Anschlag in Hanau: Im Terrorwahn
In Hanau tötet ein Mann neun Menschen mit Migrationshintergrund. Zuvor verbreitete er Hass. Wo beginnt Terror?
Und aus all diesen Gründen, sagt R., „blieb mir also nichts anderes übrig, so zu handeln, wie ich es getan habe“.
Es ist ein abstruses Video, wirr, verschwörerisch, voller Hass. Aber Tobias R. spult seine Gedanken mit gewichtigem Blick runter. Er hat sie auch verschriftlich, in fehlerfreiem Deutsch, in einem „Skript“, 24 Seiten lang. Den Schriftsatz und das Video stellt Tobias R., neben anderen Dokumenten, auf eine auf seinen Namen angelegte Internetseite, legt dazu ein Impressum mit seiner Adresse und Handynummer an. Ein fast bürokratisches Vorgehen. Und dann zieht Tobias R. los.
Mit seinem schwarzen BMW, so der Ermittlungsstand, fährt der 43-Jährige am Mittwochabend in die Hanauer Innenstadt. Mit einer Waffe stürmte er zunächst die Shishabar „Midnight“ am zentralen Heumarkt, erschießt dort mehrere Menschen. Dann fährt Tobias R. weiter, westwärts zum Ortsteil Kesselstadt, wo er die „Arena Bar“ am Kurt-Schumacher-Platz angreift und weiter mordet. Am Ende sind neun Menschen mit Migrationshintergrund tot, 21 bis 44 Jahre alt, sechs weitere teils schwer verletzt.
Schlimmste Rechtsterrortat seit dem NSU
Dann fährt Tobias R. nach Hause. Als die Polizei, von Zeugen auf das Tatfahrzeug hingewiesen, dort später in der Nacht eintrifft, finden sie Tobias R. und dessen 72-jährige Mutter tot auf, beide erschossen. Neben Tobias R. liegt eine Pistole. Unverletzt bleibt der Vater.
Zehn Mordopfer, neun davon aus rassistischem Hass. Der Anschlag von Hanau ist damit der schwerste rechtsterroristische Anschlag seit der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, der 2011 aufflog. Noch um 4 Uhr in der Nacht zieht die Bundesanwaltschaft die Tat an sich, wegen der besonderen Bedeutung des Falls.
Es ist die Fortsetzung einer bedenkliche Gewaltserie, die sich in den vergangenen Monaten in Gang setzte. Schon im Juni hatte ein Rechtsextremist in Hessen getötet: Er erschoss den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dessen Haus. Einen Monat später schoss ein Mann auf einen Eritreer in Wächtersbach, auch Hessen, verletzte das Opfer lebensgefährlich. Im Oktober versuchte ein Rechtsextremist in Halle die Synagoge zu stürmen, erschoss danach zwei Passanten. Und erst am Freitag hatte die Bundesanwaltschaft 12 Rechtsextremisten unter Terrorverdacht festnehmen lassen, die „Gruppe S.“, Fanatiker aus dem Bürgerwehrmilieu.
Und nun Hanau.
„Rassismus ist ein Gift“
Mit „Entsetzen“ reagiert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag auf die „terroristische Gewalttat“. Kanzlerin Angela Merkel sagt: „Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift, und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft, und ist schuld an schon viel zu vielen Verbrechen.“ Tatsächlich: Es ist etwas ins Rutschen gekommen in diesem Land.
Tobias R. hat dazu nun beigetragen. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn nicht auf dem Schirm. Der 43-Jährige lebte in einer Wohnung in einem Reihenhaus in Kesselstadt, bei seinen Eltern. Nach eigener Auskunft in seinem Video machte er eine Bankerlehre und studierte BWL. Ein Bildausschnitt zeigt sein karg eingerichtetes Zimmer: ein senffarbener Sessel, ein Bett, vor allem aber Regale voller Aktenordner. In seiner Freizeit betätigte sich R. als Sportschütze. Als Rechtsextremist fiel er den Behörden nicht auf, auch nicht mit sonstigen Straftaten.
Offensichtlich aber scheint, dass Tobias R. psychische Probleme hatte. In seinem Video äußert er immer wieder, dass er sich überwacht und verfolgt fühle. Tobias R. spinnt sich in einem wahnhaften Komplott, in dem eine „Geheimorganisation“ die Welt steuere und sich Geheimdienste in Gehirne „einklinken“ könne. R. erzählt von einer „Schattenregierung“, von Hollywood, vom DFB und Donald Trump. Etliche Ereignisse der Weltgeschichte seien „auf meinen Willen zurückzuführen“, sagt er.
Gleichzeitig klagt er, nie eine Frau an seiner Seite gehabt zu haben. Und er ätzt über Menschen mit Migrationshintergrund, die „nicht leistungsfähig“, kriminell und „in jeglicher Hinsicht destruktiv“ seien. Deren Ausweisung sei „keine Lösung mehr“, es brauche eine „Grob-Säuberung“. „Ich würde diese Menschen alle eliminieren.“ Seine Tat sei daher als „Doppelschlag“ zu verstehen, schließt Tobias R.: „gegen die Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes“.
Wo beginnt Terror?
Die Einordnung der Tat hinterlässt damit Fragen. Was ist hier Terror, was ist Wahn? Die Frage stellt sich nicht zum ersten Mal.
Schon nach dem Attentat am Münchener OEZ-Einkaufszentrum 2016 wurde darüber diskutiert. Neun Menschen hatte damals der 18-jährige David S. erschossen, allesamt Menschen mit Migrationshintergrund. Jahrelang stritten die Gutachter, ob hier ein rassistisches Verbrechen vorliegt. Weil der Täter sich von Mitschülern gemobbt fühlte und psychische Problem hatte, dann aber seinen Frust gegen Menschen mit Migrationshintergrund richtete, gegen diese „Untermenschen“ und „Kakerlaken“, wie er schrieb, weil er für den Rechtsterroristen Anders Breivik schwärmte und genau an dessen Attentatstag loszog. Erst im Oktober 2019 entschieden die Ermittler: Die Tat wird als rechtsextrem eingestuft, weil sich David S. seine Opfer gezielt ausgesucht habe.
Auch nach dem Halle-Attentat tauchte die Diskussion wieder auf. Auch der dortige Attentäter Stephan Balliet verfasste eine Dokumentensammlung, in der er aufrief, „so viele Anti-Weiße zu töten wie möglich, Juden präferiert“. Dazu schrieb er eine Liste, auf welche Weisen er alles Juden töten wolle. Seinen Verteidiger fragte er als Erstes, ob dieser Jude sei. Dennoch halten die Behörden Balliet bisher für voll zurechnungsfähig. Die Anklage gegen ihn soll demnächst erhoben werden.
Beide Fälle zeigen aber auch die rechtsextremen Ideologiefragmente, welche die Täter aufgriffen – und derer sich nun auch der Hanau-Attentäter Tobias R. bedient. In seinem Fall ist es der tiefe Hass auf Menschen mit Migrationshintergrund und der Wahn, das diese bewusst auf eine „weitere Vermehrung“ setzten, wie R. schreibt. Es ist das in der Szene propagierte Bild des „Großen Austauschs“, eines angeblich gezielten Bevölkerungsaustauschs. Bei Tobias R. kommen dazu Anleihen an die Incel-Bewegung, die sich aus ihrer Sexlosigkeit in einen Hass auf Frauen steigern.
„Zutiefst rassistische Gesinnung“
Auch der Thüringer Rechtsextremismusforscher Matthias Quent ordnet den Fall am Donnerstag wegen der rassistischen Opferauswahl als Hassverbrechen und rechten Terror ein. „Aspekte von Amok und Terror schließen sich nicht aus“, betont er.
Gleiches tut am Nachmittag auch Generalbundesanwalt Peter Frank. Auch er attestiert Tobias R. „wirre Gedanken“ und „abstruse Verschwörungstheorien“, zugleich aber auch eine „zutiefst rassistische Gesinnung“. Die Indizien für eine rechtsextremistische Tat seien daher „gravierend“. „Das war eine Nacht, die uns noch lange in Erinnerung bleiben wird.“
Die Sicherheitsbehörden stellt der Fall aber noch vor ein größeres Problem. Denn wieder konnte sich ein Mann im Stillen radikalisieren, wieder konnten sie einen Rechtsextremisten nicht von seiner Tat abhalten – wie schon im Fall Lübcke und in Halle. Und wie konnte jemand mit derart psychischen Problemen an Waffen gelangen?
Tobias R. besaß Waffen als Sportschütze
Nach taz-Informationen besaß Tobias R. schon seit Jahren legal Waffenbesitzkarten als Sportschütze. Drei Pistolen sollen darauf registriert gewesen sein: je eine der Marken Sauer, Luger und Walther. Erst im vergangenen Sommer wurde Tobias R. von den Behörden routinemäßig kontrolliert: ohne Auffälligkeiten.
Dabei hatte die Bundesregierung zuletzt erst ein Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus geschnürt – inklusive eines verschärften Waffenrechts. Nun sollen Antragsteller eines Waffenscheins zuerst mit einer Regelanfrage beim Verfassungsschutz überprüft werden. Allein: Tobias R. war dort ja nicht bekannt.
Das Bundeskriminalamt und der Verfassungsschutz hatten zudem Konzepte aufgestellt, um auch Einzeltäter schneller aufspüren und deren Gefahr besser einschätzen zu können, etwa mit dem geplanten Analysetool Radar-rechts. Aber auch hier müssen die Gewalttäter überhaupt erst ins Visier der Behörden kommen.
„Sehr besorgniserregende Entwicklungen“
Generalbundesanwalt Peter Frank will nun vorerst klären, ob Tobias R. Mitwisser und Unterstützer hatte, möglicherweise auch im Ausland. Gleichzeitig sind die Behörden in Sorge über die derzeitige Dynamik in der rechtsextremen Szene. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der am Donnerstag mit anderen Spitzenpolitikern eigens nach Hanau reist, spricht von „sehr besorgniserregenden Entwicklungen“. Er verkündet, die Sicherheitsvorkehrungen in Deutschland zu verstärken. Noch am Abend wolle er mit den Innenministern der Länder darüber beraten, auch „vor dem Hintergrund vieler öffentlicher Veranstaltungen in den nächsten Tagen“.
In Hanau wollten sich da parallel Bürger und Politiker zu einer Gedenkkundgebung versammeln. Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) spricht zuvor schon von zurückliegenden Stunden, die zu den „traurigsten, bittersten gehören, die diese Stadt seit Friedenszeiten erlebt hat“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften