Anschlag in Nizza: Lkw-Fahrer identifiziert
Ermittlern zufolge handelt es sich bei dem Angreifer um einen 31-jährigen Franzosen, der in Nizza lebte. Über sein Motiv ist noch nichts bekannt.
Ein Journalist der lokalen Tageszeitung Nice Matin sah, wie die Menschen vom Fahrzeug „wie die Kegel einer Bowling-Bahn von der Wucht der Kugel“ weggeschleudert wurden. Er stand nur ein paar Meter davon entfernt und war angeblich vor Schreck wie gelähmt. Er beschrieb auch die Schreie und Szenen, wie Eltern in der Flucht ihre Kinder suchten. Ebenfalls im Internet waren Videos zu sehen, die von Augenzeugen mit ihren Samrtphones aufgenommen worden waren.
Trotz solcher Berichte und Dokumente kann man sich nur annähernd ein Bild der Panik machen, die an der Uferpromenade ausbrach, als die Leute begriffen, was geschah. Im Tumult versuchten alle, sich in Sicherheit zu bringen und zugleich die anderen zu warnen. Die Menschen stießen und rannten, um von der Fahrbahn wegzukommen, die anschließend den Schilderungen zufolge einem Schlachtfeld glich: Überall lagen zum Teil spärlich bedeckte Leichen oder Körperteile und blutende Verletzte, terrorisierte Menschen suchten verstört oder verzweifelt nach ihren Angehörigen.
Die erste Bilanz ist grauenhaft: Mindestens 84 Menschen, darunter mehrere Kinder, sind tot, andere wurden schwerverletzt, achtzehn von ihnen schweben noch in Lebensgefahr. Nach Angaben der Gesundheitsbehörden sind unter den Opfern insgesamt 58 Kinder ins Krankenhaus eingeliefert worden. Das Feuerwerk zum Nationalfeiertag zieht traditionellerweise vor allem Familien an.
Hollande: Tat mit „terroristischem Charakter“
Ein Luxushotel am Tatort an der Promenade des Anglais wurde in ein Feldlazarett umgewandelt. Anwohner brachten den schockierten Opfern des Anschlags Decken, Wasser und – sofern dies möglich war – ein wenig Trost. Der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, ersuchte die Bürger via Internet, zu Hause zu bleiben.
Bemängelt wird die Panne einer Smartphone-Applikation, mit der das Innenministerium die Bürger im Fall von laufenden Terroranschlägen in Echtzeit, das heißt unverzüglich, warnen will. Der Alarm wurde erst Stunden nach dem terroristischen Blutbad in Nizza gegeben.
Beim Amokfahrer soll es sich laut Medienberichten um einen aus Tunesien stammenden Mann handeln, der die französische Staatszugehörigkeit besaß und in Nizza wohnhaft gewesen war. Seine Wohnung wurde im Rahmen der gerichtlichen Ermittlungen in der Hoffnung auf Spuren seiner Vorbereitungen und Hinweise auf seine eventuellen Kontakte von der Polizei durchsucht. Im LKW, den er zwei Tage zuvor in Saint-Laurent-du-Var, einem Vorort von Nizza gemietet hatte, wurden seine Ausweispapiere zusammen mit Waffen und einer Granate entdeckt, bei der sich um eine Attrappe handeln soll. Das Innenministerium wollte sich zuerst noch nicht eingehend zu seiner Identität äußern, solange die Resultate der DNA-Tests zur Überprüfung noch ausstehend waren.
Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve sagte, die Polizei habe „einen Terroristen ausschalten können“. Präsident François Hollande sprach von einem terroristischen Charakter der Tat. Das Motiv des Täters und weitere Hintergründe der Tat waren zunächst nicht bekannt. Hollande zufolge gab es bisher keine Hinweise auf Komplizen des Täters.
Ausnahmezustand soll verlängert werden
Er kündigte an, dass aufgrund der dramatischen Vorkommnisse der Notstand mit seinen Ausnahmegesetzen nicht wie geplant Ende Juli beendet, sondern für drei Monate verlängert werde. Zudem würden militärische Reserveeinheiten mobilisiert, um die bereits völlig überlasteten Polizisten und Gendarmen zu entlasten.
Ebenfalls ist die von Hollande noch am Vortag angekündigte Verringerung der im Rahmen der Operation „Sentinelle“ in Bahnhöfen, Flughäfen und auf Plätzen patrouillierenden 10.000 Militärs nicht mehr aktuell. Der Präsident hat bereits erklärt, Frankreich werde im Kampf gegen den islamistischen Terror nicht weichen, sondern im Gegenteil die militärischen Aktionen auch in Syrien und im Irak verstärken.
In einem Fernsehgespräch zum Nationalfeiertag hatte er noch am Donnerstagmittag eine eher beruhigte Bilanz der Sicherheitspolitik gezogen. Trotz einer eminenten Terrordrohung habe die Fußball-EM mit Erfolg und unbeschadet durchgeführt werden können. Diese nachträgliche Erleichterung war tragisch verfrüht.
Solidarität mit Frankreich
Bundespräsident Joachim Gauck zeigte sich erschüttert über die Attacke. Er sprach von einem „brutalen Anschlag auf friedlich feiernde Menschen“, der ihn „mit Entsetzen“ erfülle. Bundeskanzlerin Angela Merkel sicherte Frankreich die volle Solidarität Deutschlands zu. „Deutschland steht im Kampf gegen den Terrorismus an der Seite Frankreichs“, sagte sie am Freitag am Rande des Asem-Gipfels im mongolischen Ulan-Bator. US-Präsident Barack Obama verurteilte die Attacke von Nizza und sprach von einem offenbaren „schrecklichen Terroranschlag“. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte die Tat noch in der Nacht als „barbarischen und feigen Akt des Terrorismus“.
In Frankreich herrscht seit den islamistischen Anschlägen vom 13. November der Ausnahmezustand. Attentäter hatten bei Attacken auf das Fußballstadion Stade de France, den Pariser Musikclub Bataclan und eine Reihe von Bars und Restaurants 130 Menschen getötet. Zum schwersten Anschlag in der Geschichte Frankreichs bekannte sich die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS). Zum Anschlag von Nizza bekannte sich zunächst niemand.
Korrektur: Ursprünglich war in diesem Artikel von einem 21-jährigen Angreifer die Rede. Nach neuesten Erkenntnissen wurde er jedoch 1985 geboren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen