Arbeitsbedingungen bei Amazon: Hygiene „to go“
Amazon-Zusteller erzählten, wegen Zeitdruck in Flaschen urinieren zu müssen. Zuerst dementierte der Konzern, jetzt gab er es offiziell zu.
Stress ist die Lingua franca des Alltags. Alle kennen ihn, alle hassen ihn, manche lieben ihn. Doch Stress ist nicht gleich Stress. Schlecht für die Gesundheit ist er immer: Während er in Prestigeberufen ein Statussymbol ist, kann er in prekären Jobs existenzbedrohend sein – aber auch entwürdigend.
Dass Menschen in der Lieferbranche unter besonderem Druck stehen, ihre Arbeit schnell zu erledigen, ist auch hierzulande bekannt. Dass sie dabei, wenn sie etwa für Amazon in den USA arbeiten, in Flaschen pinkeln müssen, um ihre eng getaktete, von digitalen Geräten getrackte „Performance“ einzuhalten, ist aber eine weitere Stufe der fortschreitenden Entmenschlichung in Arbeitsprozessen.
Öffentlich breiter diskutiert wurde das nach einem Tweet des demokratischen US-Abgeordneten Mark Pocan. Pocan schrieb nach Berichten von Amazon-Mitarbeiter*innen am 25. März: „Arbeitern 15 US-Dollar pro Stunde zu zahlen, ist kein ‚fortschrittlicher Betrieb‘, wenn man zugleich Gewerkschaften zerschlägt und Arbeiter in Wasserflaschen urinieren lässt“.
Amazon reagiert prompt: „Wenn das wahr wäre, würde niemand für uns arbeiten. Die Wahrheit ist, dass wir über eine Million unglaubliche Mitarbeiter weltweit haben, die stolz auf das sind, was sie tun, und vom ersten Tag an großartige Löhne und eine gute Gesundheitsvorsorge haben.“ Ironisch, dass diese trotzige Beschwörung von Wahrheit nun von der echten Wahrheit eingeholt wurde.
Peinliches Eingeständnis
So erschienen kurz darauf in Vice und The Intercept Artikel, die nachweisen, dass die Sache mit dem Pinkeln nicht mal eine Ausnahme, sondern die Regel ist. Eine ehemalige Mitarbeiterin berichtet auf Twitter, gefeuert worden zu sein, weil sie zu oft auf Toilette ging.
Der öffentliche Druck auf den Konzern stieg daraufhin so, dass er jetzt zugibt, doch davon gewusst zu haben. In der entsprechenden Stellungnahme verweist Amazon jedoch auf die Covid-Situation, wegen der gerade auf dem Land öffentliche Toiletten geschlossen seien. Dass sich die als Entschuldigung camouflagierte Selbstentblößung zudem an den Abgeordneten Pocan persönlich richtet, zeigt, wie viel Amazon von seinen „stolzen Mitarbeiter*innen“ hält.
Es ist zu hoffen, dass von Amazons Eingeständnis ein weltweites Signal ausgeht. Ein Signal für bessere Arbeitsbedingungen in der Pakektzustellungs- und anderen systemrelevanten Branchen, in denen der Arbeitsschutz auch in Deutschland immer öfter missachtet wird. Aber vor allem auch gegen die um sich greifende Normalisierung von Stress im Allgemeinen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn