Architekturkritiker über Brutalismus: „Wir sind zu sentimental“
Der Autor Owen Hatherley erzählt von schroffen Betonflächen und nützlichen Gemeinschaftseinrichtungen. Dazu gehört HipHop-Produktion im Plattenbau.
Anmerkung: Das Interview ist am 14. Oktober 2009 in der Printausgabe der taz erschienen und stieß eine Debatte zur brutalistischen Architektur mit an. Nun ist es erstmals auf taz.de zu lesen.
taz: Owen Hatherley, Ihr Buchessay „Militant Modernism“ beschäftigt sich mit den utopischen Wurzeln des kommunalen britischen Wohnungsbaus. Ihr Impuls ist allerdings Popmusik. Was hat Architektur mit Pop zu tun?
Owen Hatherley: Worin sich der schroffe britische Modernismus und Pop ähneln, will ich anhand zweier Beispiele erklären. Nehmen Sie die Musik der Hardrockband Black Sabbath und den Bau der Stadtbibliothek von Birmingham. Es gibt zwar nur wenige Black-Sabbath-Fans, die dieses brutalistische Bauwerk mögen. Dabei haben beide, Black Sabbath und die Bibliothek, ganz ähnliche ästhetische Prämissen: Sie wirken nach außen hin schroff und verwenden die gleichen repetitiven Bauteile, Beton und harte Gitarrenriffs. Architektur wird leider nie gegenkulturell gelesen. Sie zählt nicht mal als Bestandteil der Alltagskultur. Mein Interesse an Architektur wurde überhaupt erst durch mein Interesse an Musik geweckt. Ich schreibe über Architektur, wie etwa Simon Reynolds und Jon Savage über Popmusik geschrieben haben: unmittelbar und möglichst nicht elitär, von oben herab.
Ihr Essay ist eine implizite Kritik korporativer Weltarchitektur. Warum pochen Sie dabei für eine regional unterscheidbare Architektur und was gefähllt Ihnen an der Bauweise britischer Hochhäuser?
geboren und aufgewachsen in einer Hochhaussiedlung in der britischen Hafenstadt Southampton untersucht der Londoner Autor und Blogger Owen Hatherley mit seinem Essay „Militant Modernism“ (Zero Books, Winchester, 146 Seiten, circa 13 Euro) die vernachlässigte Geschichte modernistischer Architektur in Großbritannien. In der britischen Nachkriegsmoderne wurden Gebäudekomplexe wie etwa das „Barbican Centre“ in London erbaut, deren schroffe Formen Hatherley als Brutalismus bezeichnet. Wie er in seinem präzise formulierten Buch herausarbeitet, liegen dessen Ursprünge in den linken Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Hatherley macht nicht nur ein Stück Vergangenheit lebendig, in seinem Buch zieht er Querverbindungen von der Architektur zu Film, Design und aktuellem Pop.
Bewusst habe ich genau jene Stilmerkmale des Modernismus untersucht, die nichts mit der Schule des International Style zu tun haben. Seine klaren Linien und weißen Flächen, die großen Fensterfronten beherrschen den Architektur-Diskurs – von Mies van der Rohe bis zu Norman Foster. Dagegen setze ich den modernistischen Stil Brutalismus, der nichts mit den Stararchitekten zu tun hat. Brutalismus ist eine sehr räumlich-präsente Architektur, die Antithese zu großen Fensterfronten und Transparenz, Dematerialisierungen und computergenerierten Fassaden. Sir Norman Foster, einer der Apostel dieser Transparenz, verfolgt die fixe Idee, dass Bauten wie der Bundestag in Berlin oder das Londoner Rathaus die Politik sichtbarer machen würden, wo diese Gebäude undurchlässig wirken. Mich interessiert modernistische Architektur gerade dann, wenn sie mit den Anforderungen des Alltags kollidiert. Diese Kollisionen werden in der Dynamik und der Räumlichkeit des Brutalismus viel deutlicher.
Sie postulieren, Klasse und politische Bildung seien „untrennbar damit verbunden, wie man ein modernistisches Gebäude wahrnimmt“. Gilt das auch für die Beurteilung von Popmusik?
Nicht in demselben Maße. Auch ein britisches Laienpublikum kann inzwischen kritisch über radikalste Popmusik urteilen: Das Wissen über Pop ist verbreiteter als das Wissen über Architektur. Schauen Sie sich die Reaktionen auf Hochhäuser und Sozialwohnungs-Siedlungen an. Die meisten Menschen empfinden Hochhäuser als unwirtlich. Das mag mit der großflächigen Betonbauweise zu tun haben, meistens aber liegt das am schlechten Ruf von Hochhäusern. Mit Sozialwohnungen werden die Armen und Verlierer der Gesellschaft assoziiert; ergo gelten Hochhäuser als architektonischer Schandfleck. Dabei ist die Bausubstanz von Luxusapartments weit schlechter als die von kommunalen Wohnungsbauprojekten, sie gelten aber als architektonisch hochstehender, weil darin Börsenmakler leben.
Sie führen den Brutalismus auf Ideen der russischen Konstruktivisten zurück. Wie kam dieser Konnex zustande?
Das Bindeglied ist Berthold Lubetkin, ein Schüler Rodschenkos. Er brachte Ideen der russischen Revolution mit nach Großbritannien, wo er in den 1950ern und 1960ern als Architekt im städtischen Wohnungsbau tätig war. Sein wichtigstes Modell ist der soziale Kondensator. Das ist seine Antwort auf Fehlplanungen in modernistischen Gebäuden. Der soziale Kondensator weist ein Wohnhaus mit zahlreichen kommunalen Einrichtungen aus und beschränkt das Private auf ein Minimum. Das berühmteste Beispiel ist das Narcomfin-Gebäude in Moskau. Es besteht eigentlich aus aufeinanderliegenden Zweifamilienhäusern, die Gemeinschaftseinrichtungen sind in einem angrenzenden Gebäude untergebracht: Dort liegen Küchen neben Kindergartenräumen, neben einer Bibliothek. In London hat Lubetkin das Finsbury Health Center im Viertel Finsbury Park geplant, allerdings wurden grundlegende Ideen nicht realisiert. Der britische Modernismus hat die Ideen der russischen Revolution zu wenig beherzigt.
Viele der von Ihnen beschriebenen Gebäude sind leider abgerissen worden. Verteidigen Sie den Brutalismus aus ästhetischen oder sozialpolitischen Gründen?
Radikale Ästhetik treibt radikale Politik voran. Natürlich gab es auch in den vergangenen 25 Jahren Beispiele für radikale Architektur in Großbritannien, gerade weil hier konservative Politik am Wirken ist. Das Lloyd’s Building in London hat in seiner Bauweise alle Arten von linken Architekturpositionen berücksichtigt. All das hindert das Lloyd’s Building nicht daran, ein Finanzgebäude zu sein.
Genügt linke Ästhetik als Mittel gegen rechte Politik?
Meine Argumentation zielt auf ein anderes großes Problem der Linken: die Fetischisierung der Vergangenheit. Wir sind zu sentimental, und zwar besonders dann, wenn es um die präindustrialisierte Gesellschaft des 19. Jahrhunderts geht. Es ist wichtig, sich dieser Geschichte und ihrer historischen Niederlagen zu erinnern und damit auch ihrer spezifischen Ästhetik wie die von bärtigen Gewerkschaftsfunktionären. Allerdings wirken diese auf viele unter 50-Jährigen altbacken. Daher war meine Idee, mit meinem Essay Brutalismus als eine Gegenästhetik der Linken aufzuziehen, die mehr mit Modernismus, Futurismus und dem Versuch, damit die Gesellschaft lebenswert zu gestalten, zu tun hat als mit der Erinnerung an eine zerstörte Idylle.
Was haben der deutsche Komponist Hanns Eisler und der britische Rapper Dizzee Rascal gemeinsam?
Beide machen kraftvolle Musik, die unmittelbar auf die Eingeweide zielt. Ich schreibe über Dizzee Rascal, weil ich anhand seiner Musik der Kritik vorbeugen kann, Normalbürger hätten an Modernismus kein Interesse. In London hören viele junge Menschen unglaublich seltsame moderne Musik. Seit den 1950er Jahren sind britische Jugendliche mit Working-Class-Hintergrund dem Modernismus und Futurismus gegenüber positiv eingestellt. Pop ist etwas, was sie selbst kreieren können. 17-Jährige, die in Sozialwohnungen leben, können zwar kein eigenes Gebäude entwerfen, aber einen eigenen HipHop-Track produzieren. „Proletkult“, wie ihn Brecht und Eisler formulierten, ist heute viel sinnvoller als in den 1920er Jahren. Lenin hat die Idee einer proletarischen Kunst immer abgelehnt, aber seit deMies Van der Rohen 1950er Jahren ist eine Menge an proletarischer Avantgarde entstanden, hauptsächlich im Popkontext.
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