Arbeitsbedingungen für Migrant*innen: Sie arbeiten zu viel
Die berüchtigten Schlachthof-Werkverträge sind nur ein kleiner Teil des Problems für Arbeitsmigrant*innen. Das zeigt ein neuer Bericht.
Mal wieder steigt die Corona-Inzidenz im Kreis Cloppenburg. Mal wieder ist ein Massenausbruch in einem Schlacht- und Zerlegebetrieb daran schuld. Seit anderthalb Jahren geht das nun so. Eine irre Zeit für die Berater*innen der Caritas, sagt der Vorsitzende Heribert Mählmann: Einerseits machten die Coronamaßnahmen den Kontakt zu den Betroffenen wahnsinnig schwer, andererseits erhielt das Thema mehr mediale und politische Aufmerksamkeit als je zuvor.
Seit 2018 kümmert sich das Caritas-Sozialwerk St. Elisabeth um die Rechtsberatung für Arbeitsmigrant*innen im Oldenburger Münsterland. Vor zwei Wochen hat das Sozialwerk seinen Jahresbericht für 2020 vorgestellt. Eine Erkenntnis daraus: Die Werkverträge, um die im Zusammenhang mit der Schlachtindustrie so lange und heftig gestritten wurde, machen nur einen Bruchteil des Problems aus. Bei gerade einmal fünf Prozent der Beratungsfälle im letzten Jahr ging es um Werkverträge. 43 Prozent der Ratsuchenden waren fest angestellt. 36 Prozent waren Zeitarbeiter*innen. Bei ihnen geht es häufig darum, dass der Grundsatz der gleichen Bezahlung für gleiche Arbeit umgangen wird. Wenn nach neun Monaten Einsatz im Betrieb ihr Stundenlohn eigentlich an den Lohn der Stammbelegschaft angepasst werden muss, werden sie versetzt oder ihnen wird gekündigt.
Trotzdem, sagt Mählmann, sei man froh um Hubertus Heils Arbeitsschutzkontrollgesetz, das seit Januar den Einsatz von Subunternehmern und Werksverträgen in den Kerngeschäftsbereichen der Fleischindustrie untersagt: „Es ist durchaus etwas in Bewegung gekommen dadurch.“ Mählmann hofft vor allem darauf, dass die Personalabteilungen der großen Konzerne nun stärker in die Verantwortung genommen werden, weil sie mit den Problemen ihrer Arbeiter*innen direkt konfrontiert sind.
Allerdings hat das System immer noch riesige Lücken. Eine der dringendsten aus Sicht der Caritas-Berater*innen: die Kontrolle der Arbeitszeiten. Zwar sind die Betriebe zur Arbeitszeiterfassung gezwungen und müssen diese bei Kontrollen auch offen legen – aber die Arbeiter*innen haben nach wie vor keinen Anspruch auf eine transparente Abrechnung, aus der klar hervorgeht, wie viele Stunden an welchem Tag geleistet und bezahlt wurden, welche Zuschläge berechnet wurden, wie viele Urlaubstage übrig sind. Betrug ist hier genauso an der Tagesordnung wie horrende Abzüge für Unterkünfte, lehrt die Erfahrung der Berater*innen. Dies im Einzelfall zweifelsfrei zu belegen und vor Gericht zu bringen, ist eine Sisyphusarbeit, die eine wahnwitzig hohe Frustrationstoleranz erfordert.
Oft bedarf es etlicher Beratungsstunden
„Es fängt schon damit an, dass man überhaupt einmal das Vertrauen der Betroffenen gewinnen muss. Die Sprachbarriere ist oft ein Problem, die Angst davor, nie wieder einen Job zu bekommen, wenn der Arbeitgeber davon erfährt, ein weiteres“, sagt Mählmann. Selbst bei den Sprachmittlern, die sie mitbrächten, müsse man erst einmal schauen, wessen Interessen die eigentlich vertreten. Zum Glück habe die Caritas eigene. Dazu hätten die meisten Betroffenen eben auch nur vage Vorstellungen davon, was ihnen eigentlich zustünde und wie ein Rechtsstaat funktioniere: „Man darf nicht vergessen, dass diese Menschen häufig aus Systemen kommen, in denen Korruption normal ist.“
Oft bedarf es etlicher Beratungsstunden, um aus einem wirren Stapel von Papieren, die in Plastiktüten herbeigeschleppt werden, einen halbwegs rechtssicheren Fall zu machen. Dann strapaziert die Länge des Verfahrens oft die Geduld der Betroffenen. Sie lassen sich schnell mit ein paar hundert Euro Abfindung abspeisen, statt auf den ungewissen Ausgang eines Prozesses zu warten. Und längst geht es in der Rechtsberatung nicht mehr nur um ungerechtfertigte Kündigungen oder betrügerische Abrechnungen. „Wir sehen, dass immer mehr Menschen ihre Familien nachholen“, so Mählmann. Das aber stellt die Kommunen vor weitere Herausforderungen, weil Kita- und Schulplätze vorgehalten werden müssen und soziale Integrationsarbeit geleistet werden muss – ohne dafür über die Infrastruktur zu verfügen, wie sie in Städten selbstverständlich ist.
Dass es keine einfachen Antworten geben könne, zeige sich bereits bei der Frage der Unterkünfte, sagt Mählmann. „Angenommen, der Arbeitgeber hat eine ganz anständige Privatwohnung für vier Arbeiter angemietet, aber zwei Monate später sitzen da zehn Personen drin, weil einer übers Wochenende seine sechsköpfige Familie nachgeholt hat. Wessen Schuld ist diese Überbelegung dann? Und wer soll das kontrollieren?“
Regionale „Koalition der Willigen“
Einige Unternehmen hätten ja durchaus eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann und wollten nun Werkswohnungen bauen. Aber auch da stelle sich die Frage: Wo und in welchem Umfang? Eine ganze Siedlung hätte den Vorteil, dass die Betreuung leichter wäre, fördert auf der anderen Seite aber auch Ghettobildung und Parallelgesellschaften und bürdet die Integrationslast einer einzelnen Gemeinde auf. Eine dezentralere Verteilung sorgt unter Umständen dafür, dass niemand die Menschen im Blick hat und sich verantwortlich fühlt.
Das seien die Fragen, die man angehen müsse, sagt der Sozialwerksvorsitzende. Und zwar sowohl auf politischer Ebene in Bund und Land als auch auf der Verwaltungsebene in Kreis und Kommune, bei den Unternehmen genauso wie den Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften. Eine regionale „Koalition der Willigen“ schwebt ihm vor. Die Landkreise Cloppenburg und Vechta haben die Finanzierung der Beratungsstelle mit ihren Anlaufstellen in Lohne, Cloppenburg, Damme und Freisoythe gerade um drei Jahre verlängert.
Denn mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung im Oldenburger Münsterland und die Branchen, in denen Arbeitsmigrant*innen unterwegs sind, ist für ihn völlig klar: Das wird nicht weniger. Im Gegenteil.Abgesehen von den „klassischen“ Beschäftigungsfeldern in der Fleischindustrie oder als Saisonarbeiter*innen in der Landwirtschaft arbeiten auch viele in der Reinigungs-, Logistik- und Baubranche. „Selbst der Glasfaserausbau hängt da dran“, sagt Mählmann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung