Angriffe auf unabhängige Justiz in Polen: Demo gegen „Maulkorbgesetz“
Tausende Juristen demonstrieren in Warschau für eine unabhängige Justiz. Bürger und Delegationen aus ganz Europa schließen sich ihnen an.
Vorneweg laufen polnische Richter in ihren schwarzen Roben, denen sich Richterdelegationen aus ganz Europa angeschlossen haben. Als nächstes folgen Richter, die ihre Amts-Roben, die sie normalerweise nur im Gerichtssaal anlegen, über die Schulter gelegt tragen, dahinter Richter, denen die Roben kurz vor der Demonstration weggenommen wurden. Danach folgen Staatsanwälte, Straf-Verteidiger, Notare, Rechtsanwälte und Assessoren, die den Richter-Protest gegen das „Disziplinierungs- oder Maulkorb-Gesetz“ unterstützten.
Sollte dieses Gesetz verabschiedet werden, könnten polnische Richter demnächst nicht mehr darüber entscheiden, ob andere Richter befangen sind oder unrechtmäßig ernannt wurden. Das Projekt sieht vor, dass Richter bald damit rechnen müssen, Geldstrafen zu erhalten, herabgestuft zu werden oder gar entlassen zu werden, wenn sie die Legalität oder die Entscheidungskompetenz eines anderen Richters, eines Gerichts oder einer Kammer in Frage stellen. Außerdem dürfen sie sich nicht politisch betätigen und müssen angeben, in welchen Organisationen und Bürgerinitiativen sie aktiv sind.
Bei ihrer Demonstration dagegen sind die Juristen aber nicht allein. Sie werden unterstützt von tausenden Bürgern, die teils noch aus eigener Erfahrung wissen, welche Konsequenzen eine „politische Justiz“ für alle Bürger nach sich zieht. „Noch im kommunistischen Polen waren wir Willkürmaßnahmen von Partei und Staat weitgehend hilflos ausgeliefert“, erklärt Adam Kubicki, 72, der seinen Enkel zur Demo mitgenommen hat.
„Das ist das Ende“
„Das ist gerade mal 30 Jahre her. Wir saßen im Gefängnis – wegen Nichts. Vorwürfe ließen sich ja leicht fabrizieren.“ Die derzeit in Polen regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) will aber wieder alle Macht im Staate haben, auch die über Staatsanwälte, Richter und Gerichte – wie damals die kommunistische Vereinigte Polnische Arbeiterpartei.
Der Widerstand gegen die Pläne von PiS ist an diesem Samstag erstaunlich groß. Immerhin 30.000 Menschen haben sich dem „Marsch der 1000 Roben“ angeschlossen, viel mehr als die Veranstalter erwartet hatten. „Das ist ein gutes Zeichen“, so Kubicki.
Unter den Protestlern ist auch Dr. Edith Zeller, die Präsidentin der Europäischen Verwaltungsrichter-Vereinigung. „Ich bin eigens aus Wien nach Warschau gekommen“, erklärt sie, „um solidarisch mit den Polen und Polinnen gegen den Abbau des Rechtssystems zu protestieren.“ Zwar seien die Verwaltungsrichter noch nicht so betroffen wie die Richter in Straf- und Zivilgerichtsprozessen, doch „ohne die Freiheit und Unabhängigkeit der Richter gibt es keine Demokratie mehr“, so Zeller. „Das ist das Ende.“
Vor wenigen Wochen erst hatte das Oberste Gericht Polens ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg umgesetzt und in zwei Urteilen entschieden, dass das Richterwahlgremium – in seiner neuen Zusammensetzung „Neo-Landesjustizrat“ – kein von der aktuellen Politik unabhängiges Organ sei. Die inzwischen über 500 Richter-Berufungen durch das Gremium seien deshalb fragwürdig bis illegal.
Ist es schon zu spät?
Grundsätzlich können demnächst alle Urteile dieser vom Neo-Landesjustizrat ernannten Richter angefochten werden. In einem zweiten Urteil entschied das Oberste Gericht, dass die schon bestehende sogenannte Disziplinarkammer keine rechtlich wirksamen Strafen gegen Richter verhängen kann. Statt diese Urteile anzuerkennen und die fehlerhaften Gesetze nachzubessern, brachte die PiS aber als Antwort das neue Disziplinierungsgesetz auf den Weg.
„Wir haben in der Europäischen Union gemeinsame Rechtsstandards“, erklärt Zeller. „Wenn jetzt die polnischen Richter politisch unter Druck gesetzt werden und damit der Rechts-Standard Polens abgesenkt wird, werden die Urteile polnischer Gerichte in den anderen EU-Ländern nicht mehr anerkannt werden.“
Wenn Richter nicht mehr unabhängig – nach Recht und Gesetz – urteilen würden, sei das Vertrauen der Kollegen weg. Es würde dann zum Beispiel schwierig werden, Verdächtige an Polen auszuliefern, da diese dort womöglich kein faires Verfahren zu erwarten hätten. Mittel- und langfristig würde sich die fehlende Rechtssicherheit in Polen auch auf die Wirtschaft auswirken. „Die meisten Bürger werden wohl erst dann merken, was das Gesetz für sie bedeutet, wenn es zu spät ist“, so Zeller.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?