Intensivmediziner zur Coronalage: „Die Belastung ist extrem hoch“

Das Personal ist am Limit, die Intensivstationen werden wieder voller. Arzt Christian Karagiannidis fordert daher die Rückkehr zu einem strengeren Lockdown.

Coronapatient auf der Intensivstation mit zwei Pflegern.

Trotz Impfungen wieder voller: Intensivstation für CoronapatientInnen an der Uniklinik Greifswald Foto: Jens Büttner/dpa

taz: Herr Karagiannidis, die Corona-Infektionszahlen steigen. Warum steigt auch die Zahl der Covidpa­tien­t:innen auf den Intensivstationen – sind nicht die besonders gefährdeten Menschen mittlerweile geimpft?

Christian Karagiannidis: Wir haben das in der ersten Welle analysiert und gesehen, dass überhaupt nur ein Viertel aller Pa­ti­en­t:in­nen über 80 Jahre alt ist. Es ist also die Altersgruppe der 60-, vielleicht auch 50- bis 80-Jährigen, die eine herausragende Rolle für die Intensivstationen spielt. Aber die sind im Moment noch nicht geimpft, und das ist das große Problem. Wir sind bei der Impfgeschwindigkeit noch zu langsam. Selbst wenn wir jetzt schneller werden, steigen die Infektionszahlen gerade zu schnell.

Befürchten Sie, dass die Intensivstationen bald überlastet sein könnten?

Wir haben ein Prognosemodell entwickelt und berechnet, was bei verschiedenen Inzidenzen passieren würde. Wenn wir jetzt bei einer Inzidenz von 100 keinen Stopp machen und die Öffnungen bis zu einer Inzidenz von 200 laufen lassen, dann haben wir Ende April wieder 6.000 Pa­ti­en­t:in­nen auf den Intensivsta­tio­nen. Wir würden das auch wieder hinkriegen, alles so koordinieren, dass es nicht völlig überläuft, wir sagen beispielsweise Operationen ab. Aber der Kollateralschaden ist groß.

Am kommenden Montag wollen der Bund und die Länder wieder über Lockerungen oder einen neuerlichen Lockdown entscheiden. Sie fordern Letzteres.

Wir stehen jetzt am Beginn der dritten Welle, es ist wie eine Lawine. Und entweder stoppen wir die Lawine jetzt am Anfang, oben am Berg, und haben dann im Sommer Ruhe und sitzen im Biergarten, oder wir stellen uns unten an den Berg und versuchen, die Lawine in ein paar Wochen aufzufangen. Ich halte es für nicht besonders intelligent, sich unten hinzustellen. Ich sage nicht, dass wir eine Herdenimmunität brauchen oder gar keine Neuinfektionen mehr. Wenn die über 60-Jährigen geimpft sind und wir dann merken, dass die Zahl der In­ten­siv­pa­ti­en­t:in­nen runtergeht, dann kann man in meinen Augen auch wieder mehr lockern.

Wenn mehr Leute infiziert sind, müssen Sie auch mit mehr schweren Verläufen bei noch jüngeren Menschen rechnen, oder?

Absolut, wir haben auch jetzt wieder 30- oder 40-Jährige beatmet auf der Intensivstation. Ich finde auch, dass man mit 50 oder 60 noch relativ jung ist, und davon gibt es insgesamt nicht wenige Patient:innen.

Sie haben mit Kol­le­g:in­nen schon Ende Februar gefordert, angesichts der dritten Welle den Lockdown zu verlängern. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihre Warnungen nicht gehört werden?

Ich glaube schon, dass man uns zuhört. Ich glaube, das ist einfach dieser enorme Druck, der aus vielen Bereichen der Gesellschaft kommt, den ich auch nachvollziehen kann. Ich würde auch nicht sagen, dass der unberechtigt ist, da müssen einige um ihre Existenz kämpfen. Aber mein Vorschlag ist, lieber jetzt den Lockdown kurz zu verlängern und dafür dann im Sommer Ruhe haben.

Im Januar dieses Jahres war mit rund 5.800 Covid-Patient:innen auf Intensivstationen der Höchstwert erreicht. Jetzt sind es knapp unter 3.000. Ist damit nicht noch ausreichend Platz?

In Deutschland hatten wir 2018 eine starke Grippewelle, da werden sich viele dran erinnern, da lagen viele flach. Da hatten wir 3.000 Grip­pe­pa­ti­en­t:in­nen auf Intensivstationen. Jetzt ist die Zahl zwar auf 3.000 gesunken, aber das ist zusammen mit dieser Grippewelle 2018 immer noch ein historisches Hoch. Dazu kommt, dass viele Operationen verschoben worden sind, und die werden jetzt nachgeholt. Die Zahl der freien Intensivbetten hat sich null Komma null erhöht, es gibt eine ständige Dauerlast in der Intensivmedizin.

47, ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) und Wissenschaft­licher Leiter des Divi-Intensiv­registers. Er ist außerdem leitender Oberarzt an der Lungenklinik Köln-Merheim.

Es gibt aber durchaus Kliniken, in denen kaum Covid-­Pa­tien­t:innen liegen, andere sind fast voll. Woran liegt das?

Unter den Krankenhäusern gibt es Unterschiede, vom Kleinwagen bis zum Ferrari. Covid-19 ist eine schwere Krankheit, und es gibt viele Krankenhäuser, die ihre Pa­ti­en­t:in­nen verlegen, weil sie sie selbst nicht behandeln können. Ich würde sagen, der Großteil der gut strukturierten Kliniken hat immer eine Belegung von 85 bis 90 Prozent.

Können mittlerweile eigentlich mehr Menschen gerettet werden als noch zu Beginn der Pandemie?

Von den Menschen, die ins Krankenhaus gekommen sind, sind in der zweiten Welle deutlich weniger gestorben, als noch in der ersten Welle. Da konnten wir durch die Erfahrung in der Behandlung einige Menschen retten. Von denen, die auf der Intensivstation landen und beatmet werden müssen, versterben aber immer noch 50 Prozent, und von denen, die keine Beatmung brauchen, 25 Prozent. Das liegt leider an der Krankheit.

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Was macht die Dauerbelastung mit den Mit­ar­bei­te­r:in­nen?

Die Leute sind müde. Sie haben einen Riesenjob geleistet. Die physische Belastung ist ex­trem hoch. Und was man auch sagen muss: Die psychische Belastung ist ebenfalls extrem hoch. Covid-19 ist nicht nur eine extrem schwere, sondern auch eine extrem langwierige Krankheit, und das nimmt man zu einem nicht unerheblichen Teil auch mit nach Hause.

Vor Kurzem warnten Fachverbände, dass die Pandemie den Fachpersonalmangel auf Intensivstationen verstärkt und noch mehr Menschen den Beruf verlassen. Merken Sie das schon in Ihrer Klinik?

Wir haben vor zwei Jahren eine Umfrage gemacht unter 2.500 Intensivpflegekräften. Da war es auch schon so, dass 37 Prozent überlegt haben, den Beruf in den nächsten fünf Jahren zu verlassen. Die hohe Arbeitsbelastung ist ein Grundproblem in der Intensivmedizin, es gibt immer eine Fluktuation, aus verschiedenen Gründen. Das ist kein alleiniges Coronaproblem. Aber es ist in meinen Augen auf jeden Fall so, dass sich der Personalmangel in den nächsten Jahren drastisch verschärfen wird. Und ich glaube, wenn sie mich 2025 fragen, was schlimmer war, Corona oder der Personalmangel, dann werde ich antworten, der Personalmangel.

Und der wiederum hat Folgen für die Patien­t:in­nen­ver­sorgung.

Wir sind jetzt natürlich sehr gut aufgestellt, was die Zahl der Intensivbetten pro Ein­woh­ne­r:in angeht. Das heißt, wir haben einen gewissen Puffer. Aber wir müssen uns fragen, wie wir das Gesundheitssystem neu strukturieren.

Ist es das, was Sie auch mitnehmen aus der Pandemie?

Ich nehme ganz klar mit, dass wir uns überlegen, welche Konsequenzen wir aus der Pandemie ziehen, um die nächsten infektiösen Krisen zu bewältigen. Und wir müssen uns fragen, was wir für Konsequenzen für das Gesundheitssystem insgesamt ziehen. Dazu gehört für mich, das Robert-Koch-Institut mit deutlich mehr Geld auszustatten, um mehr Daten zusammentragen zu können. Das ist ein wichtiger Teil der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Und wir müssen über eine große Krankenhausreform sprechen, weg von der Ökonomie und wieder hin zur Daseinsfürsorge. Das hat sich in den letzten Jahren in die falsche Richtung entwickelt.

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