Arbeiten in der Pandemie: Abschied vom festen Schreibtisch
Nach dem Auslaufen der Pflicht zum coronabedingten Homeoffice entwickeln sich in vielen Betrieben Mischformen aus Präsenzarbeit und Homeoffice.
Nach dem Abflauen der Coronapandemie und dem Auslaufen der Pflicht zum Homeoffice am 30.Juni werden sich in vielen Betrieben Mischformen aus mobiler Arbeit und Präsenzarbeit entwickeln. „Es wird in den Unternehmen kaum noch möglich sein, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter komplett in den Betrieb zurückzubeordern. Dass zumindest ein Teil der Arbeit weiter im Homeoffice gemacht werden kann, das wird bleiben. Wenn das Unternehmen das nicht ermöglicht, besteht die Gefahr, dass ein Teil der Mitarbeiter abwandert“, sagt Fabiola Gerpott, Professorin für Personalführung an der privaten WHU – Otto Beisheim School of Management in Düsseldorf.
Die Frage lautet, wie dieses „hybride Arbeiten“ dann organisiert wird. Einer Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zufolge arbeiteten während der Pandemie 44 Prozent der abhängig Beschäftigten gelegentlich oder ausschließlich im Homeoffice. Die Mehrzahl wollte diese mobile Arbeit auch nach der Pandemie zumindest teilweise beibehalten. Läuft die coronabedingte Pflicht zum Homeoffice aus, haben Beschäftigte keinen Anspruch mehr auf die Arbeit von zu Hause aus. Unternehmen haben aber ein Interesse am „hybriden Arbeiten“, nicht nur, um Personal zu halten, sondern auch, um langfristig Büroflächen zu sparen.
Im Siemens-Konzern gibt es seit März eine neue Gesamtbetriebsvereinbarung zum mobilen Arbeiten. „Das Ziel ist, dass alle Beschäftigten, bei deren Tätigkeiten es sinnvoll und machbar ist, im Schnitt zwei bis drei Tage pro Woche mobil arbeiten können“, sagt eine Siemens-Sprecherin*. Die Beschäftigten haben laut der Vereinbarung kein Recht auf bestimmte Wochentage für das Homeoffice. Es steht weiterhin jedem ein Schreibtisch im Betrieb zu, es gibt aber keinen Anspruch auf einen ganz bestimmten Tisch.
Angesichts sinkender Infektionszahlen billigte das Bundeskabinett am Mittwoch Anpassungen in der Corona-Arbeitsschutzverordnung. Die Regelungen gelten ab 1. Juli bis zum 10. September. In den Unternehmen entfällt nun die verbindliche Vorgabe einer Mindestfläche von 10 Quadratmetern pro Person. „Betriebsbedingte Kontakte und die gleichzeitige Nutzung von Räumen durch mehrere Personen müssen aber auf das notwendige Minimum reduziert werden. Dazu kann auch weiterhin das Arbeiten im Homeoffice wichtige Beiträge leisten“, heißt es in der Mitteilung des Bundesarbeitsministeriums zur Verordnung.
Mit dem Auslaufen der Bundesnotbremse am 30. Juni „entfällt“ aber künftig „die strikte Vorgabe von Homeoffice“, so das Ministerium. Unternehmen sind also nicht mehr dazu verpflichtet, die Belegschaft so weit wie möglich von zu Hause aus arbeiten zu lassen.
In ihren Betrieben bleiben Arbeitgeber verpflichtet, „mindestens zweimal pro Woche für alle in Präsenz Arbeitenden die Möglichkeit für Schnell- und Selbsttests anzubieten“. Die Beschäftigten sind aber „nicht verpflichtet, die Testangebote wahrzunehmen sowie dem Arbeitgeber Auskunft über ihren Impf- beziehungsweise Genesungsstatus zu geben“, so das Ministerium. Arbeitgeber müssen „mindestens medizinische Gesichtsmasken zur Verfügung stellen, wo andere Maßnahmen keinen ausreichenden Schutz gewähren“. Auch während der Pausenzeiten und in den Pausenbereichen müsse der Infektionsschutz „gewährleistet bleiben“, heißt es in der Mitteilung. Barbara Dribbusch
Mobiles Arbeiten erfordert eine gute Selbstorganisation
Einen festen Arbeitsplatz im Unternehmen zu haben oder den Tisch immer wechseln zu müssen, ist psychologisch ein heikles Thema. Der persönliche Schreibtisch mit den Fotos der Liebsten, vielleicht noch einem Landschaftsbild, dem vertrauten Blick aus dem Fenster, kann den Arbeitsplatz heimeliger machen und Stabilität vermitteln.
Gerpott berichtet, dass manche Unternehmen schon seit Längerem versuchten, von der Regel, dass jedem Mitarbeiter ein bestimmter Schreibtisch zur Verfügung steht, abzuweichen. MitarbeiterInnen hätten dann beispielsweise eigene Boxen oder Kästen, in die sie ihr Arbeitsmaterial einschließen können. „Der feste Schreibtisch im Unternehmen kann aber ein wichtiges identitätsstiftendes Element sein“, sagt die Wissenschaftlerin, „Mitarbeiter versuchen dann oft, ihren Schreibtisch dennoch zu halten.“ Für die Unternehmen aber rechne es sich nicht, Büroflächen bereitzustellen, die dann an vielen Tagen leer stünden, so Gerpott.
Schon die lange Phase des Homeoffice war für viele Angestellte eine Zeit der Herausforderung. Das mobile Arbeiten erfordert eine gute Selbstorganisation. „Ob einem Homeoffice liegt, hat auch mit der Persönlichkeitsstruktur zu tun“, sagt Gerpott. Die Kontakte über Zoom sind zudem anders als Kontakte vor Ort. Erfahrungsgemäß haben Zoom-Meetings zwar den Vorteil, dass Vielredner durch die Regel der Wortmeldungen diszipliniert werden, weil sie nicht einfach unterbrechen können, beziehungsweise das sehr unhöflich wirkt. In virtuellen Meetings sehe man die Kollegen aber ständig aus einer unnatürlichen Nähe, nämlich als Gesicht in Großaufnahme, so Gerpott. Das könne ermüden. Außerdem erblickt man auch sich selbst beständig in Nahaufnahme auf dem Schirm, ein Tatbestand, der möglicherweise mit dazu beitrug, die Zahl der Schönheitsoperationen zu Coronazeiten in die Höhe zu treiben, wie die Ärztezeitung unlängst meldete. Gerpott rät: „Man kann unter Umständen das eigene Bild während der Zoom-Konferenz abdecken, so dass es zwar für die andern, aber nicht für einen selbst sichtbar ist.“
Manche MitarbeiterInnen haben auch mit der heimischen Beleuchtung vor der Webcam experimentiert. Ein natürliches Tageslicht von vorne, also durch ein Nordfenster, sei am Günstigsten, raten Visagisten im Netz.
Die hohe Kunst des hybriden Arbeitens
Für das neue „hybride Arbeiten“ planen manchen Firmen ihre Büros um. Bei Siemens gebe es aktuell Pläne für eine architektonische Umstrukturierung der Büroflächen, in Zukunft gebe es neue Ruhezonen, neue Kollaborationsflächen für Teams, so die Unternehmenssprecherin. Grundsätzlich verfügten die Mitarbeiter über kleine Spinde, meist aber nicht mehr über große Aktenschränke.
Die Frage, wann wer am besten im Betrieb sei, regelten die Standorte individuell und in der Folge dann auch die Abteilungen, so die Siemens-Sprecherin. Denkbar sei, dass sich Teams beispielsweise auf feste Tage einigten, an denen möglichst alle im Büro sind. Dort werden dann auch die für alle relevanten Meetings abgehalten. Eine Regel für Treffen könnte sein, dass diese immer dann virtuell abgehalten werden, wenn es Kollegen gibt, die an anderen Standorten sitzen, schildert die Sprecherin.
Die hohe Kunst des hybriden Arbeitens ist die Gestaltung der Meetings mit KollegInnen vor Ort und Zugeschalteten. Wichtig bei hybriden Meetings sei, dass die zugeschalteten Kollegen gleichberechtigt mit den Mitarbeitern vor Ort wahrgenommen werden, betont Gerpott, „es gibt die Tendenz, dass die Zugeschalteten weniger präsent sein können, dass sie weniger Redeanteile haben. Dadurch besteht die Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der es die Zugeschalteten schwerer haben“.
Um der Gefahr einer Benachteiligung zu begegnen, rät Gerpott sogar, dass bei virtuellen Meetings von KollegInnen im Unternehmen und im Homeoffice von vorneherein keine Mitarbeiter vor Ort in einem Raum zusammen sind. Stattdessen sollten alle Beteiligten, „allein vor ihrem Bildschirm sitzen“ und so gleichberechtigt miteinander kommunizieren, auch wenn sie sich in der Firma nur wenige Meter voneinander entfernt befinden.
Ob das neue „hybride Arbeiten“ mit tageweisem Homeoffice von Vorteil ist, hängt auch von persönlichen Faktoren ab: der Wohnsituation, der familiären Situation, dem Anfahrtsweg. „Ich kann mir vorstellen, dass es zum Beispiel Kollegen gibt, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Die können natürlich auch nach wie vor jeden Tag ins Büro kommen“, sagt die Siemens-Sprecherin. Die neuen Arbeits-Mischformen nach Corona sind in vielen Unternehmen ein Experiment, dessen Ausgang offen ist.
*In einigen Unternehmen und Behörden ist es Praxis in den Pressestellen, dass die Sprecher:innen nicht namentlich genannt werden.
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