle für Lungenkrankheiten und Tuberkulose leitete. Und schließlich, kaum dass die Mauer gefallen war, eine politische Karriere machte, die ganz oben begann: Präsidentin der letzten Volkskammer, als solche zugleich das letzte Staatsoberhaupt der DDR.
Nach der Einheit wurde sie Bundesministerin ohne Geschäftsbereich, später parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium und seit 1998, seit der Abwahl der Regierung Kohl, CDU-Bundestagsabgeordnete. Heute ist Sabine Bergmann-Pohl 56 Jahre alt. Dem nächsten Parlament wird sie nicht mehr angehören.
Gunther Geserick kennt die Eckdaten ihrer Biografie auswendig. „Sie hat all die Jahre den Kontakt gehalten.“ Sein Staunen über ihre Entwicklung ist deswegen nicht geringer geworden. „Emsig, wissbegierig, aufgeschlossen, kontaktfreudig, keck“, die Adjektive sprudeln nur so aus dem Mediziner heraus, wenn er seine ehemalige Praktikantin beschreiben soll. Aber politischen Ambitionen? Er überlegt. „Nein, die waren nicht zu erkennen. Sie ist ein meinungsfreudiger Mensch, aber kein ausgemacht politischer.“
Noch sieht ihr Büro im Abgeordnetenhaus in Berlin nach zu beantwortender Post, offenen Akten und viel benutzter Fachliteratur aus, und auch Sabine Bergmann-Pohl macht nicht den Eindruck, als sei sie angetreten zu hektischen Aufräumarbeiten, wie sie so entspannt da sitzt in Pastellblau, die kurzen Haare schwungvoll gefönt, am Handgelenk eine Golduhr, die Fußnägel lackiert.
„Ich habe die Entscheidung schon vor eineinhalb Jahren getroffen.“ Sie hatte Zeit, sich auf ihren Ausstieg aus der Politik vorzubereiten. Daher die Ruhe wenige Wochen vor dem Abschied und die Sicherheit, den Entschluss nicht zu bereuen. Sie hatte das Gefühl, zu wenig Impulse zu geben. Sich nach 12, 13 Jahren im Kreis zu drehen. Enttäuscht oder gar verbittert klingt das nicht. Sondern eher wie eine Einsicht, die sich allmählich durchgesetzt hat. Dass sie es überhaupt so lange ausgehalten hat, wundert sie manchmal selbst: „Wenn Sie sich meine Geschichte angucken, dann stellt sich die Frage: Wie kommt Lieschen Müller zur Politik?“
Lieschen Müller. Sabine Bergmann-Pohl ist selbstbewusst genug, mit ihrem Image humorvoll umzugehen. „Man musste sich in der DDR doch irgendwie arrangieren. Es konnnten doch nicht alle ausreisen.“ Und ebenso freimütig sagt sie: „Ich war nie Bürgerrechtlerin, ich hatte nicht den Mut, mich gegen den Staat aufzulehnen.“ Bloß zu tun haben wollte sie mit dem SED-Regime eben möglichst wenig – und genau diese Haltung führte sie paradoxerweise in die Politik. Als sich 1981 abzeichnete, dass ihre Karriere als Medizinerin stagnieren könnte, falls sie nicht Parteimitglied würde, wagte sie die Auseinandersetzung mit der SED nicht. Stattdessen trat sie in die CDU ein. Wer in einer Blockpartei war, den ließ die Einheitspartei in Ruhe. Sabine Bergmann-Pohl suchte sich die CDU aus. Wegen des Wortes „christlich“ im Namen. „Wenn Sie so wollen, bin ich in die CDU ausgewichen.“ Ihre parteipolitische Aktivität beschränkte sich darauf, sich für Behinderte und Drogenabhängige einzusetzen. Mehr wollte sie nicht, auch nicht nach dem Mauerfall.
Das sah die CDU-Ost anders. Im Wendejahr 1989/90 brauchte sie Personal, insbesondere nach ihrem überraschenden Sieg bei den ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990. Viel Auswahl hatte Lothar de Maizière, der starke Mann der CDU, nicht: Wer schon zuvor aktiv Politik gemacht hatte, war diskreditiert. Sabine Bergmann-Pohl galt als unbelastet.
In Weißensee/Pankow war sie ihm schon aufgefallen, bei einer Veranstaltung im Spätherbst 1989. Es hagelte Stasi-Vorwürfe, Misstrauensanträge, Denunziation. Da mischte sich eine hoch gewachsene, blonde Frau Mitte 40 ein: moderierend im Ton, integrierend in der Sache. Sabine Bergmann-Pohl. Haben wollte sie der spätere DDR-Ministerpräsident zunächst trotzdem nicht, jedenfalls nicht als Präsidentin aller Abgeordneten. „Sie war immer so aufgeregt, wenn sie Erklärungen öffentlich verlas“, sagt de Mazière. „Man bibberte richtig mit ihr mit.“
Sein Favorit: der redegewandte evangelische Präses Reinhard Höppner. Ein Sozialdemokrat. Aber zu diesem Zugeständnis an den Koalitionspartner war de Maizière bereit. Im Gegenzug spekulierte er auf zwei zusätzliche Ministerämter für seine CDU. Doch die eigene Fraktion wollte eine Frau. Unbedingt. „Am liebsten eine zweite Rita Süssmuth.“ Lothar de Maizière seufzt noch heute darüber, dass er sich nicht durchsetzen konnte. Die Wahl fiel auf Sabine Bergmann-Pohl – in ihrer Abwesenheit.
Wenn es um die sechs Monate zwischen April und Oktober 1990 geht, in denen nichts war wie zuvor und nichts wie danach, wird Sabine Bergmann-Pohl in ihrem Abgeordnetenbüro zur Krimi-Erzählerin.
Ihre sonst energische Stimme vibriert ein wenig, als durchlebe sie die Spannung von damals ein zweites Mal. Wie sie an jenem 2. April zur Fraktionssitzung kam. Nichts ahnend. Wie zwei Kollegen auf sie zustürzten, sie bedrängten, machst du es denn jetzt auch. Wie sie gar nichts begriff. Sich aufklären ließ, sich wie vor den Kopf gestoßen fühlte, sich wie in einem großen Strudel vorkam, der sich immer schneller drehte. „Ich hatte genau fünf Minuten Zeit, mich zu entscheiden, ob ich das Amt will oder nicht.“ Sie macht eine Pause. Weiter!, möchte man rufen. Obwohl man ja weiß, wie es weiterging: Sie wollte. Nicht aus plötzlichem Ehrgeiz oder Eitelkeit, sondern weil sie so etwas wie eine Pflicht spürte. „Es war das Gefühl: Eine muss es ja machen.“ Und Sabine Bergmann-Pohl machte, fragte nicht lang, packte an – als Trümmerfrau eines gescheiterten politischen Systems.
Vor allem aber sagte sie zu, weil sie fälschlich davon ausging, ihre künftige Aufgabe mit ihrem eigentlichen Lebensziel vereinbaren zu können. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich nie wieder als Ärztin arbeiten würde – ich bin nicht sicher, ob ich es getan hätte.“
Stattdessen paukte sie im Parlament in einem halben Jahr 164 Gesetze und 93 Beschlüsse durch, akkreditierte als Staatsoberhaupt zig Botschafter, handelte die Währungsunion mit aus, haderte mit sich, in Honeckers Dienstzimmer einzuziehen, entschied sich für das Zimmer, aber gegen den mächtigen Schreibtisch, versicherte dem Papst bei einer Privataudienz die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, flog zum Staatsbesuch nach Jerusalem, wo sie sich auf dünnem Eis bewegte als Repräsentantin einer vermeintlich gewandelten DDR, die bis dahin keine diplomatischen Beziehungen zu Israel gehabt hatte, dafür aber eine PLO- Vertretung in Ost-Berlin.
Sie wuchs über sich selbst hinaus, ohne es zu merken.
Missbraucht hat sie die Verantwortung nicht. Wer mit Reinhard Höppner, ihrem Vize, oder Richard Schröder, dem früheren SPD-Fraktionschef, spricht, erfährt schnell, warum selbst politischen Gegnern bis heute nur Lob über Sabine Bergmann-Pohl zu entlocken ist. Schwierige Sitzungen, die ihrer Profilierung hätten dienen können, überließ sie ihrem Stellvertreter; wenn sie Kontakt zu einflussreichen Westpolitikern suchte, dann um der Sache willen, aber nicht, um für sich zu werben. Kein Oppositionspolitiker musste ihre Konkurrenz wirklich fürchten.
Selbst da, als Sabine Bergmann-Pohl ein Machtwort hätte sprechen können – die Volkskammer lieferte sich seit Wochen einen peinlichen Streit um den Tag des Beitritts –, zog sie es vor, unermüdlich zwischen den Ostfraktionen zu vermitteln und den Rat von Westpolitikern zu suchen. Um dann, als schon niemand mehr daran glaubte, nachts um drei vor die Volkskammer zu treten und völlig erschöpft den Mehrheitsbeschluss zu verkünden, dass die deutsche Einheit am 3. Oktober sein würde. Es war ihr Verdienst. Aber Sabine Bergmann-Pohl hatte niemandem die Show gestohlen.
Eine Eigenschaft, die in den letzten Monaten der DDR als Charakterstärke geschätzt wurde. Im wiedervereinigten Deutschland aber galten westdeutsche Politregeln. „Wer sich da nicht um sich selbst gekümmert hat“, sagt Reinhard Höppner, „der wurde in die Wüste geschickt.“
Als Ministerin ohne Geschäftsbereich beispielsweise, unter Helmut Kohl, der sich während der wenigen Übergangsmonate bis zur ersten gesamtdeutschen Wahl gern mit ein paar Ostdeutschen in seinem Kabinett schmückte.
Sabine Bergmann-Pohl macht sich über die Bedeutung, die ihr der Kanzler beimaß, nichts vor. „Ich war Ministerin für Wahlkampf“, sagt sie und lacht ein heiteres, wohlwollendes Lachen. Der Fotograf drückt auf den Auslöser. Sie sieht ihn an. Ob sie besser direkt in die Kamera schauen müsse? Vielleicht eine andere Körperhaltung einnehmen oder mal aufstehen solle? Sie macht es vor, stellt sich hin, schiebt den einen Fuß vor den anderen. „So?“ Sie ist daran gewöhnt, dass jede ihrer Gesten festgehalten wird. „Aber glauben Sie mir, früher ist es mir leichter gefallen“, sagt sie. „Vielleicht, weil ich nach dem Abitur mal kurzzeitig Modell war.“ Diesmal kichert sie. „Na ja, ich hab mir halt ein bisschen Geld dazuverdient.“ Der Fotograf macht ein weiteres Foto. Da hört ihr Lachen schlagartig auf. „Nein!“ Sie springt auf, eilt auf ihn zu, greift nach dem Gegenstand, auf den er sein Objektiv gerichtet hat: Helmut Kohl als Gummipuppe.
Spaß hat da seine Grenzen, wo ihre Loyalität anfängt, und die zum Kanzler der Einheit ist uneingeschränkt. Dass er blühende Landschaften versprach und fast 20 Prozent Arbeitslosigkeit zurückließ, macht sie ihm nicht zum Vorwurf. „Er persönlich kann doch nichts dafür, wenn Investitionen nicht wie erhofft greifen.“ Seine Rolle in der CDU-Spendenaffäre nennt sie „persönlich-menschlich tragisch“. Aber darf man deswegen seine Lebensleistung kaputtmachen? Ihm Verrat am Volk vorwerfen, wo er wie kein Zweiter dem Volk nahe war? Sie duldet jetzt keinen Widerspruch mehr: „Das Faszinierendste an ihm ist, dass er um die Sorgen und Nöte des ganz normalen Bürgers genau wusste.“
Kohl kannte sie, Bergmann-Pohl erlebte sie. Ihr Mann, 60 Jahre alt, von Beruf Maschinenbauingenieur, ist gerade zum zweiten Mal seit der Wende arbeitslos geworden, weil die Firma Pleite ging. „Er hat viel zurückstecken müssen“, sagt sie. Als sie von frühmorgens bis spätnachts in der Volkskammer 40 Jahre DDR abwickelte, kümmerte er sich um ihre zwei Kinder aus erster Ehe, damals gerade Teenager. Er betreute die von Geburt an behinderte Tochter, den Sohn brachte er quer durch die Stadt zur Westberliner Waldorfschule. Der Druck, den der Junge wegen einer prominenten Politikerin als Mutter in der Ostberliner Schule habe aushalten müssen, sei unerträglich gewesen. „Die Kinder und ich haben ein sehr enges Verhältnis“, sagt Sabine Bergmann-Pohl. „Ich habe schwer darum kämpfen müssen, sie überhaupt zu bekommen.“
Dass sie nach der Einheit weiter Politik machte, war nicht geplant, schließlich hatte sie einen Beruf. Einen, den sie liebte. Sie blieb dann doch. „Weil es so wehtat.“ Mitanzusehen, wie ihre Landsleute vorgehalten kriegten, nach 40 Jahren Faulenzerei müssten sie die Schippe halt mal selbst in die Hand nehmen. Spüren zu bekommen, wie Nachbarinnen, die den Erhalt von Krippenplätzen forderten, zu Müttern zweiter Klasse degradiert wurden. Befürchten zu müssen, dass Frauen das Recht über ihre Schwangerschaft verlieren.
Es gab spaltende Konflikte in einer Gesellschaft, die zusammenwachsen sollte, und Sabine Bergmann-Pohl wollte helfen. „Also habe ich mich als gelernter DDR-Bürger eingebracht.“
Also stritt sie für den Erhalt der DDR-Polikliniken, also wies sie nach, dass Diabetiker West sich glücklich schätzten, wären sie versorgt wie einst Diabetiker Ost „Als Parlamentarische Staatssekretärin hat sie die Fachbeamten im Gesundheitsministerium mit ihrem ungeheuren Wissen zur Weißglut gebracht“, erzählt Klaus Kirschner, der mit ihr jahrelang im Gesundheitsausschuss des Bundestags saß. Der SPD-Politiker beteuert, sie zu vermissen, und sagt: „Es war ihr zuwider, nur parteipolitisch zu argumentieren, dieser kleine Hickhack war ihr zuwider.“
So zuwider, dass sie im Herbst geht. In eine Zukunft, die offen ist. Als Lungenfachärztin wird Sabine Bergmann-Pohl nicht wieder arbeiten. „Diesen Ast habe ich mir selber abgesägt.“ Jenseits der 55 kann man sich nicht mehr niederlassen. Sie ist genau ein Jahr zu alt dafür.
Aber sie hat schon ein neues Ziel vor Augen: „Ich würde sehr gern Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes in Berlin werden.“ Das ist chronisch überschuldet und hat vor einem Jahr Insolvenz angemeldet.
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