Anwalt über Angehörige von IS-Frauen: „Viele schämen sich“

Der Anwalt Mahmut Erdem hilft den Familien von Frauen, die sich dem IS angeschlossen haben. Vor Gericht vertreten will er die Frauen aber nicht.

Betende Menschen unter einer IS-Flagge in einer Moschee.

Beten unter der Flagge des IS: Szene aus einer Moschee in Mossul, 2014 Foto: dpa

taz: Herr Erdem, es ist schwierig, mit Angehörigen von IS-Frauen in Kontakt zu kommen. Sie sind mit einigen Familien im Gespräch und vertreten sie rechtlich.

Mahmut Erdem: Ich habe derzeit mit neun betroffenen Familien Kontakt, es sind die Angehörigen von drei IS-Kämpfern und sechs Frauen von IS-Kämpfern. Eine der Frauen konnte ich durch Überreden der türkischen Behörden nach Deutschland holen.

Wo sind die anderen?

Genau weiß ich es zurzeit nicht – irgendwo in kurdischen Camps in Nordsyrien, aber weil dort Personen ausgebrochen sind, wurden die Camps verlegt. Es gibt da jetzt keine Handys mehr, ich kann also nicht mit ihnen sprechen. Die Kommunikation läuft über kurdische Komitees.

Welche Fragen und Sorgen beschäftigen ihre Familien in Deutschland?

Viele haben Schuldgefühle, weil ihre Töchter zum IS gegangen sind. Sie akzeptieren nicht, was ihre Kinder gemacht haben, und schämen sich dafür. Sie meiden es, öffentlich aufzutreten, weil sie ihre Kinder vor Stigmatisierung schützen wollen.

Haben die Familien Erklärungen dafür, wieso ihre Kinder in den Dschihad gegangen sind?

Nein, sie können sich nicht vorstellen, dass ihre Kinder sich aufgrund ihres Glaubens einer so ex­tremistischen Gruppe anschließen. Sie begründen es meistens mit dem Freundeskreis oder sagen, ihre Töchter seien überredet worden. Niemals ist die Rede davon, dass sie freiwillig gegangen sind. Aber alle IS-Frauen die ich betreue, waren freiwillig da.

Können Sie die Familien beschreiben?

Ich habe etwas dagegen, sie als randständige Familien zu charakterisieren. Viele gehören finanziell zur Mittelschicht. Eine der Mütter ist eine politisch sehr aktive Sozialpädagogin in einer türkischen Gemeinde. In Hamburg sind es ­migrantische Familien aus der Türkei oder den Maghreb-Staaten. Eine der Töchter, die gegangen ist, stand kurz vor dem Abitur, alle hatten eigentlich eine gute schulische Ausbildung.

1963 in der Türkei geboren, beschäftigte sich am Max-Planck-Institut für internationales Privatrecht in Hamburg mit islamischem Recht und arbeitet als Anwalt. Er ist Sprecher der Alevitischen Gemeinde. Von 1997 bis 2001 saß er für die Grünen in der Hamburgischen Bürgerschaft.

Haben die Familien ihren Kindern zu wenig Orientierung, zu wenig Halt gegeben?

Viele Familien sind in religiösen Angelegenheiten sehr unwissend. Jugendliche haben aber viele Fragen. Ich denke, die Familien haben die Fragen ihrer Kinder nicht genügend beantwortet, vor allem die religiösen Fragen. Und die Moscheen auch nicht.

Aber bei Religion geht es doch meistens nicht um schlüssige Antworten, sondern um Glauben.

Das sehen Sie und ich so. Aber die Jugendlichen, vor allem die Jungs, wollen wissen: „Was ist der Heilige Krieg, wann beginnt und wann endet er? Was steht im Koran, welche Auslegungen gibt es?“ Die Mädchen fragen eher nach den Beziehung zu ihrem Partner, sie fragen: „Was kommt nach dem Tod? Gibt es noch ein Leben?“

Den Sinn des Lebens und Sterbens suchen ja viele, aber die meisten suchen ihn nicht im Krieg gegen Ungläubige.

Ja, aber sie suchen vor einem religiösen Hintergrund und finden in unserer Gesellschaft keine Erklärungen. Dann geraten sie an Rattenfänger, die ihnen sagen: „Es gibt Antworten für euch. Es gibt einen Staat, wo ihr sie bekommt und eure Religion leben könnt – das Kalifat.“

Sind die Jugendlichen, die alles hinter sich gelassen haben, um nach Nordsyrien zu gehen, besonders orientierungslos oder besonders entschlossen?

Hier in unserer Gesellschaft waren sie orientierungslos, dort sind sie sehr entschlossen. Sie organisieren dort alles sehr akribisch: etwa die Verteilung von Lebensmitteln, Unterkünfte für neu dazu Gekommene, sie verteilen Geld.

Wie bleiben die Familien mit ihren Kindern in Kontakt?

Wenn sie in kurdischen Lagern sind, gibt es den offiziellen Weg über das internationale Rote Kreuz, da dauert ein Briefwechsel drei bis vier Monate. Ansonsten über den inoffiziellen Kanal: Frauen organisieren Handys und telefonieren oder schreiben über das türkische oder syrische Netz. Das war bis zu diesem März möglich, jetzt nicht mehr.

Schicken die Familien Geld?

Manche schon, das läuft dann über den inoffiziellen Weg, also jemand reist in den Irak und gibt das Geld dort weiter. Bevor die Frauen in kurdischen Gewahrsam gekommen sind, also bevor Rakka zusammenbrach, brauchten sie kein Geld. Damit werden sie auch gelockt: „Hier bekommst du ein Haus, eine Wohnung, alles umsonst.“

Bekommen die Familien Hilfe?

Gar keine, weder pädagogische noch soziale oder therapeutische. Aber man muss die Leute an die Hand nehmen, sie stärken, denn sie müssen auch ihre Kinder stärken, wenn sie zurückkommen.

Welchen Umgang finden die Familien mit dem schwierigen Thema?

Aktuell sind sie resigniert, sie wissen nicht, was sie machen sollen, und fragen mich immer, was ich mache. Ich stehe mit dem Auswärtigen Amt in Kontakt und bemühe mich, dass das Amt den Irak überzeugt, dass IS-Leute von dort nach Deutschland überführt werden. In Deutschland steckt man den Kopf in den Sand, das Auswärtige Amt weigert sich, Kontakt mit Kurden aufzunehmen.

Warum?

Das hat auch mit Rücksicht auf Erdoğan zu tun. Die Türkei betrachtet das unabhängige kurdische Territorium Rojava als terroristisches Territorium. Erdoğan möchte jede diplomatische Beziehung zu Rojava unterbinden und Deutschland knickt vor ihm ein.

Wie viele Menschen betrifft das vor Ort?

Es sind nicht nur über hundert deutsche, sondern auch fast 1.000 türkische IS-Kämpfer, Frauen und Kinder in den Händen der YPG. Für die Türkei ist das uninteressant, weil es in ihren Augen alles Terroristen sind. Aber die Bundesregierung muss von dieser Haltung Abstand nehmen, denn egal, was die Leute getan haben: Es sind deutsche Staatsbürger. Die Bundesregierung muss die Verantwortung für sie übernehmen, sie herholen und vor Gericht bringen.

Sie setzen sich dafür ein, dass die Leute herkommen, aber wenn sie da sind, vertreten Sie sie nicht vor Gericht.

Ich vertrete keine IS-Leute in Deutschland. Das ist gegen meine politische Grundhaltung. Ich halte sie für kriminell, ihre Ideologie ist menschenverachtend. Trotzdem haben sie das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren – nur nicht mit mir.

Warum ist es Ihnen so wichtig, dass die Leute herkommen?

Das ist unter anderem den Menschen geschuldet, denen sie Leid angetan haben, ich will, dass die IS-Leute bestraft werden. Sie haben in Syrien schlimme Menschenrechtsverletzungen begangen.

Wäre es für die Frauen nicht eine höhere Strafe, dort zu bleiben?

Nein, sie sind dort nur interniert, nicht bestraft. Die Kurden können das nicht, sie haben keine rechtsstaatlichen Strukturen. Ich will auch nicht, dass die Frauen in syrische oder irakische Hände fallen, ich bin gegen die Todesstrafe.

Die Strafen, die den Frauen hier drohen, sind nicht besonders hoch.

Das obliegt dem Gericht und der Staatsanwaltschaft. Ich weiß, es ist ein Dilemma, man muss den Einzelnen ja Taten nachweisen, wenn man das nicht kann, kann man jemanden nicht generalsmäßig verurteilen. Deshalb müssen jesidische und christliche Menschen, die versklavt wurden, aussagen, dann würde sich ein ganz anderes Bild ergeben. Aber die sind leider schlecht organisiert.

Welche Rolle spielten die deutschen Frauen für den IS?

Der IS ist von oben bis unten militärisch organisiert, aber eigentlich ist es wie in jeder Gesellschaft: Es gibt unterschiedliche Hierarchie-Ebenen. Die Frauen auf Ebene des Emir oder des Kommandos haben schon eine besondere Rolle gespielt. Diese Frauen haben sich, als die Situation schlecht für den IS wurde, sehr schnell aus Syrien abgesetzt und sind nach Deutschland, in die Türkei, nach Jordanien oder in den Libanon gegangen.

Und auf den unteren Hierarchie-Ebenen?

Mir erzählen die Frauen das nicht, aber ich habe mit kurdischen Frauen gesprochen, die die IS-Frauen in den Camps interviewt haben. Da berichten sie, dass sie wie ein lebendes Stück Fleisch behandelt wurden. Sobald der Ehemann tot ist, werden sie weitergereicht an den nächsten Kämpfer. Die Frau bekommt, wenn ihr Mann stirbt, seine Waffe, seine Kleidung und etwas Geld von der IS-Verwaltung und kommt in ein Frauenhaus. Da kommen Kämpfer hin, heiraten eine Frau und nehmen sie mit wie lebende Fleischmasse. Einige der Frauen wurden zwei oder drei Mal weiter gereicht.

Haben die Frauen im Nachhinein mit dem IS gebrochen?

Wenn sie zurück sind, suchen sie erst mal keine IS-Strukturen auf. Aber das heißt nicht, dass sie ungefährlich sind, ich sehe sie als potenzielle Gefahr, weil sie sich nicht distanzieren und keine Verarbeitung des Erlebten stattfindet. Sie wissen, dass es nicht in Ordnung war und nicht gut geheißen wird, aber übernehmen keine Verantwortung. Sie verstehen ihr Verhalten auch nicht als verwerflich. Sie sagen: „Es war Blödsinn, ich habe einen Fehler gemacht, aber nichts Schlimmes getan.“

Niemand will etwas gewusst haben.

Ja, die Frauen sagen: „Ich nichts gesehen, ich war Hausfrau.“ Das stimmt so nicht. Alle hatten ihre Sklaven, ob zwei, drei, vier oder fünf. Keine hat gesagt: „Ich will das nicht mitspielen“, obwohl alle wussten, dass Sklaverei nicht in Ordnung ist.

Wie kann die Gesellschaft verhindern, dass junge Menschen sich derart radikalisieren?

Das ist sehr schwierig, aber man muss rechtzeitig mit den Jugendlichen diskutieren, wenn man ihre Fragen nicht beantworten kann. Das muss in der Schule passieren, in Nachbarschaften, im Jugendbetreuungsbereich und im religiösen Bereich. Und zwar muss man nach unseren demokratischen Grundsätzen diskutieren und nicht, wie es in den türkischen Moscheen passiert, die die Leute noch mehr radikalisieren wollen. Auch die beruflich-soziale Komponente ist wichtig. Die brechen ja häufig die Schule ab, wenn sie sich radikalisieren. Dann haben sie kein soziales Umfeld mehr. Alle, die ich kenne, die im Dialog waren und die Schule wieder angefangen haben oder eine Ausbildung, sind dann doch hier geblieben.

Was kann die Gesellschaft für die Rückkehrer*innen tun?

Die Rückkehrer*innen müssen erst mal wieder gesichert und sozialisiert werden, sie haben vieles erlebt, auch die kleinen Kinder. Sie haben anderen viel Leid zugefügt und auch selbst durchgemacht. Sie müssen sozial und psychologisch betreut werden, auch im Gefängnis. Und sie müssen langjährig beobachtet werden. Die Familien brauchen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Das ist finanziell schwierig, aber machbar. Die Betreuung ist das Geld in jedem Fall wert.

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