Arbeitnehmervertreter gegen US-Konzern: Gewerkschaft will Amazon piesacken
Bislang konnte der Online-Händler verhindern, dass sich die Mitarbeiter organisieren. In den USA gibt es nun einen neuen, ernstzunehmenden Versuch.
Es sind Belastungen wie diese, die zumindest einige Mitarbeiter des riesigen Versandhändlers nicht länger hinnehmen wollen. Trotz großer Risiken bieten sie der Konzernführung die Stirn. Ihr Ziel: eine gewerkschaftliche Organisierung. Seit der Unternehmensgründung im Jahr 1995 gab es keine so umfassende Initiative wie aktuell in Bessemer im US-Staat Alabama. Bemerkenswert ist dabei auch, dass der rechtliche Rahmen für Gewerkschaften gerade in Alabama eigentlich ungünstig ist.
Für Amazon steht daher viel auf dem Spiel. Wenn die Bewegung in Bessemer ihr Ziel erreichen sollte, könnte dies eine Kettenreaktion im ganzen Land auslösen. Dann würden womöglich gleich Zehntausende Angestellte des zweitgrößten Arbeitgebers in den USA bessere Bedingungen und bessere Bezahlung fordern. In den vergangenen Jahren war es dem Unternehmen sonst gelungen, jeden Ansatz von gewerkschaftlicher Aktivität praktisch im Keim zu ersticken.
An dem Standort in Bessemer, einem Vorort der Großstadt Birmingham, sind etwa 6.000 Menschen beschäftigt. Ob es dort zu einer gewerkschaftlichen Organisierung kommt, hängt davon ab, ob eine Mehrheit in einer bis Ende März laufenden Briefwahl „Ja“ ankreuzen wird. Versuche von Amazon, die Abstimmung zu verzögern, scheiterten ebenso wie Bemühungen, auf persönliche Stimmabgabe zu bestehen – was angesichts der Pandemie komplizierter geworden wäre.
Gewerkschaft bringt nur Kosten
Das Unternehmen, dessen Umsätze und Gewinne seit Beginn der Coronaviruskrise in die Höhe geschnellt sind, argumentiert gegenüber den eigenen Mitarbeitern, dass eine Gewerkschaft ihnen kaum Vorteile bringen würde, wohl aber mit Kosten verbunden wäre. Die Amazon-Sprecherin Rachael Lighty sagt, die meisten Forderungen der Gewerkschaften würden ohnehin schon erfüllt: Sozialleistungen, Aufstiegschancen und Stundenlöhne ab 15 Dollar (12,40 Euro).
Bates bekommt 15,30 Dollar pro Stunde dafür, Kartons mit Waren auszupacken, die später an Kunden verschickt werden. Bei dem Job, mit dem sie im Mai begann, ist die 48-Jährige fast ununterbrochen auf den Beinen. Laut ihren Angaben wird nicht nur die Einhaltung der knappen Pausenzeiten genau überwacht, sondern auch jede Unterbrechung durch Toilettengänge oder wenn sie sich etwas zu Trinken oder ein neues Paar Handschuhe holt. Amazon bestreitet dies.
Im vergangenen Sommer wandten sich Bates und einige ihrer Kollegen jedenfalls an die US-Handelsgewerkschaft RWDSU (Retail, Wholesale and Department Store Union). „Sie werden eine Stimme sein, wenn wir keine haben“, hofft sie. Auf ihrem Weg hin zu mehr Mitsprache dürften die Amazon-Mitarbeiter aber noch viele weitere Hürden zu überwinden haben. „Die Vergangenheit lehrt uns, nicht optimistisch zu sein“, sagt Sylvia Allegretto von der University of California in Berkeley.
70 Prozent in Bessemer sind Afroamerikaner
Im Jahr 2014 hatten 30 Mitarbeiter eines Amazon-Lagers im US-Staat Delaware eine ähnliche Abstimmung durchzusetzen versucht. Der Anlauf bleib aber erfolglos. Dass die Bewegung in Bessemer nun bereits einen Schritt weiter gekommen sei, habe vermutlich einiges damit zu tun, dass sie wirklich vor Ort entstanden sei und dass die Initiatoren, wie die Mehrheit der Arbeitskräfte in dem Logistiklager, Schwarze seien, sagt Michael Innis-Jiménez von der University of Alabama.
Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung von Bessemer sind Afroamerikaner. In der örtlichen Niederlassung von Amazon liegt der Anteil laut RWDSU-Schätzung sogar bei bis zu 85 Prozent. Eine aufseiten der Unternehmen beliebte Strategie ist laut Innis-Jiménez sonst die, Gewerkschafter als ortsfremde Funktionäre zu charakterisieren, die gar nicht wüssten, was die Arbeiter tatsächlich bräuchten. In diesem Fall aber seien die treibenden Kräfte konkret verankert. „Ich denke, das hilft wirklich sehr“, sagt der Experte. „Sie werden nicht als Außenstehende betrachtet.“
Der RWDSU-Chef Stuart Appelbaum führt den unerwarteten Erfolg seiner Gewerkschaft in Bessemer auch auf die Pandemie zurück. Viele Amazon-Mitarbeiter hätten das Gefühl, dass das Unternehmen nicht genug getan habe, um sie vor einer Ansteckung zu schützen, sagt er. Darüber hinaus habe die Black Lives Matter-Bewegung viele Afroamerikaner inspiriert, eine bessere Behandlung einzufordern.
Tägliche Informationsveranstaltungen von Amazon
Örtliche Vertreter der RWDSU verbringen derzeit viele Tage damit, mit Bannern vor den Toren des Amazon-Lagers auszuharren. Beim Schichtwechsel bleiben einige Mitarbeiter kurz stehen, um sich zu informieren. Andere eilen vorbei, als würden sie die Gewerkschafter nicht sehen. Innerhalb der Halle versuche das Unternehmen mit täglichen Informationsveranstaltungen darzulegen, warum es auch für die Arbeitnehmer besser sei, die gewerkschaftliche Initiative abzulehnen, sagt Bates.
Dawn Hoag zählt zu denen, die „Nein“ ankreuzen wollen. Amazon habe von Anfang an deutlich gemacht, dass der Job körperlich anstrengend sei, sagt die 43-Jährige, die seit April in Bessemer beschäftigt ist. Außerdem könne sie auch gut für sich selbst sprechen und müsse dafür nicht eine Gewerkschaft bezahlen. „Das ist meine Meinung“, sagt sie. „Ich sehe überhaupt keinen Bedarf.“
Aus Protest gegen mangelnden Infektionsschutz hatten im vergangenen Jahr einige Amazon-Mitarbeiter in New York gestreikt. Der Anführer der Aktion, Christian Smalls, und mehrere weitere Personen, die sich öffentlich beklagt hatten, wurden daraufhin entlassen – auch wenn Amazon erklärte, dies sei aus anderen Gründen erfolgt. Bates ist sich darüber im Klaren, dass auch sie ihren Job verlieren könnte. „Ich weiß, dass das passieren kann“, sagt sie. „Aber das ist es wert.“
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