Angriffe auf Zivilbevölkerung: Aus dem Leben gerissen
In der zentralukrainischen Stadt Vinnytsia starben nach einem russischen Raketenangriff 24 Menschen, darunter drei Kinder. Über eine Stadt in Trauer.
„Es ist die eine Sache, sich das vorzustellen, wenn man die Bilder in den Nachrichten sieht. Und eine völlig andere, auf einmal so nah dran zu sein“, sagt Misha Matsiuk. Wegen der dicken Rauchwolke, die sich bildete, konnte der 30-Jährige zunächst nicht sehen, ob seine Wohnung nebenan getroffen wurde. Einen Freund, der dort übernachtet hatte, erreichte er auch nicht.
Hunderte von Kilometern von der Front entfernt, hat das russische Militär am vergangenen Donnerstagmorgen einen belebten Platz in der zentralukrainischen Stadt Vinnytsia attackiert. Der Angriff kam unvermittelt und erinnerte einmal mehr daran, dass dieser Krieg noch lange nicht vorbei ist. „Niemand in der Ukraine ist sicher. Die Russen greifen uns überall an“, sagt Misha. Ein militärisches Ziel ist im Umkreis des Einschlagsorts weit und breit nicht auszumachen. Terrorismus sei das. Ein Freund von Misha verbrannte an jenem Morgen in seinem Auto. 24 Menschen starben. Drei davon waren Kinder.
Im Rathaus von Vinnytsia diktiert Bürgermeister Sergiy Morgunov der Reporterin beflissen ihre Namen in den Block: Liza, vier Jahre alt, Maksym, sieben Jahre alt, und Kyrylo, acht. Um 10.43 Uhr schlug die erste von drei Raketen ein, 67 Menschen wurden ins Krankenhaus eingeliefert, mehr als 80 Gebäude seien beschädigt worden. Morgunov gibt im Stundentakt Interviews, ist seit Tagen im Dauereinsatz. Die Welt soll wissen, was in seiner Stadt passiert ist. Sie ist das jüngste Beispiel für den Charakter des russischen Angriffskrieges, in dem das Leben von Zivilisten noch nie viel gegolten hat.
Die Stadt galt als sicher
Dabei wurde die Stadt, weit weg von den Gefechten im Donbass, als sicher eingestuft. Nachdem im März sechs Menschen beim Beschuss des Militärflughafens von Vinnytsia getötet wurden, blieb es vergleichsweise ruhig in der beschaulichen Großstadt. Die Region war eine von nur zehn in der Ukraine, in der es laut Bürgermeister seit Februar keine aktiven Kämpfe gegeben hat. Fast 40.000 Menschen aus den Hotspots des Kriegs seien in seine Stadt geflohen, die vor dem Krieg rund 400.000 Einwohner zählte.
Seit Beginn der Invasion ist es für alle Orte in der Ukraine sowieso nur eine Frage der Wahrscheinlichkeit, wer zum Ziel der russischen Kriegsmaschinerie wird. Bürgermeister Morgunov öffnet auf seinem Smartphone die Luftalarm-App, die schrille Sirenentöne von sich gibt, sobald das Militär Gefahr am Himmel wahrzunehmen glaubt. Lässt sich auf die Schnelle sagen, wie oft es Luftalarm gegeben hat seit Februar? Unmöglich. So oft jedenfalls, dass die Menschen inzwischen daran gewöhnt sind. Präsident Wolodimir Selenski hat die Bevölkerung deshalb jüngst eindringlich gewarnt, weiter auf Alarm zu reagieren und die Luftschutzbunker aufzusuchen, um im Ernstfall, so gut es geht, geschützt zu sein.
Zwei Raketen verwandelten die Konzerthalle von Vinnytsia in ein Trümmerfeld. Eine dritte schlug direkt vor einem mehrstöckigen Gebäude ein, das Arztpraxen, Büros, Cafés und ein Fotostudio beherbergte. Kein einziges der Fenster ist intakt geblieben. „Das ist ein Terrorakt“, urteilt Bürgermeister Morgunov und schließt sich damit Präsident Wolodimir Selenski an, der die internationale Gemeinschaft erneut aufforderte, Russland als Terrorstaat einzustufen. Die russische Strategie sei es, Panik in der Bevölkerung zu verbreiten, damit diese Druck auf die Politiker ausübt, sich endlich zu ergeben. Aber diese Strategie gehe nicht auf, sagt Morgunov. Nicht in der Ukraine.
„Diese Angriffe machen uns nur noch wütender. Und sie stärken unseren Willen zu kämpfen“, sagt Serhii Kovalchuk. Der 33-jährige Englischlehrer ist erst vergangenen Monat aus China zurück in seine Heimatstadt Vinnytsia gezogen. Freiwillig – denn Männer im kampffähigen Alter dürfen nur in Ausnahmefällen das Land verlassen. Serhii hofft darauf, dass der Augenarzt ihm grünes Licht gibt und er in den Krieg darf.
Als die Raketen einschlugen, saß er in einem Bus, etwa einen halben Kilometer von der Konzerthalle entfernt. Der Bus stoppte, die Passagiere mussten zu Fuß weiterlaufen. Als später zum zweiten Mal die Sirene heulte, lenkte sich Serhii im Gespräch mit Nachbarn ab. „Was kann man am Ende schon gegen eine Rakete tun?“, fragt er achselzuckend.
Noch am selben Tag gab es bei einem Raketenangriff auf zwei Universitäten in Mykolajiw im Süden der Ukraine mehrere Verletzte. Am Freitagabend heulten erneut in weiten Teilen des Landes die Sirenen. Nach Angriffen ereigneten sich mehrere Explosionen in Dnipro und Krementschuk. In Dnipro starben drei Menschen, 15 werden verletzt. Bei einem Angriff auf ein Einkaufszentrum in der Kleinstadt Krementschuk Ende Juni wurden 18 Menschen getötet und 59 verletzt. Anfang Juli wurden ein Wohnhaus und ein Hotel in der Region Odessa getroffen. 21 Menschen starben, 35 wurden verletzt. In einem Wohnhaus in Tschassiw Jar, nahe der Front, wurden am 9. Juli mindestens 48 Menschen getötet.
Obwohl bei russischen Angriffen von Beginn des Krieges an überdurchschnittlich viele Zivilisten getötet wurden, glauben Beobachter, dass die Intensität den vergangenen Monat über zugenommen hat. „Sie haben beschlossen, unsere Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Das ist nicht mein Gefühl, sondern das ist, was unsere Analysen zeigen“, sagte Oleksiy Danilov, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, dem Guardian in einem Interview.
Vermehrte Angriffe auf Zivilist:innen
Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium seien 70 Prozent aller Angriffe auf zivile Einrichtungen gerichtet. Ministeriumssprecher Oleksandr Motuzianyk geht noch weiter und sagt: „Die heimtückischen Raketenangriffe auf das Zentrum einer friedlichen Stadt sind ein weiterer Beweis dafür, dass Russland einen Völkermord in der Ukraine begeht.“
Auffällig viele Angriffe fallen mit Terminen zusammen, an denen Russland ganz oben auf der Agenda des Westens steht. Als der UN-Generalsekretär António Guterres Anfang Juni nach Kyiv reiste, schlug zum ersten Mal seit Wochen wieder eine Rakete ein. Das nächste Mal griff Russland das Universitätsviertel der Hauptstadt am 26. Juni an – dem Beginn des G7-Gipfels. Vinnytsia wurde am selben Tag angegriffen, an dem europäische Minister in Den Haag diskutierten, wie Russland für seine Verbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden könnte.
Den Tag, an dem Russland für seinen Angriffskrieg bezahlen muss, sehnt auch Svitlana Yaroshenko herbei. In ihrem Schmuckgeschäft innerhalb des abgesperrten Gebiets um die Einschlagstellen ist kaum etwas ganz geblieben. Dass sie die Nachrichtenbilder aus anderen Teilen des Landes einmal selber erreichen würden, damit hat sie nicht gerechnet. „Ich habe mir immer vorgestellt, wie die Menschen sich nach Explosionen fühlen. Jetzt bin ich eine von ihnen.“
Selbst war sie am Donnerstagmorgen ausnahmsweise nicht im Geschäft, die Verkäuferin kam mit einer Schnittwunde am Hals davon. Svitlanas Mann schleppt Eimer mit Glasscherben in den Hinterhof. Die beiden wollen ihren Laden, so schnell es geht, wieder aufmachen, sie wollen den Leuten Normalität vermitteln. Angst habe sie nicht, behauptet Svitlana. „Ich glaube an Gott und an unseren Sieg“, sagt sie kämpferisch.
Vor der Kathedrale der Verklärung in Vinnytsia stehen die Menschen still und nachdenklich beieinander. Sie sind gekommen, um von Liza Abschied zu nehmen und denen beizustehen, die am meisten verloren haben: ein Kind. Bilder der Vierjährigen mit Downsyndrom gingen am Wochenende um die Welt. Kurz bevor die russische Rakete sie aus dem Leben riss, postete ihre Mutter ein Video, wie ihre Tochter fröhlich ihren Buggy vor sich herschob. Eine knappe Stunde später war sie tot.
Dabei habe sich das Leben hier zuletzt wieder fast normal angefühlt, sagt die 18-jährige Valeria Shchebivok leise. „Vinnytsia galt als eine der sichersten Städte in der Ukraine. Und ich fühlte mich hier auch sicher. Jetzt geht es mir grauenhaft.“ Viele Menschen halten Blumen in den Händen. Manche Frauen bedecken ihr Haar mit Tüchern. Der kleine Sarg aus Holz wirkt verloren im Transporter, der vor der Kirche parkt. Eine Lokaljournalistin tippt in ihr Smartphone und wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Sie könne nicht anders, es sei ja nun einmal ihre Stadt, sagt sie. „Denjenigen, die unsere junge Liza getötet haben, gilt für immer die Hölle. Der Teufel wird nie gegen Gott gewinnen“, sagt drinnen Priester Vitalii Holoskevych.
„Es gibt keinen Ort mehr in der Ukraine, an dem man sich sicher fühlen kann. Putin dreht völlig durch“, wettert ein wenig abseits stehend die 51-jährige Oksana Savytska über den russischen Präsidenten. Kurz zuvor regneten am Morgen im Süden der Ukraine erneut zehn Raketen auf Mykolajiw hernieder. In der nahegelegenen Hafenstadt Odessa warten 20 Millionen Tonnen Getreide in Silos darauf, die Hungernden der Welt zu ernähren. Doch bisher hat der russische Präsident seine Blockade nicht aufgegeben. Oksana sagt: „Er ist ein Teufel, ein Mörder. Und ein Terrorist.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren