piwik no script img

Anpassung der Hartz-IV-RegelsätzeWie viel ist genug zum Leben?

Die Grundsicherung soll auch kulturelle Teilhabe ermöglichen, nun wird sie neu berechnet. Die bisherigen Sätze seien zu niedrig, sagen Experten.

Eine Frau schaut auf das Angebot am „Gabenzaun“ in Rostock Foto: Bernd Wüstneck/dpa

Frankfurt/Main taz | Wie viel Geld Hartz-IV-Empfänger*innen bekommen, hängt von den Regelsätzen ab. Die muss die Bundesregierung dieses Jahr neu festlegen, Grundlage ist die aktuellste Einkommens- und Verbraucherstichprobe.

Nun hat die Sozialwissenschaftlerin Irene Becker ein neues Gutachten im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion erstellt, das nach Ansicht der Kritiker*innen einen weiteren Beleg dafür liefert, dass die Regelsätze generell deutlich zu niedrig sind. Die Art und Weise, wie die Regelsätze berechnet werden, sollte demnach geändert werden.

Nach Beckers Berechnung haben Grundsicherungsbeziehende im Moment rund 80 Prozent weniger Geld für soziokulturelle Teilhabe im Vergleich zur Mitte der Gesellschaft. Beckers Fazit dazu ist eindeutig: Es sei „kaum vorstellbar, dass damit Ausgrenzungsprozesse verhindert werden könnten“.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass auch soziokulturelle Teilhabe zum Existenzminimum gehört und nicht nur das, was zum rein physischen Überleben nötig ist.

Bezug zur Realität verloren?

Ein weiterer Kritikpunkt von Forscherin Becker: Es gebe keine Gruppe in der Gesellschaft, die im Moment von derart wenig leben müsse wie die Hartz IV Beziehenden und Grundsicherung Beziehende im Alter. Denn von den Ausgaben der ärmsten 15 bis 20 Prozent der Gesellschaft, die als Referenzpunkt herangezogen werden, werden für die Berechnung der Regelsätze noch weitere Posten abgezogen, beispielsweise Handykosten, Pflanzen für die Fensterbank, Malstifte für Kinder oder alkoholische Getränke. Auf rund ein Viertel der Ausgaben summiert sich dieser Betrag, der gestrichen wird. Am Ende bleibt dann ein Regelsatz von derzeit 424 Euro, Mietkosten werden zusätzlich bis zu einem gewissen Betrag übernommen.

Damit fehle bei der Rechnung der Regelsätze der Bezug zu realen Lebensverhältnissen, erklärt Becker in ihrem Gutachten. Das Ergebnis des Regelbedarfsermittlungsgesetzes könnte nur als „nicht verfassungsgerecht eingestuft werden“.

Als realistischere Alternative wollen die Grünen die Regelsätze ausgehend von Ausgaben der mittleren Haushalte berechnen. Es müsse politisch festgelegt werden, wie hoch „der maximale, gerade noch akzeptable Abstand der Regelbedarfskategorien für Erwachsene und Kinder zu den entsprechenden Ausgaben der gesellschaftlichen Mitte sein“ darf, heißt es in einem neuen Beschluss, der am Dienstag veröffentlichen wurde.

In einem Rechenbeispiel wählen die Grünen einen Abstand von 33 Prozent zu den mittleren Haushaltsausgaben für die physische Existenzsicherung. Hartz-IV-Bezieher*innen sollen also zwei Drittel des Geldes für Lebensmittel, Kleidung, oder Wohnkosten bekommen, das deutsche Haushalte im Mittel dafür ausgeben. Für soziale Teilhabe und andere Grundbedarfe des alltäglichen Lebens solle der Abschlag bei maximal 60 Prozent liegen. Nur mit dieser Berechnungsweise könne gewährleistet werden, dass der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts eingelöst werde.

Die Chancen für eine Änderung stehen schlecht

Das Bundesverfassungsgericht hatte 2010 geurteilt, dass der Gesetzgeber die zu erbringenden Leistungen „an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten“ habe.

Mit der neuen Berechnung kämen die Grünen auf 557 Euro pro Monat für den Regelsatz exklusive Strom und weißer Ware, also ohne seltene Anschaffungen wie eine neue Waschmaschine. Mit Strom und jener weißen Ware würde der errechnete Satz bei 603 Euro liegen. Deutlich mehr, als die Bezieher*innen gerade bekommen.

Doch die Chancen stehen schlecht, dass bei der aktuellen Neuberechnungsrunde nach dem Vorschlag der Grünen gerechnet wird. Das zeigt die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. Sie hatte einige Probleme mit der Regelsatzermittlung darin thematisiert. Eine alternative Berechnung, abgeleitet von den Ausgaben der Mitte der Gesellschaft, lehnt das BMAS darin ab.

Die Bundesregierung schreibt: „Würde eine Regelbedarfsermittlung hingegen auf der Grundlage von Sonderauswertungen mit Haushalten aus der ‚Einkommensmitte‘ erfolgen, dann hätte dies zwangsläufig eine Anhebung des soziokulturellen Existenzminimums bis in den Bereich des Durchschnittseinkommens zur Folge.“ Auf das Argument, dass die „Einkommensmitte“ nur die Ausgangsbasis der Berechnung sein soll, geht die Bundesregierung nicht ein.

Heil in “unheilvoller Tradition“?

Allgemein sieht sich das Arbeitsministerium bei dem Berechnungsweg im Recht und verweist darauf, dass 2014 das Bundesverfassungsgericht die Berechnung als noch zulässig erklärt hatte. Damals hatte das Gericht die Regelsätze als verfassungsgemäß bezeichnet, das Ganze aber mit dem eindeutigen Zusatz „noch“ versehen – und auf eine Reihe von Mängeln hingewiesen.

„Heil folgt der unheilvollen Tradition seiner Vorgängerinnen und will weiter die Hartz-IV-Regelsätze kleinrechnen“, kritisierte die Parteivorsitzende Katja Kipping gegenüber der taz. Auch Sven Lehmann, sozialpolitischer Sprecher der Grünen, schätzt den Reformwillen der Bundesregierung derzeit als eher gering ein. „Wir werden bei dem Thema Druck machen“, kündigten beide daher unabhängig voneinander an.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • 0G
    02612 (Profil gelöscht)

    Auf welcher gesetzlichen Grundlage heraus wurde denn das Arbeitslosengeld II abgeschafft ? Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass nach über ein Jahrzehnt dieser Einsparmaßnahmen wegen einer vorübergehenden und längst überwundenen Wirtschaftskrise - das normale Sozialversicherungssystem noch nicht wieder greift ! Da sieht man, was für völlig unfähige Volksvertreter hier in Deutschland ungestraft ihr Unwesen treiben...

  • taz: "„Heil folgt der unheilvollen Tradition seiner Vorgängerinnen und will weiter die Hartz-IV-Regelsätze kleinrechnen“, kritisierte die Parteivorsitzende Katja Kipping gegenüber der taz."

    Der Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil (SPD) weiß ganz genau was er macht, denn es geht nicht nur darum die Hartz-IV-Regelsätze klein zu rechnen, sondern auch darum, dass man die Einkommenssteuerzahler "schröpfen kann.

    Es werden seit Jahren die Hartz-IV-Regelsätze systematisch niedrig gerechnet, wie das Fernsehmagazin 'Monitor' (ARD) berichtete. Mit solchen "Tricksereien" wird aber nicht nur bei den ALG II Empfängern gespart (ca. 10 Milliarden Euro im Jahr), sondern auch bei den Einkommenssteuerzahlern, denn Hartz IV ist daran gekoppelt. Je höher der Hartz IV Regelsatz nämlich ist, um so höher ist der Freibetrag für die Einkommenssteuerzahler in diesem Land. Da man aber die Hartz IV Sätze nicht anhebt, wird natürlich auch der Freibetrag nicht angehoben, und so holt sich der Staat noch einmal 15 Milliarden Euro vom Steuerzahler. Etwa 25 Milliarden Euro spart der Staat so im Jahr an seine Bürger.

    **Hartz IV: Wie die Bundesregierung die Regelsätze niedrig rechnet | Monitor | Das Erste | WDR** www.youtube.com/watch?v=Ml_cVzQccEk

  • Es ist doch schon seit langer Zeit bekannt, dass Armut in Deutschland eine Realität ist. Die nationale Armutskonferenz, Betroffeneninitiativen verweisen immer wieder auf die Zustände. Doch wirklich unternommen wird nichts – parteiübergreifend! Gegenüber dieser von Einkommensarmut betroffenen Personengruppe verhält die Politik sich oft mit großer Distanz. Politiker kümmern sich mehr um die Lobbyisten dieser kapitalistischen Demokratie.



    Von Armut Betroffene haben keine starke Lobby, die ihre Belange in den Diskurs einspeist und ihre Interessen durchsetzt.

  • Ich versteh immer noch nicht was gegen den Warenkorb als Berechnungsgrundlage spricht - außer dass die statistische Stichprobe die Möglichkeit einer systemischen Drückung und einer für Nicht-Versicherungsmathematiker völlig undurchsichtigen Berechnung des Regelsatzes liefert.

    und dass die Grünen eingestehen müssten, dass sie sich damals vom Kanzler der Bosse übelst haben über den Tisch ziehen lassen.

    Der Warenkorb würde obendrein die politisch gewollten Verteuerungen für Fleisch, Flugreisen, durch Co2-Steuer und ähnliches für die Einkommensschwächsten automatisch abfedern.

  • Dauerskandal

    Die Hartz Iv-Regelsätze sind zu niedrig und somit nicht armutsfest und daher ein schimpflicher Dauerskandal!



    Wann geschieht endlich was?

  • Hartz IV erfüllt seinen Zweck: Die Personen, die in Lohn und Brot stehen, fürchten das Abrutschen in diese Situation so sehr, dass sie für ihre Arbeitgeber durch brennende Reifen springen würden. Dazu trägt nicht nur der beschämend geringe Tagessatz bei, sondern auch die soziale Ächtung, die mit Hartz IV einhergeht und von einigen Medien immer wieder befeuert wird, sowie erniedrigende Zwangsmaßnahmen wie Bewerbungstraining für reifere Klienten, Ernährungsberatung mit Anwesenheitspflicht oder der reizende Ton, in dem die Vorladungen gehalten sind.

  • Das mal mitgemacht habend, bestätigen kann, daß von Teilhabe keine Rede ist. Malstifte. Papperlapapp.

    Das Wahlprogramm der Grünen mal gelesen habend, kein soziales Profil gefunden habe. 100 Euro extra. Papperlapapp. Weichgespülte Hipsterbande!

    Abschaffen das!