Solo-Selbstständige in Coronakrise: Kein Ansturm auf Hartz IV

In der Coronakrise wurde der Zugang zu Hartz IV deutlich vereinfacht. Bisher haben aber nur 68.000 Selbstständige die Grundsicherung beantragt. Warum?

Außenaufnahme eines Jobcenters.

Nur wenige Solo-Selbstständige kommen hierher: Jobcenter in Berlin-Mitte Foto: Jens Schicke/imago

BERLIN taz | Die Pandemie hat manches bewirkt – in Deutschland auch eine Sozialreform. Seit März dieses Jahres ist es viel einfacher, Grundsicherung (Hartz IV) zu bekommen. Im Gegensatz zu früher müssen die An­trag­stel­ler*in­nen erhebliche Vermögen nicht mehr angeben. Und die Jobcenter sollen auch Wohnungskosten übernehmen, die sie vor Corona niemals akzeptiert hätten. Besonders Selbstständige und Klein­un­ter­neh­mer*in­nen profitieren davon. Nun ist es Zeit für erste Erfahrungsberichte – und vielleicht für Lehren, die man daraus ziehen könnte.

„Manche Leute machten sich große Sorgen, dass sie ihre Wohnungen verlassen müssten, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnten“, sagt Renate Stark, eine Beraterin der Caritas in Berlin. „Doch das Jobcenter zahlte die Mieten mehr oder weniger anstandslos.“ Astrid Mast, die Geschäftsführerin des Jobcenters Esslingen bei Stuttgart, berichtet: „Die allermeisten Anträge wurden bewilligt, nur einzelne abgelehnt, weil das Vermögen über 60.000 Euro lag.“

In Esslingen arbeiten bereits seit Jahren einige Spe­zia­list*in­nen, die vor allem Selbstständige beraten. Ab März meldeten sich bei ihnen rund 150 Gastronomen, Grafikerinnen, Künstler, Dolmetscher, Friseurinnen, aber auch Rechtsanwältinnen oder Fahrlehrer – allesamt Leute, deren Kleinfirmen plötzlich keine Einnahmen mehr hatten.

Auch Ralph Lauhoff-Baker vom Jobcenter in Bielefeld sagt: „Nach unseren Rückmeldungen sind die Erfahrungen mit dem vereinfachten Verfahren ganz überwiegend positiv.“ Die Sachbearbeitung werde durch den vorübergehenden „Wegfall von Prüfungserfordernissen entlastet, und das vereinfachte Verfahren bietet den Rahmen, über die hohe Anzahl an Anträgen zeitnah zu entscheiden“.

Ein Schritt Richtung Grundeinkommen?

Konkret hat die Bundesregierung ab März diese Erleichterungen eingeführt: An­trag­stel­ler*in­nen können Hartz IV auch dann bekommen, wenn sie 60.000 Euro Vermögen haben, beispielsweise für die Rente. Pro Haushaltsmitglied kommen 30.000 Euro Freigrenze hinzu, Betriebskapital bleibt ebenfalls außen vor. „Für die Höhe der Mieten, die wir übernehmen, gibt es bis zunächst 30. September keine Obergrenze“, ergänzt Geschäftsführerin Mast. 1.500 Euro warm pro Monat für eine große Wohnung? Kein Problem, das Jobcenter überweist.

Renate Stark, Caritas, Berlin

„Das Jobcenter zahlte die Mieten mehr oder weniger anstandslos“

Angesichts der Verbesserungen wirkt es allerdings erstaunlich, wie wenige Selbstständige seit März überhaupt Grundsicherung beantragten. Nach den neuen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit vom Mittwoch waren es von April bis Juni nur gut 68.000 bundesweit. Als die Bundesregierung ihr Sozialschutzpaket beschloss, rechnete sie mit einer Million An­trag­stel­ler*in­nen aus dem Kreis der freien Berufe und Soloselbstständigen.

Die niedrige Zahl lässt sich in zwei Richtungen interpretieren. Einerseits wurden die Hürden bei Hartz IV nur gesenkt, nicht abgeschafft. Wer Grundsicherung erhalten will, muss weiterhin seine oder ihre Bedürftigkeit nachweisen. Das bedeutet etwa, dass zunächst Ehe- und Le­bens­part­ner*in­nen mit ausreichendem Einkommen für den Lebensunterhalt verantwortlich sind, nicht der Staat. Das mag potenzielle Be­wer­ber*in­nen abschrecken.

Andererseits zeigte sich aber wohl auch, dass der So­zial­staat nicht überrannt wird, selbst wenn er sich kulant verhält. Viele Leute wollen offenbar keine Nothilfe, wenn sie nicht wirklich in Not sind. Das gilt übrigens nicht nur für die Selbstständigen, sondern auch für die große Gruppe der Hartz-IV-Be­zie­her*in­nen, deren Zahl trotz Corona im Jahresvergleich nur um 150.000 auf gut vier Millionen stieg.

Einen „echten Feldversuch“ nennt die Erleichterungen deshalb Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Der So­zial­staat funktioniere auch ohne „Sanktionen und Drangsalierungen“.

Folglich befürwortet Schneider, dass die Reform auch nach Corona beibehalten wird. Bisher ist sie bis Ende September befristet, vielleicht gibt es eine Verlängerung, aber dann will die Regierung sie wohl zurücknehmen. Außerdem verlangt der Verband „eine sehr erleichterte Einkommensprüfung, die ständige Neuanträge überflüssig macht“. Besonders bei älteren Menschen in der Grundsicherung sei eine Überprüfung alle zwei Jahre ausreichend.

Obwohl der Paritätische eine „sanktionsfreie“ Grundsicherung fordert, will er von einem Grundeinkommen für alle nichts wissen. Die Befürchtung: Dem würden die bisherigen Sozialleistungen geopfert. Für viele Un­ter­zeich­ner*in­nen der aktuellen Petitionen für ein bedingungsloses Grundeinkommen sieht die Sache anders aus: Sie fühlen sich ermutigt und betrachten die coronabedingte Hartz-Reform als Schritt in Richtung ihrer Vision.

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