Mutter mit Tochter aus den Philippinen

Sharon Austria (rechts) mit Tochter Aira in Tel Aviv Foto: Mareike Lauken

Pflege und Globalisierung:Kosmopolitinnen aus Not

Sharon Austrias Mutter verließ die Philippinen und ging nach Israel. Austria tat später das Gleiche. Wo wird die Enkelin einmal arbeiten?

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8.3.2022, 18:43  Uhr

Sharon Austria weinte, als sie ihre Mutter Glory zum Flughafen brachte. Sie war 16 Jahre alt, ging in die neunte Klasse in einer Schule in Santiago City, einer mittelgroßen Stadt der Philippinen, etwa sieben Autostunden von Manila entfernt. Um das Geld für das Studium von Sharon Austria und ihre vier jüngeren Brüder aufzubringen, hatte ihre Mutter beschlossen, als Pflegekraft im Ausland zu arbeiten. Israel hatte gerade den Markt für ausländische Arbeitskräfte geöffnet, und Glory versuchte ihr Glück. Als sie hinter den Kontrollen des Flughafens verschwand, wusste Sharon Austria, dass sie von nun an auf sie würde verzichten müssen.

Auch ihre Mutter weinte in den nächsten Jahren im 9.000 Kilometer entfernten Israel oft. Sharon Austria wusste mitunter, wann genau. Normalerweise rief die Mutter an ihrem freien Tag an, von den blauen öffentlichen Telefonzellen aus. Die wurden jeden Schabbat rege von den ausländischen Arbeitskräften genutzt, um mit ihren weit entfernten Liebsten zu sprechen. Manchmal jedoch klingelte das Telefon auch unter der Woche. Dann hatte Glorys Arbeitgeberin sie nachts weinen gehört und ihr erlaubt, für fünf Minuten vom Festnetz aus zu telefonieren.

Auf den Philippinen machte derweil Sharon Austria ihren jüngeren Brüdern das Frühstück, brachte den Kleinsten zum Kindergarten, später zur Schule. „Es war, als sei ich plötzlich selbst Mutter geworden“, erinnert sie sich. „Aber die Erfahrung hat mich auch zäh gemacht. Mit vier jüngeren Brüdern und einem Vater musste ich stark sein.“ Die Durchsetzungskraft, die sie damals lernte, kommt ihr heute zugute: im Kampf für die Rechte von Arbeitsmigrant*innen.

28 Jahre später bestellt Austria, die heute 43 ist, einen Pfefferminztee in einem Café im Zentrum von Tel Aviv. Wie ihre Mutter damals arbeitet nun auch sie selbst in Israel. Sie zieht es vor, ihre Geschichte im Café zu erzählen, nicht bei sich zu Hause. Denn sie lebt mit abgelaufenem Visum in Israel. Nur eine Handvoll engster Vertrauter weiß, wo sie wohnt.

Care­wor­ke­r*in­nen von den Philippinen, aus Indien und Thailand sind fester Bestandteil der Gesellschaft in Israel, was am Straßenbild zu sehen ist. Etwas mehr als 67.000 von ihnen arbeiten derzeit im israelischen Pflegesektor, rund 11.000 von ihnen mit abgelaufenem Visum. Da nahezu alle ausländischen Pflegekräfte über den Luftweg ein- und ausreisen, ist diese Zahl für Israel recht genau nachvollziehbar.

Zwei Fäuste formen ein Herz

Erziehen, Zuhören, Pflegen – die einen nennen es Liebe, die anderen unbezahlte Arbeit. Nach wie vor sind es vor allem Frauen, die sie übernehmen, selbst da, wo sie bezahlt wird. In unserem Schwerpunkt „Frauentag“ fragen wir pünktlich zum feministischen Kampftag: Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die das Kümmern revolutioniert?

Sie schieben ältere Frauen und Männer in Rollstühlen durch die Straße, sitzen neben ihnen auf Bänken in der Sonne. Die Arbeitsbedingungen sind extrem hart. Die Care­­ar­bei­te­r*in­nen erhalten etwas mehr als den Mindestlohn. Der liegt in Israel derzeit bei umgerechnet 1.500 Euro monatlich. Dafür müssen sie in der Wohnung der zu pflegenden Personen leben und sich sechs Tage die Woche rund um die Uhr um deren Bedürfnisse kümmern.

In der Regel ist es schwer, mit den Care­ar­bei­te­r*in­nen ins Gespräch zu kommen. Die meisten haben Angst, etwas von sich preiszugeben. Denn nicht nur sind die Arbeitsbedingungen der migrantischen Pflegekräfte hart – die Gesetze und Regelungen greifen tief in ihre Privatsphäre ein.

Eine Partnerschaft ist verboten

Als Austrias Mutter Glory in den neunziger Jahren in Israel arbeitete, durfte sie keine Paarbeziehung eingehen und keine Kinder kriegen, sonst hätte sie ihr Visum verloren. 2006 bezeichnete das Oberste Gericht im Land diese Politik als „moderne Sklaverei“ und hob das Verbot auf, Kinder zu bekommen.

Die Zustimmung der zu betreuenden Person, dass das Baby gemeinsam mit der Ar­beit­ge­be­r*in und der Mutter in der Wohnung leben kann, braucht es dennoch. Alternativ muss eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung für das Kind sichergestellt sein – bei dem Gehalt ein Ding der Unmöglichkeit. Das Verbot, eine Partnerschaft einzugehen, wurde aufrechterhalten.

„Auf dem Boden der Tatsachen hat sich wenig für die migrantischen Pflegekräfte verändert“, sagt Sigal Rosen, Koordinatorin bei der Hotline für Flüchtlinge und Migranten. „Noch immer sind die Ar­beit­neh­me­r*in­nen von ihren Ar­beit­ge­be­r*in­nen abhängig“.

Rund zwanzig Prozent der Pflegekräfte könnten den Arbeitgeber nicht wechseln, ohne Verhaftung und Abschiebung ausgesetzt zu sein, sagt Rosen. Diejenigen etwa, die bereits länger als fünf Jahre in Israel arbeiten. Das ist die Zeit, die erlaubt ist – außer die Ar­beit­ge­be­r*in­nen leben länger als fünf Jahre. So arbeiten viele fast ihr gesamtes Erwachsenenleben für ei­ne*n Arbeitgeber*in. Sobald die­se*r stirbt, werden sie aufgefordert, Israel zu verlassen.

Für Austria, die mit ihrem Partner und ihren zwei Kindern zusammenlebt, ist klar, dass die Gesetze falsch sind und nicht etwa sie. „Lieber entspreche ich nicht dem Gesetz als mein Leben lang allein zu leben, ohne Familie“, sagt die zierliche Frau und wischt ihre halblangen braunen Haare aus dem Gesicht: „Ich bin doch keine Arbeitsmaschine.“

Im Januar 2003, zehn Jahre nachdem sie ihre Mutter zum Flughafen gebracht hatte, landete Austria selbst am Ben-Gurion-Flughafen in der Nähe von Tel Aviv. Auch die damals 26-Jährige sah sich gezwungen, im Ausland zu arbeiten – trotz des Bachelors in Krankenpflege, den sie mittlerweile in der Tasche hatte.

„Als Krankenschwester verdient man auf den Philippinen etwa 500 Dollar monatlich. Damit kommt man alleine irgendwie durch. Eine Familie kann man davon nicht ernähren“, sagt Austria und zündet sich eine Zigarette an.

Als sie landete, war sie aufgeregt. Weniger wegen ihres neuen Lebens in einem Land, das sie nicht kannte. Sondern vor allem, weil sie ihre Mutter wiedersehen würde. Die Entfremdung war größer als gedacht. Als Glory ihrer Tochter zum Empfang stolz eine Fischsuppe aus seltenem und teurem Fisch vorsetzte, wurde Austria traurig. „Wir haben am Telefon über Schulnoten und Gesundheit gesprochen, doch ein großer Teil unseres Lebens ist an meiner Mutter vorbeigegangen“, sagt sie. Sie hasst Fischsuppe.

5.000 Dollar für die Agentur

In den folgenden zwei Jahren, die sie gemeinsam in Israel verbrachten, trafen sie sich für gewöhnlich am Schabbat, Glorys freiem Tag, in der Wohnung von Sharon Austrias Arbeitgeberin. Austria kümmerte sich während dieser Treffen weiter um sie. „Ich konnte sie nicht alleine lassen, sie konnte ja nicht alleine laufen.“

Austria wusch sie, kochte für sie, brachte sie zur Toilette. Die alte Frau war Holocaustüberlebende. „Wenn sie in der Nacht Albträume hatte und schrie, kam ich zu ihr ans Bett. Manchmal weckte ich sie und beruhigte sie, gab ihr etwas zu trinken.“

Fast ein Jahr lang hatte Austria keinen freien Tag. „Es kam mir entgegen, denn ich wollte meiner Mutter ja das Geld für die Vermittlungsagentur zurückzahlen“, sagt sie. Ohne Vermittlungsagentur kein Visum. 5.000 Dollar hatte die Mutter für sie ausgelegt, eine horrende Summe für die beiden.

Die Philippinen sind eines der Länder, aus denen sich die meisten Menschen aufmachen, um woanders in der Welt zu arbeiten. Auf mehr als zehn Millionen schätzte die UN 2016 die Anzahl von philippinischen Arbeitskräften, die legal oder illegalisiert im Ausland arbeiten. Das ist fast ein Zehntel der Gesamtbevölkerung.

2019 schickten die philippinischen Ar­beits­mi­gran­t*in­nen umgerechnet 29 Milliarden Euro in den Inselstaat. Zwar bestreitet die philippinische Regierung, dass sie Arbeitskräfteexportpolitik betreibt. Doch bereits seit den 1970er Jahren gibt es verschiedene Regierungsbehörden, die sich um die Bedürfnisse von im Ausland arbeitenden Philippinas und Philippinos kümmert.

Philippinin mit Familienfoto auf dem Handy

Sharon Austria zeigt ein Foto von Glory, der Mutter, inmitten der Familie auf den Philippinen Foto: Mareike Lauken

Arbeitsmigration von Pflegekräften ist ein globales Phänomen. Weltweit arbeiten migrantische Pflegekräfte, zumeist Frauen, in der Gesundheitsversorgung und stützen Länder, die unter knapper Pflegeversorgung leiden. In keinem anderen OECD-Land gibt es so viele ausländische Arbeitskräfte in der Langzeitpflege wie in Israel.

Mehr als neunzig Prozent der zu Hause beschäftigten Pflegekräfte sind in diesem Land Ausländer*innen. Zum Vergleich: In Deutschland sind es etwas mehr als zehn Prozent. Angesichts der steigenden Lebenserwartung in reichen Ländern dürfte sich der Trend, in diesem Niedriglohnsektor auf migrantische Arbeitskräfte zurückzugreifen, in den nächsten Jahren verstärken.

Als Austrias Vater 2004 starb, flog ihre Mutter zurück nach Santiago City. Auch sie selbst wollte zur Beerdigung auf die Philippinen fliegen, doch auf dem Weg zum Flughafen bekam sie einen Anruf vom Sohn ihrer Arbeitgeberin. Ihre Arbeitgeberin war gerade gestorben. Sie musste umgehend ein*e neu­e*n Ar­beit­ge­be­r*in finden, sonst würde ihr Visum ungültig. Die Beerdigung ihres Vaters auf den Philippinen fand ohne sie statt.

Ihre Mutter kam nicht mehr nach Israel zurück. Stattdessen zog sie als Pflegekraft weiter in die USA. „Meine Mutter und ich konnten all die Zeit, die wir nicht zusammen verbracht haben, nicht zurückholen“, sagt Austria rückblickend. „Auch nicht in der Zeit, die wir zusammen in Israel verbrachten.“ Ihre Stimme klingt traurig, aber auch abgeklärt. „Ich hatte ja schon mein eigenes Leben.“

Sharon Austria

„Meine Mutter und ich konnten die Zeit, die wir nicht zusammen verbracht haben, nicht zurückholen“

Austrias Partner Marc, den sie auf den Philippinen kennengelernt hat, kam ein Jahr nach ihrer eigenen Emigration nach Israel, ebenfalls als Pflegekraft. Dass die beiden ein Paar waren, durften die Behörden nicht erfahren, weil Ar­beits­mi­gran­t*in­nen wie beschrieben keine Partnerschaft ein­gehen dürfen. Diese Politik dürfte daran liegen, dass die israelische Regierung befürchtet, die ausländischen Arbeitskräfte könnten sesshaft werden. Eine Befürchtung, die in Israel auch immer mit der Sorge um die jüdische Mehrheit innerhalb des Landes verbunden ist.

Unterstützung von den Arbeitgebern

2004 fand Austria Beschäftigung bei Leo und Rosemarie Millner. Sie kramt ihr Handy hervor und öffnet Facebook. „Rosemarie ist schon so lange verstorben“, sagt sie, Tränen treten in ihre Augen. „Aber ich bin immer noch mit ihr auf Facebook befreundet.“

„Ich kann stolz behaupten, dass sie neun Jahre länger wegen mir gelebt haben. ‚Kein Essen ist so gut wie deins‘, pflegten sie zu sagen.“ Austria ist stolz darauf, ihre Ar­beit­ge­be­r*in­nen wie einen Teil ihrer selbst behandelt zu haben. Sie bekam die Fürsorge vergolten: „Sie haben mich immer unterstützt.“

Die Millners ließen sie mit ihrem Partner eine eigene Wohnung beziehen. Und als sie mit ihrer ersten Tochter schwanger wurde und ihr Kind bekam – sie hatte eine Krankenversicherung –, halfen sie ihr, das Kind vor der Einwanderungsbehörde geheim zu halten. „Rosemarie wurde meine zweite Mutter“, erzählt Austria: „Wir haben diskutiert und uns gestritten. Aber ich habe nie das Haus verlassen, ohne sie in den Arm zu nehmen.“

Ein Jahr später lernte Sharon Austrias Tochter Aira im Wohnzimmer der Millners krabbeln. Als sie laufen konnte, begleitete sie ihre Ersatz-Großmutter Hand in Hand zum Nagelstudio. Und manchmal, wenn Austria kurz in den Supermarkt sprang, blieb Aira bei denen, die sie Großeltern nannte, stibitzte Kekse aus der Dose und brachte damit alle zum Lachen.

Kinder sollten abgeschoben werden

Ein paar Jahre nach der Geburt ihrer Tochter begann Austria, sich politisch zu engagieren. 2009 erklärte Yaakov Ganot, der neue Chef der Einwanderungsbehörde, alle Kinder von Ar­beits­mi­gran­t*in­nen abschieben zu wollen. Kurz darauf riegelte die Polizei einen Bezirk im Süden Tel Avivs ab, in dem die meisten Ar­beits­mi­gran­t*in­nen mit ihren Familien lebten. Sie kontrollierten alle, die ein und aus gingen. „Alle mit brauner oder schwarzer Haut“, ergänzt Austria.

Austria hatte damals noch ihr Visum und war geschützt. „Aber es war so inhuman. Ich dachte die ganze Zeit: Was, wenn dies meinem Kind passiert?“ Sie zeigte sich solidarisch, ging zu Demonstrationen, die zu der Zeit noch in erster Linie von der israelischen Zivilbevölkerung organisiert wurden. Der öffentliche Aufruhr, den Ganots Vorgehen ausgelöst hatte, verhinderte schließlich, dass es tatsächlich zu einer Massenabschiebung der Kinder kam.

2017 jedoch begann der Staat erneut, vereinzelt Familien mit ihren Kindern abzuschieben. „Wir beschlossen, dass wir etwas unternehmen müssen. Sonst würden all diese Kinder hier sehr bald abgeschoben,“ erzählt Austria. Gemeinsam mit anderen betroffenen ausländischen Pflegekräften gründete sie die Gruppe „United Children of Israel“.

Der Name verrät die Forderung der Gruppe: den Kindern, die als Kinder von Ar­beits­mi­gran­t*in­nen in Israel geboren wurden und aufwachsen, die Möglichkeit zu geben, zu bleiben. Austria ist für die Pressearbeit zuständig. Immer wieder macht sie trotz ihres eigenen Risikos Druck beim israelischen Parlament, um Anhörungen durchzusetzen. Organisiert Demonstrationen. Und steht ganz vorne im Kampf von Zehntausenden migrantischer Arbeitskräfte in Israel für menschliche Arbeitsbedingungen.

Ohne Arbeitgeber kein Visum

Papiere hatte Austria 2017 schon nicht mehr: Sie verlor ihr Visum 2013, als ihre Zeit bei den Millners endete – einige Monate nach der Geburt ihrer zweiter Tochter Shivan. Shivan war eine Frühgeburt, die ersten Wochen lag sie im Inkubator. Mit sechs Monaten wog sie gerade mal zwei Kilo. Sie erbrach, wenn sie trank, weil die Organe nicht voll ausgebildet waren, und musste häufig zum Arzt.

Es war unmöglich für Austria, sich um ihre Ar­beit­ge­be­r*in­nen und ihre Tochter gleichzeitig zu kümmern. Sie setzte ihre Arbeit bei den Millners aus. Nach acht Monaten musste sie ihnen sagen, dass sie die Arbeit nicht wieder aufnehmen könnte. Es war eine traurige Trennung für beide Seiten.

Die Familie plante, auf die Philippinen zurückzukehren, als Austria von einem Arbeitgeber ihres Mannes ein Angebot erhielt: Da der Unternehmer die meiste Zeit in Deutschland lebt, könne sie auf seine Wohnung in Israel aufpassen. Sie zögerte nicht und nahm aus ökonomischen Gründen an – und wegen ihrer Töchter. Weil sie aber nach mehr als fünf Jahren im Land bei den Millners kündigte, verlor sie ihr Visum und konnte auch kein neues mehr bekommen. Seitdem leben die vier ohne Aufenthaltserlaubnis in Israel.

Mittlerweile ist Aira vierzehn Jahre alt. Sie erinnert sich gut an Saba und Safta – Opa und Oma. So nennt sie die Millners, die mittlerweile verstorben sind. Ihre leibliche Großmutter Glory hingegen, die bei ihrer Geburt in den USA arbeitete, hat sie noch nie persönlich gesehen – nur ab und zu auf dem Handybildschirm ihrer Mutter. Dann sagt sie „Schalom“, winkt und widmet sich wieder ihrem Leben in Israel. Airas größte Leidenschaft ist Tanz. „Hiphop. Eigentlich alles“, erklärt sie, macht eine Pause und ergänzt: „Außer Ballett.“ Ihre Hände hält sie abwehrend weit von sich.

Aira beißt in ihr Pistaziencroissant. „Was ich von den Philippinen weiß?“, fragt sie und lacht: „Nichts. Außer, dass das Meer besonders schön sein soll. Und dass es extrem viel Streetfood gibt.“ Sie spricht Hebräisch, in der Sprache fühlt sie sich am wohlsten, auch ihr Englisch ist sehr gut.

Tagalog, die am weitesten verbreitete Sprache auf den Philippinen und die Muttersprache ihrer Eltern, verstehen sie und ihre jüngere Schwester, aber sie sprechen sie nicht. „Was sollen wir Tagalog mit ihnen sprechen?“, fragt Sharon Austria. „Sie haben hier niemanden, mit dem sie in dieser Sprache sprechen können, jenseits von uns.“

Kind mit Katze

Austrias jüngste Tochter Shivan in der Wohnung in Israel Foto: Mareike Lauken

Mit ihrem hebräischen Jugendslang und ihrer Lebendigkeit wirkt Aira, die seit ihrer Geburt illegalisiert in Israel lebt, wie eine durchschnittliche israelische Teenagerin. Seit 2003 gibt es eine Regelung, dass Kinder zur Schule gehen dürfen – egal, welchen Status sie haben.

Angst vor der Einwanderungspolizei

Doch die Angst vor der Abschiebung in ein Land, das sie noch nie gesehen hat, begleitet Aira permanent. Und Angst vor weißen Autos – der Farbe der Autos der Immigrationspolizei. Im Sommer 2019 sah Aira viele davon. Es war die Zeit der wiederholten Wahlen und der Übergangsregierung. Kri­ti­ke­r*in­nen sagen, das Innenministerium habe die Gelegenheit genutzt, seine Pläne ohne Kontrolle durch die Knesset durchziehen zu können.

Die Inhaftierungen und Abschiebungen passierten nun nicht mehr vereinzelt wie in den Jahren zuvor, sondern in großem Stil. In ihren weißen Vans fuhr die Einwanderungspolizei vor die Häuser von Ar­beits­mi­gran­t*in­nen ohne Visum, drang in die Häuser ein und verhaftete die gesamten Familien inklusive der Kinder.

Für Aira war diese Zeit traumatisch – vor allem, als sie hörte, dass auch ihre Wohnung von der Polizei aufgebrochen worden war. Doch da hatte ihre Mutter schon ihre Koffer gepackt, sie hielten sich vorübergehend bei Bekannten versteckt. Im folgenden halben Jahr schleppten sie ihre Koffer von einer Wohnung zur nächsten, insgesamt waren es 15. Bis die Verhaftungen wieder weniger wurden und eine Freundin für sie die Wohnung fand, in der sie jetzt wohnen.

Aira hat die Kampfeslust ihrer Mutter geerbt und wurde gemeinsam mit ihr aktiv. Sie war auf den Demonstrationen ­gegen das Vorgehen des Staates dabei, hielt Schilder in die Höhe, auf denen geschrieben stand: „Kein Kind ist illegal.“ Im vergangenen Dezember sprach sie sogar bei einer Anhörung in der Knesset: „Ich will mich in meinem Zuhause sicher fühlen, will zur Schule ­gehen, in der Straße laufen und tanzen gehen – ohne Angst. Ich will dort weiter leben, wo ich aufgewachsen bin.“

Im Alter wieder in die Heimat

Doch ihre Angst geht nicht weg. Noch immer dreht Aira manchmal eine zusätzliche Runde, wenn sie sich verfolgt fühlt – um nicht ungewollt preiszugeben, wo sie und ihre Familie wohnen.

Glory, Sharon Austrias Mutter, ist mittlerweile auf die Philippinen zurückgekehrt. Austria wischt über ihr Smartphone. Auf einem Foto lacht Glory, eine Mittsechzigerin mit Hornbrille und schulterlangen braunen Haaren, glücklich der Kamera entgegen, umringt von ihren vier Söhnen, deren Ehefrauen und Enkelkindern. Vor ihnen ein mit frittierten Snacks und Ananas gedeckter Tisch. „Das war letztes Silvester“, erzählt Austria. „Sie war gerade aus den USA zurückgekehrt und hat sich zur Ruhe gesetzt.“ Nach 27 Jahren harter Arbeit in verschiedenen Ländern der Welt ist sie nun wieder bei ihrer Familie.

Austria hat einen ähnlichen Plan für sich selbst. „Ich liebe Israel“, sagt sie. „Aber ich möchte hier nicht alt werden, nicht im Traum.“ Sie sei hergekommen, um ihre Zukunft auf den Philippinen vorzubereiten, für die Zeit, wenn ihre Kinder auf eigenen Beinen stehen. Ihr Plan: ein Stück Land kaufen, eine Wohnung bauen und sich zum Rentenalter niederlassen. Bis dahin kämpft sie dafür, dass ihre Kinder in Israel bleiben können. Damit würde ihnen erspart, in einem Land aufzuwachsen, aus dem sie dann weggehen müssen, um sich ernähren zu können.

Die vierzehnjährige Aira möchte Stewardess werden. Als Flugbegleiterin die Welt sehen und immer wieder nach Israel zurückkommen zu können, das ist ihr Wunsch. Noch ist sie ein bisschen zu klein dafür. „Aber ich wachse ja noch“, sagt sie zuversichtlich. Und wenn das nicht klappt? „Dann werde ich Pflegerin“, sagt sie. Sie sieht zufrieden aus.

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Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe zum feministischen Kampftag am 8. März 2024, in der wir uns mit den Themen Schönheit und Selbstbestimmung beschäftigen. Weitere Texte finden Sie hier in unserem Schwerpunkt Feministischer Kapmpftag.

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