Anonyme Sprechstunde für Flüchtlinge: Papierlose Patienten
Der Staat verweigert Menschen ohne Aufenthaltsstatus die Gesundheits-Versorgung. In Oldenburg fordern Grüne, Linke und Piraten eine anonyme Sprechstunde.
GÖTTINGEN taz | Sie haben Zahnschmerzen oder Hautausschlag, bekommen Kinder oder Fieber, leiden an Krebs oder an den Folgen erlittener Folter. Doch Menschen ohne Aufenthaltsstatus können nicht einfach zum Arzt gehen, da sie keine Krankenversicherung haben und meistens nicht das nötige Geld, um für die medizinische Behandlung selbst aufzukommen. Dazu kommt noch die Angst, dass ihre Daten vom Arzt an die Ausländerbehörde weitergeleitet werden. Auch die Bundesärztekammer hat bereits kritisiert, dass eine angemessene medizinische Versorgung der Papierlosen in Deutschland nicht möglich ist.
Flüchtlingsberater schätzen die Zahl der Papierlosen bundesweit auf rund 500.000. Allein in Niedersachsen sollen es bis zu 40.000 sein, einige hundert in Oldenburg. Genaue Zahlen gibt es naturgemäß nicht. In Oldenburg wollen Grüne, Linke und Piraten jetzt die Situation der Papierlosen verbessern. In den nächsten Sitzungen der Ratsausschüsse für Integration und Soziales wollen die drei Parteien beantragen, dass die Stadtverwaltung die Einführung einer „Humanitären Sprechstunde“ prüft und die Kosten dafür ermittelt.
In einer solchen anonymen und kostenlosen Sprechstunde könnten einfache Probleme wie Wundversorgung und akute Infektionskrankheiten untersucht und gleich behandelt werden, sagt der Linken-Ratsherr Jens Ilse. Im Falle von schwerwiegenden Erkrankungen könnte der behandelnde Arzt auf weitere medizinische Angebote für papierlose Menschen hinweisen.
Ein mögliches Vorbild für die Oldenburger Initiative sei Bremen, sagt Ilse. Ein Arzt und eine Ärztin des Referates Migration und Gesundheit bieten in den Räumen des Bremer Gesundheitsamtes bereits seit Herbst 2009 regelmäßig humanitäre Sprechstunden für Menschen ohne Aufenthaltsstatus und ohne Krankenversicherung an. Neben einer Basisversorgung gibt es auch hier eine kostenlose Beratung zu Fragen rund um die Gesundheit. In Oldenburg sei laut Ilse auch denkbar, dass die Sprechstunde an wechselnden Orten in der Stadt stattfindet.
Menschen ohne Aufenthaltsstatus ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung faktisch verwehrt.
Im Krankheitsfall oder bei Schwangerschaften sind sie auf selbst organisierte oder nichtstaatliche Projekte angewiesen, denn beantragen sie beim Sozialamt einen Krankenschein, informiert das Amt die Ausländerbehörde und dann droht die Abschiebung.
Im Notfall sind Kliniken durch die ärztliche Schweigepflicht vor der Weitergabe der Patientendaten an die Ausländerbehörde geschützt. Meist bleiben die Kliniken dann aber auf den Kosten sitzen und versuchen daher, solche Behandlungen zu vermeiden.
In ihrem Antrag regen Grüne, Linke und Piraten – die beiden letztgenannten bilden im Stadtrat eine Gruppe – auch den Aufbau eines Netzwerks von Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten an, die Flüchtlinge unentgeltlich behandeln. Auch hierfür gibt es Vorbilder. In Göttingen etwa ist seit mehr als zehn Jahren die Medizinische Flüchtlingshilfe aktiv. Hier werden Papierlose beraten und an eine(n) der etwa zehn Göttinger Ärztinnen und Zahnärzte weiter vermittelt, die Menschen ohne Aufenthaltsstatus behandeln, ohne dafür Geld zu nehmen oder sie nach ihrem Pass zu fragen.
Auch einige Krankenhäuser, die bei Operationen zumindest einen Teil der Kosten übernehmen, sind in Göttingen in das Netzwerk eingebunden. In anderen Großstädten wie Hamburg oder Hannover sind ebenfalls solche Netzwerke aus Hebammen, Ärzten und Krankenhäusern entstanden und helfen jedes Jahr vielen Menschen ohne Papiere.
Manchmal winken die Mediziner aber ab. Einige, weil sie nicht auf den Kosten sitzenbleiben wollen und andere aus Angst, sich strafbar zu machen, sagen Flüchtlingsberater. Zu Anklagen oder auch nur Ermittlungen wegen medizinischer Hilfeleistung für Papierlose ist es bislang jedoch noch nicht gekommen.
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