Annäherung in Korea: Einer, der nach Norden will
Shin Jae Yong aus Seoul will eine Studienreise nach Pjöngjang organisieren. Es wäre der erste Austausch zwischen Nord- und Südkorea.
Erstaunt beobachtet Shin, wie sich an jenem Freitagmorgen ein Menschenstrom vor dem großen Flachbildfernseher einfindet und gebannt den ersten Handschlag der zwei koreanischen Staatschefs verfolgt. Dann bittet Kim sein Gegenüber Moon Jae In, doch auch einmal die historische Landesgrenze in Richtung Norden zu überqueren. „Man konnte förmlich spüren, wie sich die Emotionen unter meinen Kommilitonen entladen haben“, erinnert sich der Student an den Moment. „Wir haben geklatscht und gejubelt – einige hatten feuchte Augen.“
Shin Jae Yong – dunkles Jeanshemd, schwarze Malcom-X-Brille, spitzes Kinn – sitzt am Schreibtisch seines Studentenclubs, der von leeren Pizzaschachteln und Büchern verdeckt wird. Über ihm an der Wand hängt das Schwarz-Weiß-Bild von einem ernst dreinschauenden jungen Mann: dem Studenten Park Jong Chul, der in der Nacht des 14. Januar 1987 vom südkoreanischen Geheimdienst verschleppt und zu Tode gefoltert wurde. Heute ist der mit 23 Jahren ermordete Park eine Ikone der Demokratiebewegung, weil sein Tod den Sturz der brutalen Militärdiktatur mit ausgelöst hat. Auch Park Jong Chul studierte an der Seouler Nationaluniversität, in den 80er Jahren lieferten sich auf dem Campus die Studenten mit den Hundertschaften der Bereitschaftspolizei erbitterte Schlachten.
Wiedervereinigung, nein danke?
Seoul ist inzwischen zur freien, zur wohlhabenden, neonglitzernden Konsummetropole angewachsen, deren scheinbar konformistische Jugend sich vor allem ums Aufpolieren ihrer Lebensläufe sorgt. Laut einer aktuellen Regierungsumfrage lehnt die Generation der heute 20- bis 30-Jährigen zu über 70 Prozent eine Wiedervereinigung mit Nordkorea ab. Die Nachbarn im Norden sind für sie nichts weiter als unliebsame Verwandte, deren man sich eher schämt, als dass man sich ihnen zugehörig fühlt.
Das jedenfalls schreiben regelmäßig die großen Tageszeitungen des Landes. „Das ist alles falsch, wir interessieren uns sehr wohl für Nordkorea“, sagt Shin. In der Euphoriewelle während des innerkoreanischen Gipfeltreffens startete er einen Aufruf im Intranet seiner Universität: Wer Interesse hat, sich für einen Studentenaustausch nach Nordkorea einzusetzen, solle sich melden.
In knapp zwei Wochen erhält Shin Jae Yong 122 Bewerbungen. In den kommenden Wochen will er eine Studententruppe für einen viertägigen Trip zur Kim-Il-Sung-Universität nach Pjöngjang zusammentrommeln. Es wäre der erste Studentenaustausch nach der tragischen Landesteilung vor über 70 Jahren. Die erste Delegation soll bereits am 15. August einreisen – am koreanischen Tag der Befreiung von den japanischen Kolonialherren. Dieser wird auf beiden Seiten des 38. Breitengrads zelebriert.
„Wir sind eine Nation, ein Volk. Als Deutschland noch geteilt war, gab es trotz aller Differenzen ständigen Austausch. Nicht so in Korea, unsere Trennung ist um ein Vielfaches strenger“, sagt Shin.
Wie strikt die Landesteilung tatsächlich ist, bekam die linksgerichtete Politikerin Lim Su Kyung vor knapp 30 Jahren zu spüren. Als 21-jährige Sprachstudentin bewirbt sie sich 1989, „völlig ohne politische Absichten“, darum, zu den Weltfestspielen der Jugend ins nordkoreanische Pjöngjang zu reisen. Doch beide Volksparteien ihres Landes votierten einstimmig dagegen, also fliegt sie auf eigene Faust nach Westberlin, schleust sich über die Grenze in den Osten und von dort weiter nach Pjöngjang. Lim reist eine gute Woche, dabei liegen die koreanischen Hauptstädte keine drei Autostunden auseinander.
Zur Überraschung der südkoreanischen Studentin wird sie im Norden von jubelnden Massen begrüßt, durch Pressekonferenzen gereicht und sogar zum Abendessen mit Staatsgründer Kim Il Sung eingeladen. Während der Jugendspiele hält Lim eine improvisierte Rede im Maistadion vor 150.000 euphorisierten Zuschauern: „Wenn die Studenten aus dem Norden und Süden weiter gemeinsam für die Wiedervereinigung kämpfen, wird es eines Tages passieren. Unser Mutterland ist eins!“
Als Lim Su Kyung jedoch Tage später die Waffenstillstandslinie an dem symbolischen Friedensdorf Panmunjom in Richtung Süden überquert, wird sie von südkoreanischen Militärs verhaftet. Neben Spionage wird sie der Schmuggelei bezichtigt – weil sie nordkoreanische Schuhe trägt, die man ihr geschenkt hat, nachdem sie ihre alten verloren hatte. Nach dreieinhalb Jahren wird Lim begnadigt, sie verlässt das Gefängnis als gebrochener Mensch, geächtet von der konservativen Gesellschaft als kommunistische Verräterin.
Selfies in der Grenzkulisse
Knapp 30 Jahre später steht eine Männergruppe in Wanderkleidung in einer originalgetreuen Replik des Friedensdorfs Panmunjom. „Ah, da ist also Nordkorea! Lasst uns über die Grenze gehen“, sagt der 61-jährige Bankangestellte Lee Seong Hyun und lässt sich von seinem Chef knipsen. Sie müssen sich beeilen: Hinter ihnen wartet bereits eine Kleinfamilie mit Smartphones.
Die Filmkulisse wurde einst für einen Spionagethriller errichtet. Lange Jahre war sie eine verlassene Geisterstadt. Doch seit dem innerkoreanischen Gipfel ist sie zum Pilgerort für wöchentlich rund 15.000 Südkoreaner geworden: Sie wollen den Handschlag zwischen Kim und Moon nachstellen. Die echte Grenze dürfen Südkoreaner ohne Regierungserlaubnis nicht überqueren – Gefängnis würde drohen.
„Natürlich hat das Gipfeltreffen mein Misstrauen gegen Nordkorea nicht vollständig ausgeräumt, aber meine Gefühle für Kim Jong Un sind auf jeden Fall wesentlich abgemildert“, sagt Lee. Er erinnert sich an die Schilderungen seiner Grundschullehrer, wonach Nordkoreaner „rote Teufel“ seien. „Diese Propaganda des Kalten Kriegs sitzt immer noch tief in unseren Köpfen. Erst wenn wir uns gegenseitig kennenlernen, wird das irgendwann verschwinden.“
Auch Student Shin Jae Yong wird von diesem Wunsch angetrieben. Ob er seinen Traum vom Studentenaustausch verwirklichen kann, hängt aber vom Wohlwollen seiner Regierung ab. Am Dienstag wird ihm das Vereinigungsministerium mitteilen, ob es seinen Antrag genehmigt. Ohne Erlaubnis darf er als südkoreanischer Staatsbürger keinen Kontakt mit Nordkorea aufnehmen. Shin ist optimistisch: „Derzeit befürworten 60 Prozent meiner Kommilitonen eine Annäherung an Nordkorea. Nach dem Gipfel in Singapur werden es schon 80 Prozent sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind