Anzeige gegen die Polizei Hanau: Könnte Vili-Viorel Păun noch leben?
Fünf Jahre nach dem Hanau-Anschlag droht wegen Verjährungsfristen ein Ende der Aufarbeitung. Nun erstattet der Vater eines Opfers noch einmal Anzeige.
Bis heute sind nach dem rassistischen Attentat von Hanau vom 19. Februar 2020 nicht alle möglichen Behördenfehler aufgearbeitet. Zu einem gehört der Fall, dass der Polizeinotruf in der Tatnacht fast nicht zu erreichen war – und die Frage, wer dafür verantwortlich war. Und ob Vili Viorel Păun noch leben würde, wäre es anders gewesen.
Um diese offene Frage zu klären, hat am Dienstag Niculescu Păun, der Vater von Vili-Viorel Păun, nochmals Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Hanau gestellt, wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung.
Die Anzeige richtet sich dabei nun erstmals gegen konkrete Polizisten, die zur Tatzeit in leitender Position waren und damit auch verantwortlich für den Notruf: Roland Ullmann, damals Polizeipräsident von Südosthessen; Jürgen Fehler, Polizeidirektor im Main-Kinzig-Kreis; und gegen den damaligen Leiter der Abteilung Einsatz, mutmaßlich der Beamte Claus S.
Fehlende Strafverfolgung wäre „unerträglich“
Der Grund für die Anzeige ist auch die Sorge von Niculescu Păun, dass mögliches Versagen und Straftaten in Kürze nicht mehr verfolgbar sind: Denn fünf Jahre nach der Tat, also am 19. 2. 2025, tritt die Verjährung ein. Würden indes neue Ermittlungen aufgenommen, würde diese Frist um weitere fünf Jahre verlängert. Geschieht dies nicht und bliebe somit ein mögliches fahrlässiges Tötungsdelikt unverfolgt, wäre das für Păun „unerträglich“, heißt es in der Strafanzeige.
Die Hanauer Polizeiwache war in der Nacht des Attentats, auch wegen eines anderen Großeinsatzes kurz zuvor, nur mit vier Beamten und zwei Praktikanten besetzt. Schon seit Jahren war zudem das Notrufsystem in der Dienststelle veraltet: Bereits seit 2001 konnten dort nur zwei Anrufe parallel angenommen werden, weitere Anrufe kamen dann nicht durch. Anders als andere Polizeiwachen in Hessen hatte Hanau auch kein sogenanntes Überlauf-System, womit Anrufe an andere Dienststellen weitergeleitet würden. In der Nacht des Hanau-Attentats erreichten viele Bürger*innen die Hanauer Wache deshalb nicht, darunter auch Vili-Viorel Păun.
Bereits nach dem Attentat hatte Niculescu Păun Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Hanau wegen des mangelhaften Notrufs gestellt. Ein erstes Ermittlungsverfahren dazu wurde im Mai 2022 jedoch eingestellt, durch eine Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main: Ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten von Polizisten sei nicht feststellbar, alle Beamten seien dienstlichen Vorgaben gefolgt. Auch gebe es keine zwingende Kausalität, dass früher angenommene Notrufe einen der neun Morde hätten verhindern können.
Neue Erkenntnisse aus dem U-Ausschuss
Nicolescu Păun bezieht sich nun aber auf neue Erkenntnisse aus dem hessischen Untersuchungsausschuss zum Hanau-Attentat, der sich auch der Frage des Notrufs widmete. Zudem befragte Păuns Anwalt erstmals frühere Arbeitskollegen von Vili-Viorel Păun zu dessen Charakter, die allesamt beteuerten, dass dieser kein Draufgänger gewesen sei, sondern konfliktscheu und mit Respekt für die Polizei. Die Schlussfolgerung: Păun wäre in jedem Fall einer Polizeianweisung gefolgt, dem Täter nicht weiter hinterherzufahren – wenn er denn die Wache erreicht hätte.
In der neuen Strafanzeige wird der Polizei nun ein „Organisationsverschulden hinsichtlich der technischen und personellen Ausstattung des Notrufs“ in der Tatnacht vorgeworfen. Diese sei ihrer „staatlichen Schutzpflicht zur Abwendung von Bedrohungen gegen Leib und Leben von Bürgern“ nicht nachgekommen. Auch bestünden konkrete, personelle Verantwortlichkeiten für die bis zum Anschlag seit 18 Jahren andauernde „technische Mangellage“ des Notrufsystems in Hanau. Hätte das System funktioniert, wäre Păun „heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch am Leben“, heißt es in der Anzeige.
Die Strafanzeige wirft den damals leitenden Polizisten Roland Ullmann, Jürgen Fehler und dem Leiter der Abteilung Einsatz, der sehr wahrscheinlich Claus S. gewesen sei, vor, von dem nur eingeschränkt funktionierenden Notruf gewusst, aber nichts dagegen unternommen zu haben. Im Untersuchungsausschuss äußerte sich Fehler dazu widersprüchlich: Einerseits bestritt er, vom fehlenden Überlauf gewusst zu haben. Andererseits erklärte er, Anrufer mit nicht dringenden Anliegen seien gebeten worden, eine andere Polizeinummer anzurufen und nicht den Notruf, um diesen nicht zu blockieren.
Dass Fehler als Polizeidirektor nichts vom fehlenden Überlauf gewusst haben will, sei „wenig glaubhaft“, heißt es in der Anzeige. Schon vor Jahren sei es intern wie durch Bürger*innen zu einer „erheblichen Anzahl von Beschwerden“ über die schwierige Erreichbarkeit des Notrufs gekommen.
Auch Landespolizeipräsident Ullmann hatte im Ausschuss angegeben, nichts vom fehlenden Überlauf gewusst zu haben. Dass es technische Probleme in Hanau gab, sei ihm aber bekannt gewesen, konstatierte der Ausschuss. Der Plan sei damals gewesen, diese Probleme mit einem Neubau der Hanauer Dienststelle zu lösen. Diese hätte sich aber 8 Jahre verzögert, eine Übergangslösung sei auch von Ullmann nicht veranlasst worden. Auch Wünschen nach mehr Personal sei er nicht nachgekommen.
Schließlich sei auch der Leiter der Abteilung Einsatz beim Polizeipräsidium Südosthessen, Claus S., und der laut Kollegen auch für die Funktionsfähigkeit der Polizeinotrufe in Hessen zuständig war, mitverantwortlich für den mangelhaften Notruf gewesen.
Wegen ihrer Leitungsfunktionen wäre es die Sorgfaltspflicht der Polizisten gewesen, „etwaige Missstände beheben zu lassen“, heißt es in der Anzeige. Mindestens ein Überlauf des Notrufs in andere Dienststellen hätte organisiert werden müssen. Auch gebe es sehr wohl eine Kausalität durch den nicht erreichbaren Notruf. Denn wie Bekannte Vili-Viorel Păun beschrieben, hätte dieser „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ seine Verfolgung des Hanau-Attentäters aufgegeben, wenn er dazu von der Polizei aufgefordert worden wäre.
„Er hat genau zugehört, was die Polizei gesagt hat“
„Die Polizei hat die Aufgabe, für Recht und Ordnung zu sorgen. Diese drei Personen hatten die Verantwortung für unsere Sicherheit“, sagte Niculescu Păun am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Hanau. Er wies darauf hin, dass sein Sohn noch vormittags am Tag des Anschlags, am 19. Februar 2020, einen Unfall hatte, selbst den Notruf wählte und den Unfall meldete. „Er hat genau zugehört, was die Polizei gesagt hat“, so Păun.
Deswegen verstehe er nicht, warum die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass Vili die Anweisungen sowieso nicht befolgt hätte. „In den Akten steht, dass Vili nicht versucht hat, die Täter allein zu fassen – er hat fünfmal versucht, die Polizei zu erreichen“, so Păun. Er betonte ebenfalls, dass das Problem mit dem Notruf zum Zeitpunkt des Anschlags nicht neu gewesen sei. „Ich hoffe, dass die Staatsanwaltschaft reagiert.“
Hagen Kopp von der Initiative 19. Februar, in der sich auch Betroffene des Anschlags organisieren, erklärte: „Vili-Viorel Păun hat mehrfach versucht, die Polizei zu alarmieren. Ohne die Hartnäckigkeit seines Vaters, Niculescu Păun, wäre dieser Skandal nicht ans Licht gekommen, denn es wurde von allen Seiten versucht, ihn zu vertuschen.“ Păun hatte selber erst später festgestellt, dass sein Sohn mehrfach versucht hatte, die Polizei anzurufen, als er im Mai 2020, also wenige Monate nach dem Anschlag, das Handy seines Sohns von der Polizei zurückbekommen hatte.
Die Staatsanwaltschaft Hanau bestätigte am Nachmittag der taz den Eingang der Anzeige. Diese wurde nun geprüft, sagte ein Sprecher. Daher könne man derzeit keine weiteren Angaben machen.
Die Polizei Hanau hatte zuletzt betont, dass seit Februar 2021 die Probleme mit dem Notruf abgestellt seien und nun ein Überlauf in die Leitstelle des Polizeipräsidiums Frankfurt/Main existiere. Auch der Neubau ist inzwischen bezogen.
Innenminister hatte sich entschuldigt
Der hessische Innenminister Roman Poseck (CDU) hatte sich im vergangenen Jahr bei den Angehörigen und Überlebenden entschuldigt. „Eine Entschuldigung allein reicht nicht – es braucht Konsequenzen“, forderte Hagen Kopp. „Es ist die letzte Möglichkeit in dieser Kette des Versagens, juristisch aktiv zu werden.“ Kopp erinnert auch daran, dass Ullmann und Fehler „nach ihrem Fehlverhalten, nach diesem jahrelangen Missstand und dem Versuch, alles zu vertuschen, beide befördert wurden“. Ullmann wurde wenige Monate später zum hessischen Landespolizeipräsidenten befördert, Jürgen Fehler zum leitenden Polizeidirektor. „Wie kann es sein, dass dort, wo über Erinnerungskultur geredet wird, solche Personen trotz ihres Versagens befördert werden?“
Auch Said Etris Hashemi, der den Anschlag überlebt hat, forderte am Dienstag Konsequenzen. „Die Strafanzeige, die heute gestellt wird, ist eine Möglichkeit für die Behörden, ihre Fehler anzuerkennen und rückgängig zu machen.“ Auch er hatte am Abend des Anschlags versucht, die 110 zu erreichen. „Es gab mehrere Versuche, aber alles ist ins Leere gegangen.“
Aktualisiert am 7. Jan 2025 um 14.30 Uhr
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