Antisemitismus in Deutschland: Der Hass reißt nicht ab
Seit dem Hamas-Terror steigt die Zahl antisemitischer Straftaten rasant. Auch an Hochschulen gibt es Vorfälle. Polizei und Verbände sind alarmiert.

In Altenkirchen wurde das Fenster eines Paars eingeworfen, das dort eine Israelfahne aufgehängt hatte. Es sind keine Einzelfälle: Sicherheitsbehörden und die unabhängige Meldestelle Rias verzeichnen seit dem Beginn des Hamas-Massakers auf Israel am 7. Oktober weiter einen drastischen Anstieg antisemitischer Straftaten.
So zählt das Bundeskriminalamt seitdem rund 1.600 Straftaten mit Bezug zum Nahostkonflikt – 700 davon wurden als antisemitisch eingestuft. Es sind vor allem Sachbeschädigungen und Volksverhetzungen, die meisten wurden „ausländischer“ oder „religiöser Ideologie“ zugeordnet. Im ganzen Vorjahr waren es 2.641 antisemitische Straftaten.
Und die BKA-Zahlen dürften noch steigen. Denn die Länder meldeten zuletzt noch weit mehr „antiisraelische“ Delikte, rund 4.000, an das BKA, die dort nun noch einmal Einzelfallprüfungen durchlaufen. So notierte allein Nordrhein-Westfalen 587 israelfeindliche Straftaten. In Berlin wurden seit dem 7. Oktober 231 antisemitische Taten gezählt.
Vorfälle an Hochschulen häufen sich
Auch die „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“ (Rias) legte am Dienstag Zahlen vor. Dort wurden allein zwischen dem 7. Oktober und 9. November 994 antisemitische Straftaten erfasst – im Schnitt 29 am Tag. Dies bedeute einen Anstieg von 320 Prozent zum Jahresdurchschnitt 2022, so der Verband. 59 der Vorfälle hätten sich im direkten Wohnumfeld von Betroffenen ereignet, 177 auf Versammlungen. Vermehrt gebe es Vorfälle an Hochschulen, etwa mit antisemitischen Schmierereien, Flyern oder Bedrohungen.
Verbände zeigten sich alarmiert. Auch Marina Chernivsky von den Beratungsstellen bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung (Ofek) berichtete, die Anfragen bei Ofek seien in den vergangenen Wochen so hoch wie noch nie seit Gründung 2017. Einige Betroffenen hätten berichtete, noch nie so viel Ablehnung in Deutschland erlebt zu haben. „Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.“
Auch Walter Rosenthal, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, erklärte, die „drastische Zunahme antisemitischer Vorfälle muss die gesamte Gesellschaft alarmieren“. Dass sich diese auch an Hochschulen ereigneten, mache ihn betroffen. Man dulde dort keinen Antisemitismus und müsse Straftaten konsequent anzeigen und sanktionieren.
Auch BKA-Präsident Holger Münch warnte zuletzt: „Das Eskalationspotenzial ist groß.“ Die Lage in Nahost habe einen unmittelbaren Einfluss auf das Radikalisierungsgeschehen in Deutschland. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) geißelte zuletzt antisemitische Straftaten. Man werde den Kampf dagegen „weiter mit voller Kraft und aller Härte führen“.
Drohschreiben an Moscheen
Zugleich häufen sich seit dem 7. Oktober auch antimuslimische Delikte. So erhielten zuletzt mehrere Moscheen in Nordrhein-Westfalen und Berlin Drohschreiben mit angebrannten Koranseiten, Hundekot oder Schweinefleisch. Bei einem vielbeachteten Angriff auf eine Schülerin in Berlin scheint sich dagegen ein muslimfeindliches Motiv nicht zu bestätigen: Sie hatte eine „Allah“-Halskette getragen und war von Mitschülerinnen verprügelt worden.
Das BKA erklärte auf taz-Anfrage, dass man aktuell im Nahostkontext islamfeindliche Straftaten im „unteren zweistelligen Bereich“ zähle, auch hier vor allem Sachbeschädigungen und Volksverhetzungen. Rajko Kravanja (SPD), Bürgermeister von Castrop-Rauxel, wo eine Moschee eines der Hetzschreiben erhielt, sprach von „widerwärtigen“ Vorfällen. Man dürfe nicht zulassen, „dass wenige gefährliche Spinner diese Zeiten ausnutzen, um Hass und Zwietracht zu sähen“. Zu den Briefen konnten bisher keine Tatverdächtigen ermittelt werden.
Auch Reem Alabali-Radovan (SPD), Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus und Staatsministerin für Integration, verurteilte zuletzt Rassismus gegen Muslime. Man dürfe den Kampf dagegen und den gegen Antisemitismus „nicht gegeneinander ausspielen“. Beides müsse „Hand in Hand gehen“.
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