Angst vor der Energiewende: Es geht drunter und drüber
Im Thüringer Wald entsteht eine neue Stromtrasse. Weil die Koalition Akzeptanzprobleme fürchtet, muss nun neu geplant werden.
Innerhalb weniger Wochen wächst hier ein Strommast mit gewaltigen Dimensionen heran. Er ruht auf vier Betonfundamenten, die 18 Meter tief in den Boden reichen; auf der Grundfläche hätte locker ein Einfamilienhaus Platz. Am Ende wird der Mast etwa 150 Tonnen wiegen und knapp 60 Meter hoch sein.
77 solcher Baustellen finden sich heute allein in Thüringen: Aus so vielen Masten besteht der dritte Bauabschnitt der „Südwest-Kuppelleitung“, auch bekannt als „Thüringer Strombrücke“. Mit einer Gesamtlänge von 210 Kilometern soll sie eine weitere Verbindung zwischen den ehemals getrennten Netzen in West- und Ostdeutschland schaffen und überschüssigen Strom aus dem Norden Deutschlands in den Süden transportieren.
Im dritten Bauabschnitt entsteht derzeit auf gut 26 Kilometern zwischen Altenfeld und Schalkau im Schnitt alle 350 Meter ein Mast. Damit die Masten Platz für sechs Leitungsstränge bieten, sind sie nicht nur besonders hoch; ihre Ausleger sind mit über 30 Metern auch erheblich breiter als bei anderen Hochspannungsleitungen.
Der Netzausbau verzögert sich schon jetzt
In ganz Deutschland laufen Bürgerinitiativen Sturm gegen die neuen Stromleitungen. Vielerorts mit Erfolg: Im letzten halben Jahr entstanden insgesamt nur 41 Kilometer neue Leitungen – rund halb so viel wie geplant, heißt es in einem aktuellen Bericht von McKinsey. Das Beratungsunternehmen überprüft regelmäßig die Fortschritte bei der Energiewende. Durch weitere Verzögerungen sei das Netzausbauziel infrage gestellt.
Martin Gude
Die Kritikpunkte sind vielfältig: Grundstückseigentümer fürchten um den Wert ihrer Immobilien. Anwohner betrachten die Masten als Verschandelung der Landschaft oder wegen der elektromagnetischen Strahlung als Gesundheitsgefahr. Naturschützer kritisieren die Eingriffe in Ökosysteme. Tourismusverbände fürchten, dass Besucher ausbleiben. Derartige Kritik gab es auch in Thüringen. Doch Netzbetreiber 50Hertz und die Landesregierung haben viel unternommen, um die Akzeptanz zu steigern.
Neben den vorgeschriebenen Entschädigungen für Eigentümer, auf deren Grundstücken die Masten stehen, zahlt das Unternehmen freiwillig Geld an die Gemeinden, über deren Gebiet die Leitungen laufen. „Bis zu 40.000 Euro pro Kilometer“, berichtet der Projektleiter Thomas Dockhorn.
Die Trasse wurde so gewählt, dass sie möglichst selten bewohntes Gebiet tangiert. Täler werden mit besonders großen Abständen zwischen Masten überspannt, und wo immer möglich läuft die neue Leitung parallel zu bestehenden Stromtrassen. Ein großer Teil der Strecke wird zudem entlang der Bahnstrecke von Erfurt nach München geführt, die gerade im Bau ist.
Auch bei Goldisthal brauchen die Bauarbeiter keine eigene Zufahrtsstraße, um Kräne, Stahl und Beton in den Wald zu schaffen. Sie nutzen den Weg, der zur nahen Tunnelbaustelle für den ICE führt.
Kleine Bäume dürfen stehen bleiben
Auch wenn die Baustelle einen großen Eingriff in die Natur darstellt, gibt sich der Betreiber Mühe, die Auswirkungen gering zu halten. Früher wurden die Stromtrassen in voller Breite komplett von Bäumen freigehalten, heute sind die Schneisen nicht nur schmaler; kleine Bäume, die mit den Leitungen auf absehbare Zeit nicht in Kontakt kommen, dürfen stehen bleiben.
„Ökologisches Schneisenmanagement“ nennt 50Hertz dieses Vorgehen – und stößt damit bei Umweltverbänden auf Zustimmung. „Natürlich ist der Neubau einer Trasse immer ein großer Eingriff in die Natur“, sagt Eric Neuling, Netzexperte beim Naturschutzbund. „Aber das ökologische Schneisenmanagement reduziert diesen.“ Die Natur könne am Ende sogar profitieren: „Unter einer solchen Trasse ist der Artenreichtum größer als in einem intensiv genutzten Forst.“
In Thüringen war das Bemühen des Netzbetreibers erfolgreich: Die Zahl der Einwendungen aus der Bevölkerung ging mit jedem Bauabschnitt zurück. Und selbst die kritische Grünen-Umweltministerin Anja Siegesmund winkte das Projekt am Ende durch. Immerhin sei die „ökologisch sinnvollste Variante“ durchgesetzt worden, sagte sie. Zu Beginn des kommenden Jahres soll die Leitung in Betrieb gehen.
Anderswo ist derzeit offen, wann und wie es mit dem Fernleitungsbau weitergeht – vor allem bei den drei geplanten Trassen zur Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ), die von Norden nach Süden führen sollen und auch bei manchen Energiewende-Freunden umstritten sind. Die Bundesregierung hat in der vergangenen Woche beschlossen, dass dabei statt der bisher üblichen Freileitungen sogenannte Erdkabel „Vorrang“ erhalten sollen.
Damit sind alle bisherigen Planungen für diese Trassen hinfällig. „Wir starten wieder bei null“, sagt Thomas Dockhorn vom Netzbetreiber 50Hertz. Auch im Thüringer Umweltministerium hält sich die Begeisterung in Grenzen. „Wir waren bei der Planung für die HGÜ-Leitungen schon auf einem guten Weg“, sagt Martin Gude, Leiter der Energieabteilung. Sie sollten größtenteils mit bestehenden Freileitungen kombiniert werden. Das ist durch den Beschluss der Koalition nun hinfällig. „Die Planung muss wieder von vorn beginnen“, sagt Gude.
Erdkabel sind auch ein Eingriff
Zudem werden zwar manche Akzeptanzprobleme gelöst, wenn die ungeliebten Leitungen unter der Erde verlegt werden, doch es entstehen dabei auch neue Probleme: Die Kosten sind um ein Vielfaches höher, Reparaturen werden deutlich zeitaufwendiger sein.
Die Landschaft verändert sich auch durch Erdkabel: Eine etwa 40 Meter breite Schneise muss frei von Bäumen und Büschen gehalten werden. Der Bau selbst bedeutet einen massiven Eingriff in den Boden- und Wasserhaushalt.
Bei der „Thüringer Strombrücke“ wurde darum auf ein Erdkabel verzichtet. Es war ursprünglich wenige Kilometer südlich von Goldisthal vorgesehen, wo die Leitung Deutschlands beliebtesten Wanderweg, den Rennsteig, kreuzt. Die ökologischen Auswirkungen eines unterirdischen Kabels wären zu groß, entschied die Naturschutzbehörde. Nun wachsen auch hier stählerne Masten in den Himmel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles