Ken Loachs Film „Sorry We Missed You“: Was vom Leben übrig bleibt

Ken Loach nimmt sich mit seinem jüngsten Sozialdrama die Arbeitsbedingungen von Amazon-Lieferanten vor. Das gerät mitunter zum Horrorfilm.

Ein Mann guckt ein Mädchen an

Sieht zumindest aus wie Freiheit: Ricky (Kris Hitchen) und seine Tochter Liza Jane (Katie Proctor) Foto: Filmwelt

„Wir zahlen keine Löhne, sondern ein Honorar. Sie sind nicht angestellt, sondern arbeiten selbstständig. Und natürlich können Sie jederzeit selbst entscheiden, ob sie zur Arbeit kommen oder nicht.“

Das sagt der Filialleiter (Ross Brewster) des Paketzustell-Unternehmens in Ken Loachs Film „Sorry We Missed You“ zu Ricky (Kris Hitchen), der es gar nicht abwarten kann, seinen neuen Job als Zusteller bei „PDF: Parcels delivered fast“ – Pakete schnell geliefert – anzutreten. Immerhin habe er in den letzten Jahren „alles Mögliche“ gearbeitet, auf Baustellen oder als Klempner. Das Wichtigste sei es, frei zu sein, sagt er – und liefert die Steilvorlage für die nächsten 100 Minuten.

Freiheit existiert hier nämlich nur in der Verzerrung der Wirklichkeit derer, die sie anderen schmackhaft machen wollen. Ricky, Vater zweier Kinder, ahnt nicht, dass die Worte seines zukünftigen Chefs nicht wirklich das Job-Profil beschreiben, sondern eine Illusion, an die er selbst nicht glaubt, wie Brewster mit virtuos verbitterter Miene andeutet.

Die Zuschauerin hingegen ahnt es bereits – und blickt voller Sorge in Rickys hoffnungsvolles Gesicht. Nicht nur, weil sie als aufmerksame Bewohnerin der neoliberalen Gegenwart die Worthülsen kennt, mit denen die Härten prekärer Arbeit beschönigt werden, sondern auch weil der britische Regisseur nicht für Märchen bekannt ist, sondern für das, was die Filmkritik Sozial­drama nennt.

Am Abgrund eines ausbeuterischen Systems

Ein Genre, das Ambivalenzen gerne vermeidet und am liebsten ohne übliche Kino-Tricks die „realen“ Härten von Schicksalen zeigt. So tritt Ricky natürlich keinen besseren Job an, sondern ist am Abgrund eines ausbeuterischen Systems angekommen. Sein neuer Arbeitgeber stellt nicht mal das Arbeitsmaterial, also den Lieferwagen. Ricky kann ihn sich nur leisten, weil er seine Frau Abbie (Debbie Honeywood) bittet, ihr Auto zu verkaufen, auf das sie als selbstständige Altenpflegerin eigentlich angewiesen ist.

„Sorry We Missed You“. Regie: Ken Loach. Mit Kris Hitchen, Debbie Honeywood u. a. Großbritannien/Frankreich/Belgien 2019, 101 Min.

Womit wir beim zentralen Thema des Plots wären: den Auswirkungen flexibler Arbeit auf das Leben, oder besser, dem Rest von dem, was übrig bleibt. Die Freiheit, auf die Ricky hofft, heißt nichts anderes, als sich freiwillig den Lieferplänen zu unterwerfen, die ihn fast 14 Stunden am Tag schuften lassen.

Dass Loach die psychologischen und sozialen Folgen dieses Schuftens dann sadistisch ausagiert, ist typisch für den Realisten, der in seinen Filmen stets den Abgehängten und Prekären eine Stimme verleiht. Als eine Art Anwalt der kleinen Leute hat er damit immer auch eine recht altmodisch-marxistische Perspektive, die Menschen vorwiegend als Opfer eines Systems sieht – und nicht auch als dessen Komplizen. Schließlich zahlen wir alle täglich ein in das Konto eines Systems, das uns das Leben so bequem wie möglich macht, aber die damit verbundenen „Kosten“ gerne versteckt.

Die schlimmsten Prügel bekommt die Zuschauerin

Es ist jenes Beharren auf Rickys Unfähigkeit, Agent der eigenen Biografie zu werden, das bisweilen unerträglich wird: Ständig müssen wir dem überforderten Ricky dabei zusehen, wie sein Leben aus den Fugen gerät, wie er sich immer mehr von seiner Tochter und seinem pubertierenden Sohn entfremdet, wie er ständig vom Chef angeschnauzt oder von Paket­dieben übel verprügelt wird.

Die schlimmeren Prügel erhält aber die Zuschauerin. So ist „Sorry We Missed You“ manchmal auch ein Horrorfilm. Statt Monster terrorisiert uns hier aber „nur“ die brutale Gewöhnlichkeit einer Welt, in der Paketzusteller*innen schon mal in Plastikflaschen pinkeln müssen, um ihre „Performance“ zu wahren.

Loachs Inszenierung von Ricky als eine Art Märtyrer der neoliberalen Arbeiterklasse hätte ein bisschen weniger Pathos, ein bisschen mehr Humor vertragen können. Dennoch ist dem 83-jährigen Regisseur eine sensible Darstellung der psychischen Folgen der „Gig Economy“ gelungen, die Machtzusammenhänge aufzeigt, die sonst gerne verborgen oder ignoriert werden: Wer war in den letzten Monaten nicht mal wieder genervt davon, dass das Paket nicht rechtzeitig kommt?

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