Arbeitsmigration in Rumänien: Dorf ohne Mütter
Viele Rumäninnen müssen im Ausland arbeiten, um über die Runden zu kommen. Darunter haben sie enorm zu leiden – und noch mehr ihre Kinder.
Wir fahren über eine enge Brücke in das Dorf, auf staubigen Straßen entlang der Häuser, alte und neue. Viele von ihnen wurden nicht fertig gebaut. Die Dächer sind ungedeckt, Stapel an Steinen neben den Häusern, Baugerät. Wir folgen der Straße bis zum Dorfkern, begleitet werden wir von George Moga, dem Direktor der Schule am Ort. Er zeigt auf die einzelnen Häuser: „Das da wurde mit Geld aus Griechenland gebaut“, sagt er, „und das mit Einkünften aus Italien.“
Moga bringt uns zu einem kleinen Gehöft, in dem Schweine und Hühner gezüchtet werden. Er stellt uns die Besitzer vor, eine Familie, deren Vorstand Costel Butnaru ist, der Vater. „Kommen Sie mal zur Erdbeer-Saison hier ins Dorf, sie werden nicht den Schatten einer Frau finden“, sagt er. Costels Frau Vasilica, 44, ist schon seit acht Jahren unterwegs, um zu arbeiten. Von Rumänien aus fährt sie nach Almonte in Südwestspanien, wo sie sich mit fünf anderen Frauen ein Zimmer teilt. Von März bis in den Hochsommer pflücken sie Erdbeeren und im September bereiten sie die Pflanzen für die kommende Saison vor.
„Mich haben sie hier gelassen, damit ich mich um die Kinder kümmere“, sagt Costel Butnaru. „Ich habe ihnen das Schreiben beigebracht. Ich habe mein Bestes getan, um für sie da zu sein, damit sie alles haben, was sie brauchen.“ Vasilica war Hausfrau und Costel hat „gutes Geld“ verdient als Bauarbeiter in Bukarest. Doch seit der Finanzkrise im Jahr 2008 konnte er keine feste Anstellung mehr finden.
Mindestlohn plus Essensgutscheine
Manchmal gibt es Arbeit in den nahe gelegenen Weinbergen. Mehr als 35 Kilometer entfernt steht eine Fabrik für Autopolster, in Letcani, aber dort wird nur der Mindestlohn gezahlt, plus Essensgutscheine. Costel würde dorthin pendeln müssen, auch nachts und bei jedem Wetter – es kann hier minus 20 Grad kalt werden. „Mag sein, dass es in der Fremde hart ist, aber zurückgelassen werden ist schlimmer“, sagt Costel.
Rumänien ist Spitzenreiter: In keinem anderen Land sind so viele Bürgerinnen und Bürger im europäischen Ausland. Viele von ihnen kommen aus ländlichen Gegenden wie Liteni. Die Dorfbewohner sind ins Ausland gegangen, um auf Baustellen, bei der Obsternte, als Reinigungskräfte oder in der Pflege zu arbeiten – in Italien, Spanien, Deutschland und Zypern.
Doch seitdem der Bauboom in Südeuropa durch die Finanzkrise kollabierte, ist der Bedarf an Arbeitskräften gewachsen, deren Anforderungsprofil eher mit Frauen assoziiert wird – was in Rumänien ein völlig neues Phänomen hervorgerufen hat: Dörfer mit wenigen – oder gar keinen – Frauen im arbeitsfähigen Alter und einer großen Anzahl von Kindern, die ohne Mutter aufwachsen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die 13 Jahre alte Gabi Butnaru hat gerade die sechste Klasse beendet. „Mama hat mir immer beim Lesenlernen geholfen“, sagt sie. Doch ihre Mutter ist zum Arbeiten im Ausland, seitdem ihre Tochter im Kindergarten ist. In diesem Jahr ist sie am 9. März nach Lucena in Spanien gereist, um dort Erdbeeren und Himbeeren zu pflücken.
Gabis Leben hat sich verändert. Wenn ihr Vater draußen war auf dem Feld, musste sie lernen Kartoffeln zu braten, Suppe zu kochen, sauber zu machen, die Schweine, Hühner und Kühe zu füttern. Dann erst konnte sie ihre Hausaufgaben machen. „Es war hart“, sagt Gabi, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Danach noch die Kraft zu finden, um zu lernen und alles richtig zu machen.“
Allein unter Fremden
Ihr Mutter Mihaela, 33, ist nun zurück in Rumänien. Es war hart auch für sie, weg von zu Hause zu sein, allein unter Fremden, und für einen Chef zu arbeiten, dessen Anforderungen hoch waren. Und dessen Sprache sie nicht sprach.
Auf der Farm teilte sie sich ein Zimmer mit vier anderen Frauen. Eine Monatsmiete für eine Unterkunft in der nahe gelegenen spanischen Stadt hätte 250 Euro im Monat gekostet – doch die Frauen brauchten das Geld für zu Hause. Mihaela hat bis zur Erschöpfung gearbeitet. „Wir hatten keinen freien Sonntag, wir haben sogar an Ostern gearbeitet“, sagt sie.
Erdbeeren pflücken ist eine anstrengende, auch schmerzhafte Arbeit. Die Pflückerinnen müssen sich sieben Tage die Woche bücken, und das bis zu acht Stunden am Tag, plus Überstunden. Und sie werden zur Eile angetrieben, kaum Pausen. Eine Folge: heftige Rückenschmerzen.
Ihr Mann Petre liest aus der Liste der Medikamente vor, die seine Frau mit nach Spanien nimmt: Das Schmerzmittel Ketonal für die Rückenschmerzen, Paracetamol für Zahnschmerzen, Baldrian gegen den Stress und Asprin, um die Durchblutung zu verbessern. „Wir haben keine Wahl, wir brauchen das Geld“, sagt Mihaela.
Ihr Ehemann hat sich vor zwölf Jahren das linke Bein gebrochen, nun ist es steif. Seitdem kann er nur noch Hilfsarbeiten machen. Mal beschlägt er Pferdehufe, mal übernimmt er Schweißarbeiten oder hilft beim Pflügen. „Er verdient genug, um Brot und eine Flasche Speiseöl zu kaufen“, sagt Mihaela. „Aber mit diesen Einkünften, dem bisschen Kindergeld und Unterstützung von der kommunalen Verwaltung kann man keine großen Sprünge machen.“
Manches Mal im Minus
Schon manches Mal ist die Familie im Minus gelandet, dass sie dann zurückzahlen musste. Was stets bedeutet, dass sie das Land für längere Zeit verlassen muss, um zu arbeiten, während ihr versehrter Mann zu Hause bleibt, um sich um die Kinder zu kümmern.
„Ein Kind leidet darunter“, sagt sie. „Sie macht die ganze Hausarbeit und ist doch noch ein Kind. Sie sollte nicht so ausgebeutet werden, sie ist noch so jung. Sie musste schon so vieles aushalten, schon in so zartem Alter.“ Mihaelas Stimme wird leiser, Tränen schimmern: „Ich kann es nicht ertragen, von den Kindern getrennt zu sein.“
Gabi nickt mit dem Kopf. Oft hat sie ihre Mutter am Telefon angefleht, doch zurückzukommen. Wird sie ihre Mutter wieder gehen lassen? „Nein“, sagt Gabi und wischt ihr Gesicht trocken. „Alles, was ich will, ist, dass wir vereint zu Hause sind, eine glückliche Familie.“
Die Mutter der 13-jährigen Lavinia ist in diesem Jahr zum ersten Mal nach Spanien gefahren, um Obst zu ernten. Lavinia musste einige der Pflichten ihrer Mutter übernehmen. Das war belastend, denn Lavinia ist gerne vorbereitet, wenn sie in die Schule geht, die von 8 Uhr morgens bis 14 Uhr geht. „Ich muss dann saubermachen, kochen, Hausaufgaben machen, schlafen.“
Sie ist in einer Klasse, in der 13 von 28 MitschülerInnen Eltern haben, die im Ausland arbeiten. In vielen Fällen hat das die Ehen zerstört, die Eltern haben sich scheiden lassen.
Verängstigte Kinder
Investigate Europe ist ein paneuropäisches Pilotprojekt: ein Team mit neun Journalisten aus acht Ländern, das europaweit relevante Themen recherchiert, gemeinsam Thesen erarbeitet und alle Ergebnisse teilt. Unterstützt wird das Projekt von der Hans-Böckler-Stiftung, der norwegischen Fritt Ord Foundation, der Stiftung Hübner und Kennedy, der Rudolf Augstein Stiftung und der Open Society Initiative for Europe.
Das Team arbeitet mit den NGOs Journalismfund und N-Ost zusammen. Die Recherchen zum "Europäischen Prekariat" werden in ganz Europa veröffentlicht. Zu den Medienpartnern gehören neben der taz unter anderem Newsweek Polska, Público, Aftenbladet, Tagesspiegel, Corriere della Sera und De Standaard. Mehr zum Projekt unter: investigate-europe.eu
„Die Kinder sind nicht mehr, wie sie waren“, sagt Lavinia. „Sie sind distanzierter, reservierter, weniger kindlich. Bei einigen werden die Zensuren schlechter. Alles, woran sie denken können, ist die Scheidung ihrer Eltern.“ Hunderttausende Kinder in Rumänien wachsen mit Eltern auf, die im Ausland arbeiten. Geschätzt handelt es sich um zehn Prozent aller im Lande lebenden Kinder.
An der Grund- und Mittelschule in Liteni haben 115 von 350 SchülerInnen mindestens ein Elternteil, das im Ausland arbeitet. Der Schuldirektor, George Moga, sagt, dass die ökonomisch bedingte Migration die zurückbleibenden Kinder verängstigt. „Wir haben hier Fälle von Kinder-Burn-out“, sagt er.
„Die Eltern, die im Ausland arbeiten, sagen den Kindern, dass sie das für sie tun. Im Gegenzug ist es dann die Pflicht der Kinder, hart zu lernen. Und Kinder, die gezwungen sind, ohne die Unterstützung ihrer Eltern zurechtzukommen, stürzen sich dann in Lernerei und Hausarbeit, bis sie nicht mehr in der Lage sind zu lächeln.“
Crina Boroș(Text) und Johnny Green (Fotos) arbeiten für das Recherche-Netzwerk „Investigate Europe“. Übersetzung aus dem Englischen: Martin Reichert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend