Arbeitskooperativen in Argentinien: In Eigenregie aus der Krise
Dass Beschäftigte ihren insolventen Betrieb übernehmen, ist in Argentinien nicht neu. Es kann auch heute funktionieren – wie bei Farmacoop.
Solche Kooperativen haben in Argentinien schon Tradition. Viele entstanden während und nach der schweren wirtschaftlichen und politischen Krise, die das Land vor 20 Jahren durchlebte. Fünf Staatspräsidenten gaben sich innerhalb von zehn Tagen die Klinke in die Hand. Auf der Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast tobte der Straßenkampf. Argentinien drohte im Chaos zu versinken.
Viele Firmeneigentümer machten sich über Nacht aus dem Staub. Meist hängten sie nur einen Zettel ans Werkstor, der die Beschäftigen über die sofortige Schließung informierte. Etliche von diesen hatten schon vorher monatelang keinen Lohn mehr bekommen. Um ihr Geld einzufordern, hielten sie Wache vor den Werkstoren und hinderten nächtliche Räumkommandos daran, heimlich Maschinen und Fabrikanlagen abzutransportieren. Später besetzten sie die Werksgelände.
„Als wir 2001 anfingen, hatten wir nicht mal einen Namen dafür“, erinnert sich Luis Caro, Vorsitzender des Movimiento Nacional de Fábricas Recuperadas por sus Trabajadores. Aber bald etablierte sich der Name „Wiedererlangte Fabriken“. „Es ging nicht um eine Revolution. Es ging schlicht um die Rettung der Arbeitsplätze und der Familieneinkommen“, sagt Caro, der auf Insolvenzrecht spezialisierter Anwalt ist.
Vor allem Industrie- und Gastrobetriebe
Wie viele Betriebe auf diese Weise im Laufe der zwei Jahrzehnte wiedererlangt wurden, komme auf die Definition an, sagt er. Fabrik werde oft mit Industrie gleichgesetzt. Dann wären es aktuell 200. Erweitert man die Bandbreite auf Gastronomie, sind schon rund 350 Kooperativen mit etwa 30.000 Beschäftigten. Volkswirtschaftlich von überschaubarer Bedeutung. „Aber heute ist es ein tragfähiges Modell und für die Beschäftigen oftmals die einzige Alternative zum Verschwinden ihres Betriebes und Arbeitsplatzes“, so Caro.
Farmacoop ist eines der jüngsten Beispiele. „Wir haben damals in einem Zelt vor dem Werkstor Wache gehalten“, berichtet Edith Pereyra, die heute die Produktion leitet. Übernehmen konnten die Beschäftigten das Unternehmen nur als Kooperative. Sie bestimmten einen Vorsitzenden sowie ein Leitungsgremium. „Dem Gesetz ist damit genüge getan, alle Entscheidungen treffen wir basisdemokratisch auf der Mitgliederversammlung“, sagt Pereyra. Eigentümerin des Unternehmens ist die Kooperative nicht. Aber sie hat die Nutzungsrechte am Firmengelände mit allem, was darauf steht. Und sie besitzt die Marken- und Produktrechte der ehemaligen Roux-Ocefa.
„Es war eine emotionale Achterbahnfahrt, als wir das erste Mal wieder das Werksgelände betraten,“ so Pereyra. Vieles war zerstört, Maschinen fehlten. Monate dauerte die Instandsetzung der Anlagen, ohne Finanzmittel und ohne Lohnzahlungen.
Corona bremste nur vorübergehend
Heute hat die Farmacoop etwas über 100 Mitglieder. Alle erhalten den gleichen Lohn, auch wenn das derzeit nur knapp 100 Euro im Monat sind. Dazu kommen 100 Euro Soziallohn, den das Ministerium für soziale Entwicklung den Mitgliedern aller Kooperativen zahlt.
Nicht leicht ist es, Pharmazeut*innen und Chemiker*innen davon zu überzeugen, in einem wiedererlangten Betrieb zu arbeiten – aber ohne Fachleute gibt es keine Zulassung durch die Arzneimittelbehörde. „Der Abnahmetermin stand bereits fest – doch dann begann die Pandemie, seither liegt das auf Eis“, so Pereyra.
„Vor 20 Jahren wollten wir eine politische Bewegung sein und eigene Kandidaten bei Wahlen aufstellen“, sagt Luis Caro. Im Rückblick sagt er, das sei für eine sozial-ökonomische Basisbewegung nicht der richtige Weg. Viele Betriebe, die sich auf der Suche nach Subventionen an Regierungsfunktionäre, Parteien oder Gewerkschaften anlehnten, haben sich in den politischen Interessenkämpfen aufgerieben. Betriebe, die sich der Konkurrenz auf dem Markt stellen und sich um Verkauf und Marketing ihrer Produkte kümmern, entwickelten sich besser.
Und noch ein Phänomen zeigt sich immer wieder: „Zu Beginn sind es ausschließlich die Beschäftigten aus der Produktion, die die Betriebe wieder flottmachen“, so Caro. Weniger die Beschäftigten aus Verwaltung, Marketing und Produktentwicklung. „Die größte Herausforderung aber ist der Wechsel aus dem System der abhängigen Beschäftigung in ein System der freien Beschäftigung.“
Bei Farmacoop haben sie diesen Wechsel vollzogen. Anstatt wegen des Virus zu resignieren, nahmen sie die Herausforderung an. Desinfektionsmittel wurden plötzlich knapp – sie bauten eine Fertigungslinie auf. Im April 2020 gingen sie mit einer eigenen Marke auf den Markt. Coronatests wurden gebraucht – seit Januar produzieren sie den Schnelltest.
Das Ziel ist jedoch weiterhin die Herstellung von Medikamenten. „Sobald wir die Zulassung der Arzneimittelbehörde haben, sind wir weltweit das erste wiedererlangte Pharmaunternehmen, das Arzneimittel herstellt“, sagt Pereyra.
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