Wie der Kreml Terroristen züchtet

Das Schreckenswort heißt Säuberung: Nach der Geiselnahme von Moskau verschärfen die russischen Einheiten in Tschetschenien ihr Vorgehen

aus Grosny KLAUS-HELGE DONATH

Am Ortseingang von Awtury ist für den Krankenwagen Schluss. Kolonnen von Militärfahrzeugen säumen die Hauptstraße. Soldaten schirmen das Dorf hermetisch ab. Schon den dritten Tag durchkämmt russisches Militär den 5.000-Einwohner-Ort am Fuße des kaukasischen Vorgebirges. Satschistki, Säuberungen, nennen sie diese Durchsuchungen, die blutige Spuren hinterlassen. Auch der Kreisverwaltungschef, ein Tschetschene, und seine Polizisten dürfen nicht weiter, obwohl der „Befehl 80“ des Oberkommandierenden der russischen Truppen in Tschetschenien die Beteiligung einheimischer Beamter vorschreibt. Doch was ist ein kleiner Regelverstoß gegen das, was sich hinter dem Ortsschild zuträgt. Bei der Suche nach vermeintlichen Rebellen lässt sich das Militär nicht auf die Finger schauen. Denn diese Finger rauben, quälen, morden, stehlen, erniedrigen und vergewaltigen – ungestraft, im Namen des Antiterrors.

Chalimats* Haus haben die Männer an diesem Morgen schnell abgehakt. Nach der x-ten Durchsuchung in wenigen Monaten gebe es nichts mehr zu holen, meint die 45-jährige Witwe. Chalimat packt noch schnell ein Passfoto ihres Mannes ein, sie will nun doch ihre Geschichte erzählen. Draußen taucht die Wintersonne die Umgebung in gleißendes Weiß, der Himmel strahlt in hinreißendem Blau. Sobald die Soldaten weg sind, kehren Kinder mit selbst gebastelten Eishockeyschlägern auf die Straße zurück. Kriegsalltag auch das.

Chalimat hat ihren Mann verloren. Sultan war Lkw-Fahrer und gehörte zu jenen Tschetschenen, die sich freuten, als die Russen einmarschierten, um dem Chaos in „Itschkeria“, dem unabhängigen Staat der Tschetschenen zwischen 1996 und 99, ein Ende zu bereiten. Jahre hatte die Familie im Süden Russlands gelebt, bis sie aus Heimweh zurückkehrte. Im Sommer dieses Jahres nahmen Sondereinheiten einen der beiden Söhne fest; Sultan machte sich auf die Suche, die Festnahme konnte doch nur ein Versehen sein. Er fand den Sohn, das Militär warf ihn ihm, von Folter und Schlägen entstellt, vor die Füße. Sultan geriet außer sich und ging mit bloßen Händen gegen die Folterknechte los. Dafür sollte er büßen. Es müssen unbeschreibliche Qualen gewesen sein. Tagelang pfählten ihn die Häscher. „Zum Schluss führten sie“, erzählt Chalimat aus Scham auf Tschetschenisch weiter, „ein elektrisches Gerät in den After ein und rührten die Eingeweide durcheinander.“ Der Körper war mit Brandwunden ausgedrükter Zigaretten übersät. Chalimat fand Sultan so nach elf Tagen. Drei Tage lebte er dann noch. Chalimat fand sogar Ärzte, die bereit waren, die wahre Todesursache anzugeben.

Inzwischen ist das undenkbar, meint ein Arzt in einem benachbarten Kreiskrankenhaus. Er schaut zur Tür, verstummt, wird nachdenklich. Der tschetschenische Begleiter versteht den Wink und verlässt den Raum. Keiner mehr traut in Tschetschenien dem andern. Nur ein Bruchteil der Misshandelten suche noch Hilfe im Krankenhaus. Die Ärzte müssten alle Patienten dem Geheimdienst melden. Der komme dann und verhafte sie aus dem Krankenbett heraus. Der junge Arzt leidet, er will helfen und macht sich doch zum Komplizen. „Wenn jeder nur Angst hat, ändert sich nie etwas“, sagt er, steht auf, schließt einen weiß getünchten Stahlschrank auf und holt ein Kriegsjournal heraus. Das liest sich dann so: „1. November, Adlan Aslanchanow, 11. und 12. Rippe gebrochen, Brustkorbhämatome, schwere Gehirnerschütterung, rechte Niere lädiert. Zusatzvermerk: Angeblich auf der Kommandantur zusammengeschlagen worden.“

Chalimat hat den Obduktionsbericht und Sultans Totenschein vor den Söhnen versteckt. Aus einem Grund, der sie innerlich zur Verzweiflung treibt. Wenn die Kinder der bestialischen Brutalität gewahr würden, mit der der Vater getötet wurde, würden sie Rache verlangen. Allein die tschetschenische Tradition gebietet das. Wie wollte die Witwe das verhindern? Den jüngeren Sohn hat sie zum Dienst in die russische Armee in Tschetschenien gesteckt, den älteren schickte sie mit 500 US-Dollar nach Kasachstan. Die Frau ahnt, dass es nur ein Aufschub ist …

Die Gegend um Awtury nennen Einheimische Todeszone. Wegen der nahen Berge, die den Rebellen als Rückzugsort dienen, finden dort ständig Säuberungen statt. Außerdem, so flüstert man, operiere in der Gegend eine Todesschwadron, die SSG 1, die sich in einem ehemaligen Landwirtschaftsbetrieb eingenistet hat und dem Geheimdienst unterstehen soll. Sie rückt nachts in Panzerspähwagen mit verschmierten, unleserlichen Nummern aus und ist auf der Suche nach Beute: Männern zwischen 16 und 40 Jahren, deren Spuren sich verlieren, klagen selbst Vertreter des Menschenrechtsbeauftragten des russischen Präsidenten in Tschetschenien. Allein in Atschkoi seien in den letzten zehn Monaten 32 Menschen spurlos verschwunden, drei Mal so viel wie im Vorjahr. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer: Wer meldet schon Verschleppte einer russischen Behörde?

Auch in Samaschki, vierzig Kilometer westlich von Grosny gelegen, schlugen Moskaus Marodeure letzte Woche wieder zu. „Die Leute haben aufgehört mitzuzählen, wie oft sie schon ,gesäubert’ wurden“, meint der Mufti, dessen Sohn sich schon vor zwei Jahren den fundamentalistischen Wahhabiten angeschlossen hat. Der islamische Geistliche blieb bisher von Racheakten verschont. Sippenhaft ist sonst eine vom Militär bevorzugte Disziplinierungsmaßnahme.

Der Mufti kennt die Familien der letzten Opfer. Auf dem Weg stößt ein patrouillierender Polizist dazu. Ungefragt sagt er: „Wenn sie uns nochmal überfallen, wechseln wir die Seiten.“ Der 40-Jährige stottert vor Aufregung. „Was wir auch tun, die Russen machen mit ihren Mordkommandos alles zunichte.“ Sie hätten nämlich gar kein Interesse daran, dass wieder Frieden und Ordnung einkehren.

Einer, der bei der letzten Säuberung mit dem Leben davonkam, ist Suleiman. Bei minus zehn Grad verbrachte er eine Nacht in einer abschüssigen Kasematte, in der er nicht stehen konnte. Gegen Morgen jagten die Wachen einen scharfen Hund in das Loch – Suleiman hält sich den Bauch vor Schmerzen. Zwei Mitgefangene sind schon wieder im Krankenhaus in Inguschetien. Sie waren gerade von den russischen Behörden der Nachbarrepublik zur Rückkehr ins offiziell „befriedete“ Tschetschenien gezwungen worden. Sie wollten nicht nach Hause, und das nur aus einem Grund: Angst vor den satschistki, der Willkür des Militärs.

Nach der Geiselnahme im Moskauer „Nord-Ost“-Theater legt sich das Militär keine Beschränkungen mehr auf. In Alchan-Kala, zwanzig Kilometer westlich von Grosny, drangen drei Soldaten Ende November in das Haus Malika Umaschewas ein und exekutierten die Bürgermeisterin durch Schüsse in den Rücken und einen Fangschuss in den Kopf. Malika war eine Stimme der Mäßigung, die es gewagt hatte, dem Militär die Stirn zu bieten. Ihr Grab liegt auf dem Friedhof neben dem des notorischen Entführers und Rebellenkommandeurs Arabi Barajew, des Onkels eines Geiselnehmers von Moskau, Mowsar Barajew. Eigentlich war die Gemeinde gegen eine Bestattung Arabis – der durch Menschenhandel den Namen des Ortes beschmutzt hatte – auf ihrem Friedhof. Inzwischen macht der russische Terror aber jeden Unterschied zunichte.

*Alle Namen von der Redaktion geändert